Besuchte Kurden im türkisch-syrischen Grenzgebiet

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Ein demokratischer Wandel in Syrien könnte zum Erstarken der kurdischen Bewegung im Nordosten des Landes und zur Schaffung eines zweiten kurdischen Autonomiegebiets an der Grenze zur Türkei führen. Die kurdischen Aktivisten in der Türkei beobachten die Entwicklungen in Syrien mit Hoffnung und Besorgnis zugleich.

Die Kleinstadt Nusaybin liegt an der türkisch-syrischen Grenze im Südosten der Türkei. In der näheren Umgebung sind etliche Wachtürme und tief gestaffelte Grenzanlagen in einer kargen Steppenlandschaft zu sehen, nur jeder zweite Wachturm scheint mit Soldaten besetzt zu sein. Auf der anderen Seite der Grenze liegt die syrische »Schwesterstadt« al-Qamishli, die mit mehr als 220 000 Einwohnern einen Mittelpunkt kurdischen Lebens in Syrien darstellt.
Nach den Wahlen am 12. Juni fand hier eine Demonstration der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Politik statt. Die Demonstration wurde nach wenigen hundert Metern von türkischen Polizeikräften, zum Teil in Zivil und mit Sturmgewehren bewaffnet, brutal zerschlagen. Dem 56jährigen kurdischen Aktivisten Nezir Gecidibi wurde eine Gasgranate direkt ins Gesicht geschossen, er musste schwer verletzt ins Krankenhaus nach Mardin gebracht werden.

Mehmet Ali Bulun, ein kurdischer Journalist aus Nusaybin, der über die gesamte Region für Zeitungen und das Fernsehen berichtet, spricht von einem »normalen« Vorgehen der türkischen Po­lizei: »Das ist hier Alltag. Auch scharfe Munition wird immer wieder von der türkischen Polizei eingesetzt. Doch die Bevölkerung lässt sich davon mittlerweile nicht mehr einschüchtern und Polizeiangriffe werden in den kleinen Seitengassen oft militant zurückgeschlagen.«
Mehmet hatte vor den Aufständen seit Ende März in Syrien regelmäßig über die Situation der Kurden unter dem Regime von Bashar al-Assad berichtet und weite Teile des Landes bereist: »Kurz nach Beginn der Aufstände habe ich versucht, die Grenze zu überqueren. Doch in al-Qamishli wartete schon der syrische Geheimdienst auf mich. Sie nahmen mich mit, stellten mich bis zum Hals in ein Wasserbecken und drohten mir, wenn ich nicht sofort umkehre, würde ich verschwinden.« Trotz des Aufstands und des derzeitigen politischen Chaos in Syrien funktioniert der Geheimdienst, der als einer der effektivsten in der arabischen Welt gilt, noch immer sehr gut.
Das bekommen viele Journalisten zu spüren, die in den vergangenen Monaten versuchten, die Grenze zu überqueren. Andere wählen einen einfacheren Weg, um Syrien zu bereisen. Journalisten etwa, die das Regime von Assad noch immer als Bollwerk gegen den »westlichen Imperialismus« ansehen oder einfach jede Möglichkeit wahrnehmen, nach Syrien einzureisen, dürfen an staatlich geführten Touren teilnehmen. So hat Assad, nachdem die Aufstände trotz massiver Militärgewalt nicht eingedämmt werden konnten, eine Medienoffensive begonnen. Von Damaskus aus kann man in einem Bus, begleitet vom Geheimdienst und von Polizeikräften, verschiedene Städte und Konfliktgebiete innerhalb Syriens bereisen. Diese Tour soll angeblich beweisen, dass der Aufstand von »kriminellen Elementen« sowie »Islamisten von al-Qaida« getragen wird. Manch deutscher »linker« Journalist nahm an dieser Tour teil und verbreitete die syrische Staatspropaganda im eigenen Land ohne jede Bedenken. Ein Kollege von al-Jazeera, der ebenfalls bei einer solchen Reise dabei war, meinte dagegen: »Das war die schlechteste Propagandatour seit Saddam Hussein. Damit hat Syrien erneut den Bankrott seiner eigenen Politik aufgezeigt.«

