Über die BKA-Studie zu Ehrenmorden

Sich unterwerfen oder sterben

Eine neue Studie vermittelt zum ersten Mal einen detaillierten Überblick über Täter, Opfer und Motive von »Ehrenmorden« in Deutschland.

»Ich schlafe, mit wem ich will!« Das sollen die letzten Worte von Hatun Sürücü gewesen sein. Wenige Sekunden später tötete sie ihr Bruder mit drei Kopfschüssen an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Sürücü starb am 7. Februar 2005 mit 23 Jahren. Ein Richter bezeichnete das Verbrechen später als »kaltblütige Tat mit Hinrichtungscharakter«. Hatun Sürücü hatte sich aus ihrer arrangierten Ehe befreit, lebte als alleinerziehende Mutter und hatte ihr Kopftuch abgelegt. Ihr Tod löste eine Debatte über Wertvorstellungen von muslimischen Familien in Deutschland aus. Zurzeit wird der Fall wegen der Veröffentlichung eines Buchs und eines Films über Sürücüs Ermordung erneut diskutiert.

Zur Diskussion dürfte auch eine kürzlich erschienene Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht beitragen, die im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA) erstellt wurde und das erste Mal einen detaillierten Überblick über sogenannte Ehrenmorde in Deutschland vermittelt. In der Untersuchung mit dem Titel »Ehrbezogene Tötungsdelikte in Familien und Partnerschaften zwischen 1996 und 2005« wurden 78 Fälle, 109 Opfer und 122 Täter erfasst.
Die wohl wichtigste Erkenntnis der Studie ist, dass fast doppelt so viele Delikte im Namen der Ehre begangen wurden wie bisher angenommen. In erster Linie ist diese Abweichung der deutschen Justiz anzulasten, was in der Untersuchung auch deutlich ausgeführt wird: Nur in etwa der Hälfte der Fälle haben deutsche Gerichte demnach das Tatmotiv »Ehre« überhaupt berücksichtigt und das, obwohl der Bundesgerichtshof bereits seit 1995 eine eindeutige Rechtsprechung in solchen Fällen fordert. Seit jenem Jahr stellt das Tatmotiv »Ehre« juristisch gesehen einen niedrigen Beweggrund im Sinne des Mordtatbestandes dar. Doch nur bei 28 der 87 bisher rechtskräftig verurteilten Ehrenmörder erkannten die Richter einen niedrigen Beweggrund. Zudem wurde in vielen Fällen lediglich auf Totschlag entschieden oder – falls das Opfer überlebte – nur auf Körperverletzung. In 40 Prozent der Fälle »wurde trotz augenscheinlichen Vorliegens eines Ehrmotivs dieses nicht einmal in einem Nebensatz erwähnt«, 15 Mal wurde die Rechtfertigung der Täter, aus Gründen der Ehre und im Namen bestimmter Werte getötet zu haben, gar strafmildernd berücksichtigt.
Wie die Urheber der Studie festgestellt haben, beherrscht ein Motiv nahezu alle untersuchten Fälle: der Hass auf die »mangelnde Unterwerfung der weiblichen Sexualität unter die Kontrolle eines patriarchal geprägten Familienwillens«. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich ein Geflecht aus repressiver Sexualmoral, Religiosität und traditionellen Wertvorstellungen. Neben Untreue und Trennung sind vor allem »illegitime Partnerschaften« und ein »zu westlicher Lebensstil« Gründe für Ehrenmorde.

