Der Gerichtsreporter Leo Rosenthal fotografierte NS-Verbrecher vor Gericht

Hitler vor Gericht

Er war ein Chronist der Weimarer Republik: Die Fotografien des Gerichtsreporters Leo Rosenthal sind jetzt in einem Sammelband erschienen.

Erst vor wenigen Jahren wurde das fotografische Werk des jüdischen Gerichtsreporters Leo Rosenthal wiederentdeckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Landesarchiv Berlin, das den 15 000 Aufnahmen umfassenden Nachlass betreut, hat sich der Aufarbeitung des Werks gewidmet. Der nun bei Schirmer/Mosel erschienene Bildband »Leo Rosenthal: Ein Chronist in der Weimarer Republik« präsentiert die Gerichtsfotografien des studierten Juristen, der zwischen 1920 und 1933 als Reporter in Berlin von allen wichtigen Prozessen berichtete.
Geboren 1884 in Riga, war Leo Rosenthal als junger Rechtsanwalt zunächst in Moskau tätig. Im Februar 1917 begann er für die Regierung Kerenskij zu arbeiten, sah sich als Nicht-Sowjetbürger nach der bolschewistischen Machtübernahme im November aber in der Ausübung seines Berufs behindert und war als Sozialdemokrat mit der politischen Entwicklung wohl auch nicht einverstanden. Rosenthal übersiedelte nach Berlin und begann, die Weimarer Gesellschaft und deren politische Struktur zu erkunden. Als Reporter des sozialdemokratischen Vorwärts begleitete er die unterschiedlichsten Prozesse im Kriminalgericht Moabit, darunter Wirtschaftsdelikte, Kapitalverbrechen, Kleinkriminalität.
Neben Rosenthal saßen seine Reporterkollegen im Gerichtssaal: Für das Berliner Tageblatt berichtete die Journalistin Gabriele Tergit. Paul Schlesinger, der sich Sling nannte, arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 1928 als Gerichtsreporter für die Vossische Zeitung, und auch Kurt Tucholsky und Erich Kästner verirrten sich bisweilen in einen Gerichtsaal.
Rosenthal verfasste Reportagen, die er von 1926 an mit seinen Fotografien ergänzte. Das Fotografieren im Gerichtssaal war – damals wie heute – jedoch verboten. Oftmals fotografierte er heimlich durch das Schlüsselloch der Saaltür. Andere Aufnahmen entstanden vermutlich mit versteckter, unter seiner Kleidung verborgener Kamera. Es ist dieser konspirative Charakter, der den besonderen Reiz der Aufnahmen ausmacht.
Anfangs fotografierte Rosenthal vor allem jene Menschen, die von den sozialen Folgen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise gezeichnet waren. Invalidität, Prostitution und Kriminalität waren Themen seiner Bilder. Bald wurde er aber auch Zeuge des Vordringens der Nationalsozialisten. Rosenthal fotografierte Straßenmädchen, Beinamputierte und immer wieder Vertreter der politischen Linken wie Ernst Reuter, Carl von Ossietzky oder Erich Weinert, die sich wegen Beleidigung oder Gotteslästerung vor Gericht verantworten mussten, während die Stoßtrupps der SA trotz schwerer Vorwürfe – Körperverletzung, Totschlag oder Mord – meist glimpflich davonkamen.
Rosenthal beobachtete die Prozesse gegen den Anarchisten und Pazifisten Ernst Friedrich, über den Max Fürst schrieb: »Er hatte ständig Prozesse am Hals wegen angeblicher Verstöße gegen die Freiheitliche Grundordnung, damals war es die Weimarer Verfassung. Hans Litten war sein Verteidiger, und gelegentlich gehörten auch Erich Mühsam, der Dichter und fromme Anarchist, und der streitbare Intellektuelle Kurt Hiller zu den Mitangeklagten.«
Rosenthal fotografierte auch Mühsam und Hiller. Er porträtierte neben dem Rechtsanwalt und Strafverteidiger Hans Litten, der sich als Anwalt des Proletariats einen Namen gemacht hatte, weitere bekannte Anwälte der Weimarer Linken wie Hilde Benjamin, die spätere Justizministerin der DDR, oder Rudolf Olden, der im September 1940 zu den Passagieren der »City of Benares« gehörte, die im Atlantik ertranken, nachdem das Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert worden war.