Mustafa Ismail ist ein kurdischer Schriftsteller, Journalist, Anwalt und Mitbegründer des Kurdischen Komitees für Menschenrechte in Syrien. Wegen seiner Arbeit wurde er mehrmals verhaftet und zuletzt 2009 zu 18 Monaten Haft verurteilt: »Die Zellen sind nur zwei mal 1,5 Meter groß«, erzählt er, »nach 41 Tagen erlaubten sie mir zum ersten Mal zu duschen, bis dahin waren meine Haut und meine Sachen voller Flöhe, und ich bekam schwere Ausschläge. Die Polizisten, die mich verhörten, boten mir einen Deal an: Sie würden mich sofort freilassen, wenn ich mich bei der syrischen Regierung entschuldigen und mich von meinen bisherigen Artikeln distanzieren würde.«
Angesprochen auf die Gerüchte über die Islamisten, die die Aufstände koordinieren würden, holt Ismail zu einer längeren Antwort aus: »Ich denke nicht, dass es radikale, militante Gruppen und Terroristen gibt, die Bodenoperationen gegen die syrische Armee und deren Sicherheitsapparat durchführen. Aber es gibt auf jeden Fall eine friedliche Massenbewegung, die für eine Demokratisierung eintritt und das herrschende Regime bedroht. Nach Jahrzehnten der Repression und nach dem Massaker von Hama im Jahr 1982 existiert in Syrien keine gut organisierte Muslimbruderschaft mehr. Wie in anderen arabischen Ländern versuchen die Islamisten jedoch, auf die Proteste aufzuspringen, die von einem breiten Spektrum der Gesellschaft getragen werden.«
Jedoch erhalten die Muslimbrüder in der Türkei starke Unterstützung. So wurden dort Konferenzen der syrischen Opposition durchgeführt. Doch schon nach wenigen Stunden zogen sich die kurdischen Teilnehmer zurück, da diese Veranstaltungen von Exil-Islamisten dominiert waren. Von Seiten der Türkei wird versucht, eine der AKP ähnelnde, von den Muslimbrüdern dominierte Partei in Syrien aufzubauen. »Als ein liberaler und säkularer kurdischer Aktivist vertraue ich weder den Muslimbrüdern noch der islamistischen Bewegung«, führt Mustafa Ismail weiter aus, »die Muslimbrüder sehen die Sharia als die Lösung für eine zukünftige Verfassung in Syrien. Sie sind eine Gefahr für die Zukunft des Landes, wie es die Baath-Partei Syriens schon jetzt ist.«

Geostrategisch ist die Position der Türkei verständlich: Ein demokratischer Wandel in Syrien würde auch zu einem Erstarken der kurdischen Bewegung im Nordosten Syriens führen – und damit, nach dem Nordirak, wohl zu einem zweiten kurdischen Autonomiegebiet direkt an der Grenze zur Türkei. Diese Entwicklung ist nicht unwahrscheinlich, da die kurdische Bewegung schon seit Jahren eigenständige politische und zivilgesellschaftliche Strukturen in Syrien errichtet hat. Die überwiegend säkularen und links orientierten kurdischen Aktivisten würden das Machtgefüge in der Region verändern. Im Nordirak könnte sich die Bevölkerung ermuntert fühlen, gegen die Erstarrung und Korruption in den beiden kurdischen Parteien, der KDP und der Puk, aufzubegehren, und somit deren Zusammenarbeit mit der Türkei schwächen. Auch die türkischen Kurden würden durch ein kurdisches Autonomiegebiet in Syrien gestärkt werden und ihr eigenes Projekt der »demokratischen Autonomie« weiter vorantreiben können.
Ronahi Afrin, Parteiratsmitglied der kurdischen PYD in Syrien, betrachtet daher einen kurdischen Gesamtkongress als unbedingt notwendig: »Die größte Unterstützung für die kurdischen Kräfte wäre die baldige Einberufung eines kurdischen Nationalkongresses. Alle kurdischen Organisationen und Parteien sollten daran teilnehmen.«