Neben diesen rein deskriptiven Daten hält der Bericht auch Zahlen bereit, die einen Einblick in Opfer- und Täterprofile geben: 57 Prozent der Opfer waren junge Frauen, die meisten von ihnen zwischen 19 und 29 Jahre alt. Der erstaunlich hohe Anteil von getöteten Männern ist eines der Ergebnisse, das widerspricht dem stereotypen Bild von der Frau als Opfer. Männer wurden der Studie zufolge getötet, weil sie Homosexuelle oder »Ehebrecher« waren oder sich weigerten, einen »Ehrenmord« zu begehen.
Eindeutiger ist das Bild bei den Tätern. Die Mörder waren nahezu ausnahmslos Männer, mehr als die Hälfte über 40 Jahre alt. Von 122 Tätern haben 76 einen türkischen Migrationshintergrund, der Großteil der übrigen einen arabischen. Nahezu alle kommen aus der ersten Generation zugewanderter Familien, aus einer »Gruppe von bildungsfernen Migranten, die beinahe ausnahmslos un- oder angelernte manuelle Tätigkeiten ausüben und dementsprechend ganz überwiegend die untersten Plätze in der sozialen Schichtung einnehmen«.
Diese Tatsache verleitete Christian Rath in einem Kommentar in der Taz zu diesem Schluss: »Das Problem ist kein religiöses, sondern vor allem ein soziales.« »Ehrenmorde«, schrieb Rath in dem Artikel, seien »kein Massenphänomen«, sondern eine »Randerscheinung«. Folgt man dieser Logik, könnte man die 156 Menschen, die in den vergangenen 20 Jahren von Nazis getötet wurden, ebenso lapidar als »Randerscheinung« bezeichnen. Und der soziale Status muss nicht ausschlaggebend sein. Wie aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropol aus dem Jahr 2006 hervorging, hielten damals 30 Prozent aller Studenten mit einem türkischen Migrationshintergrund Ehrenmorde für eine legitime Reaktion auf eine Verletzung der Familienehre.
Eine andere Form der Relativierung hat der bekannte Kabarettist Hagen Rether vertreten: »Ehrenmord? Ehrenmord gibt’s bei uns ewig schon, immer haben wir Ehrenmorde, das heißt bei uns bloß anders: Familiendrama.« Doch auch dieses nicht nur von Rether vorgebrachte Argument ist nicht stichhaltig. Zwar sind die Auslöser der meisten sogenannten Familiendramen auch das Ende einer Beziehung oder Untreue. Aber Ehrenmorde erfüllen eindeutige Charakteristika: Die Tat wird in einer Mehrzahl der Fälle nicht von unmittelbar Betroffenen wie etwa betrogenen oder verlassenen Ehepartnern verübt, sondern von Vätern, Brüdern oder Onkeln. Die Bedrohung, die daraus für mögliche Opfer resultiert, ist enorm, die Familie wird zu einem Ort der permanenten Gefahr. Auch ist bisher kein »Familiendrama« bekannt, bei dem das Mordmotiv ein »zu westlicher Lebensstil« war. Besonders deutlich wird der Unterschied bei einem Blick auf das moralische Selbstverständnis des Täters. Spielt bei Familiendramen häufig die narzisstische Kränkung eines betrogenen oder verlassenen Partners eine bedeutende Rolle, so tötet ein Ehrenmörder in der Regel zur erwünschten Wiederherstellung der Ehre einer ganzen Familie. Oft zeigen die Aussagen von Tätern, dass Familien sogar gesellschaftlich geächtet werden, wenn die »ehrverletzende« Person nicht beseitigt wird.

Ehrenmorde sind deshalb grausamer Ausdruck einer reaktionären Geschlechterordnung, vermengt mit dem Hass auf die Freizügigkeit, egal ob diese an einem zu westlichen Kleidungsstil oder der freien Wahl des Sexualpartners festgemacht wird. Die Familie herrscht über die Nachkommen und deren Sexualität, diese werden vor die Wahl gestellt: Unterwerfung oder Tod.
Vor allem junge Frauen müssen dabei den Widerspruch zwischen den Moralvorstellungen ihrer Familien und westlicher Freizügigkeit aushalten. »Die Ehre der ganzen Familie ist von der Jungfräulichkeit der Tochter abhängig«, sagt eine Mitarbeiterin von »Papatya«, der ersten anonymen Kriseneinrichtung für junge Frauen mit Migrationshintergrund in Berlin. Sie betont zwar, dass die Töchter in vielen muslimisch geprägten Familien ein selbstbestimmtes Leben führen können. Aber wie viele andere junge Migrantinnen an ihrem Doppelleben zerbrechen, zeige ein Blick in die Statistik: Bei jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sei die Suizidrate doppelt so hoch wie bei anderen gleichaltrigen.