Zu Beginn der dreißiger Jahre waren Olden, Benjamin und Litten die wichtigsten und bekanntesten Anwälte der Roten Hilfe, die einen Prozess nach dem anderen führen mussten, zumeist aus der Defensive heraus. Allein fünf Prozesse habe Litten gegen den Sturm 33, eine Gruppierung der Berliner SA, geführt, berichtet Littens Freund Max Fürst in seinen Erinnerungen. Immer häufiger landeten politische Aus­ein­andersetzungen, in die nicht selten die späteren Nazi-Führer verwickelt waren, in den Gerichtssälen von Moabit. So konzentrierte Rosenthal sich 1931 auf den sogenannten Edenpalast-Prozess: Im Januar 1931 hatten Arbeiter eine Versammlung im Berliner Tanzpalast Eden abgehalten und waren vom Sturm 33 überfallen worden. »Hans Litten gelang es«, schreibt Max Fürst, »gegen den anfänglichen Widerstand des Gerichts, Hitler als Zeugen dafür aufzurufen, dass mit terroristischen Maßnahmen die Republik untergraben und eine faschistische Diktatur errichtet werden sollte.«
Unter den bohrenden Fragen Littens, der die Nebenklage vertrat, geriet Hitler in Bedrängnis. Rosenthal zeigt ihn auf der Zeugenbank, angespannt, vornübergebeugt, lauernd. Hitler behauptete vor Gericht, die NSDAP stehe loyal zur Republik. Litten zitierte daraufhin aus einschlägigen Reden und Schriften, insbesondere aus der Feder von Goebbels, woraufhin Hitler die Fassung verloren haben soll. »Hans berichtete«, schreibt Fürst über Hitler, »er habe geschrien wie eine hysterische Köchin. Es half ihm nichts, Hitler musste an jenem Nachmittag vier Eide schwören, die, wenn das Gericht gewollt hätte, leicht als Meineide hätten entlarvt werden können.«
Das Gericht wollte aber nicht. Hitler und seine Bewegung unterlagen zwar im Gerichtssaal, aber nicht auf der Straße. Der sogenannte Felseneck-Prozess aus dem Jahr 1932, auch er wurde von Rosenthal begleitet, antizipierte bereits die politischen Verhältnisse, die sich im Folgejahr dann durchsetzen sollten: SA-Männern hatten die Reinickendorfer Laubenkolonie Felseneck angegriffen, angeklagt aber waren die kommunistischen Bewohner der Kolonie, die ohne juristischen Beistand blieben. Strafverteidiger Litten war von dem Prozess ausgeschlossen worden.
Ein Jahr später wurde der Anwalt – noch in der Nacht des Reichstagsbrandes – in seiner Wohnung verhaftet und in sogenannte Schutzhaft genommen. Litten, der bis zu seinem Tod fünf Jahre lang in verschiedenen Lagern inhaftiert war, wurde schikaniert und gefoltert, so dass sein ganzes Trachten bald ausschließlich darauf gerichtet war, sich selbst zu töten. Am 5. Februar 1938 wurde Hans Litten im Konzentrationslager Dachau erhängt aufgefunden.
Der Reporterin Gabriele Tergit war 1933 die Flucht nach Großbritannien gelungen. Im Frühling 1933, bemerkte sie bitter im Londoner Exil, habe man in Deutschland niemanden mehr mit Gerichtsreportagen oder mit dem Thema Freiheit »hinterm Ofen hervorlocken« können. Die Mehrzahl der Fälle von Raub, Mord, Hausfriedensbruch und Freiheitsberaubung seien ohnehin nicht mehr zur Anzeige gelangt.
Auch Leo Rosenthal, der als Sozialdemokrat und als Jude gleich zweifach gefährdet war, konnte sich vor der Verfolgung retten. Zwar wurde er im März 1933 in »Schutzhaft« genommen, wurde aber aufgrund seiner lettischen Staatsangehörigkeit kurz darauf wieder entlassen. Über seine Geburtsstadt Riga floh er nach Paris, von wo aus er im Sommer 1940 während des Einmarsches der Deutschen erneut die Flucht antreten musste.
Leo Rosenthal gehörte zu den Glücklichen, die mit dem Flüchtlingsschiff »Serpa Pinto« zuerst nach Marokko und dann nach Übersee entkommen konnten. Seine Familie – darunter seine Mutter, fünf Geschwister, ein Schwager und eine Schwägerin – wurden im Ghetto von Riga von den Deutschen ermordet.
Trotz dieses Traumas ist Leo Rosenthal ein Neuanfang in den USA gelungen: In New York arbeitete er lange Zeit als Fotograf für die Vereinten Nationen. Er starb 1969, weit in seinen Achtzigern. Sein großer Wunsch, die Negative seiner Fotos sollten erhalten bleiben, wurde insofern erfüllt, als dass das Berliner Landesarchiv 1968 eine große Zahl davon ankaufte. Aber erst 40 Jahre später, um die Jahreswende 2009/2010, kam es zur ersten großen Ausstellung seiner Fotografien. Seine schriftlichen Berichte hingegen müssen als verschollen gelten.

Leo Rosenthal: Ein Chronist aus der Weimarer Republik. Fotografien 1926–1933. Schirmer/Mosel, München 2011, 160 Seiten, 29,80 Euro