Es ist also kein Zufall, dass die Türkei die religiösen Kräfte in Syrien unterstützt und die Augen vor der iranischen Offensive gegen die kurdisch-iranische Guerilla PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) verschließt. Manche Quellen sprechen sogar von einem koordinierten Vorgehen des iranischen Militärs und türkischen Spezialeinheiten gegen die kurdische Guerilla in den Qandil-Bergen im Nordosten des Iraks.
»Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, dass fünf der Leichen mit türkischen Flaggen bedeckt in das Dorf Piranshar gebracht wurden«, erzählte der Dorfschützer Sileyman Cahidi, »ihre Hände waren schon schwarz-blau verfärbt, und man konnte Einschusslöcher im Kopfbereich erkennen.«
Auch der Iran sieht seine Interessen gefährdet. Syrien ist einer der wichtigsten Bündnispartner in der Region und Unterstützer von terror­istischen Gruppen wie der Hizbollah und der Hamas, die ihren offiziellen Sitz noch immer in der syrischen Hauptstadt Damaskus hat. Ein Regimewechsel in Syrien würde wahrscheinlich eine sunnitisch dominierte Regierung an die Macht bringen, woran dem schiitischen Iran kaum ge­legen sein kann. Doch auch eine von Syrien ausgehende kurdische Autonomiebewegung, die den Irak, die Türkei wie auch den Iran erfassen könnte, wird als existentielle Gefahr für das Mullah-Regime angesehen. Nicht anders ist die Militäroffensive im iranisch-irakischen Grenzgebiet zu erklären, an welcher mittlerweile mehr als 30 000 iranische Soldaten und Einheiten der Basij-Milizen beteiligt sind. Man will die PJAK vor einem Systemwechsel in Syrien so weit schwächen, dass den Kurden im Norden des Iran jede Möglichkeit eines eigenen Zivilaufstands genommen wird. »Das islamische Regime versucht, über diese militärische Offensive gegen die PJAK und die kurdische Regionalregierung jede friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Region zu blockieren. Daher unterstützen sie auch die islamistische Gruppe Ansar al-Islam, die Anschläge gegen linke Kurden in der Region durchführt«, so ein Sprecher der PJAK.
Mitte Mai, am sogenannten Nakba-Tag, gab es an der syrisch-israelischen Grenze Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften. Vier Palästinenser wurden getötet, Dutzende verletzt. Diese vom syrischen Regime offensichtlich koordinierten Proteste zeigten die Entschlossenheit Assads, den Palästina-Konflikt zu benutzen, um die inter­nationale Unterstützung der demokratischen Bewegung in Syrien zu schwächen.
Dass sich die Palästinenser in Syrien so offensichtlich vom Regime in Dienst nehmen lassen, habe verschiedene Gründe, meint Ismail: »Nicht alle Palästinenser in Syrien sind mit den palästinensischen Organisationen verbandelt, die von dem syrischen Sicherheitsapparat konstruiert wurden, aber die unabhängig denkenden Palästinenser sind marginalisiert, und viele liberale Aktivisten sind weiterhin in syrischen Gefängnissen inhaftiert«, sagt er. »Vor einiger Zeit haben wir mitbekommen, wie einige Palästinenser unabhängige Proteste organisieren wollten, doch diese wurden von der ›Volksbefreiungsfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando‹ unter der Leitung des ehemaligen Militäroffiziers Ahmad Jibril mit Repression und Gewalt eingeschüchtert.« Die Szenen am Nakba-Tag seien darüber hinaus ein Beweis dafür, dass die palästinensischen Organisationen in Syrien mit dem gegenwärtigen Regime verflochten seien: »Der Zugang zur Grenzregion mit Israel ist verboten und kann nur durch syrische Sicherheitskräfte gewährt werden. Und das war hier der Fall.«
Auch in Israel werden die Ereignisse in Syrien genau beobachtet. Viele hegen die Hoffnung, dass die Beziehungen zum Nachbarland durch einen Sturz Assads verbessert und der Iran geschwächt werden könne. Doch dafür müsste Israel auch die kurdische Zivilgesellschaft unterstützen und vergangene Fehler im Hinblick auf die kurdische Bewegung eingestehen. Denn ohne die Kurden wird es keinen demokratischen Wandel in der Region geben, die Macht der islamistischen Bewegungen könnte weiter anwachsen. Selbst eine konservative Journalistin wie Caroline Glick, eine leitende Redakteurin der Jerusalem Post, hat dies erkannt. »Israel sollte die Kurden bewaffnen und in jeder Situation die syrischen Kurden international verteidigen. Denn nur die Kurden können in der Region den Mittelweg zwischen der Tyrannei der Baathisten wie der Muslimbrüder bahnen«, schreibt sie auf ihrem Blog.
Bisher sind die Proteste in den kurdischen Gebieten Syriens friedlich verlaufen und Assad hütet sich davor, eine offene militärische Konfrontation im Nordosten des Landes zu riskieren. Es wird eher unterschwellig mit Verhaftungen und dem »Verschwindenlassen« von kurdischen Aktivisten gearbeitet, während der allgegenwärtige Druck durch den Geheimdienst langsam erhöht wird. Denn einen Aufstand der kurdischen Bewegung in Syrien würde Assad wohl kaum überstehen. Gleichzeitig versucht die kurdische Bevölkerung, die verschiedenen Zivilkräfte in Syrien zu koor­dinieren und eine ethnische oder religiöse Aufladung des Konfliktes zu verhindern. Derzeit werden Versuche unternommen, eine Dachorganisation zu gründen, welche die verschiedenen demokratischen Kräfte vereint und eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Somit stehen Syrien in näherer Zukunft zwei Wege offen. Der erste wäre eine Konsolidierung der zivilgesellschaftlichen Proteste, die zusammen mit einem steigenden Druck aus dem Ausland einen politischen Wandel herbeizwingen können. Die zweite Option sieht blutiger aus: Eine durch die Türkei unterstützte Verschärfung des religiösen Konflikts innerhalb des Landes, die am Ende zu Verhältnissen wie in Libyen führen könnte. Durch einen offenen Bürgerkrieg würde die Region weiter destabilisiert werden und die benachbarten Länder, vor allem der Iran, würden versuchen, ihren Einfluss in Syrien mit allen Mitteln zu festigen.