Über Sarah Gliddens Comicband »Israel verstehen«

Sandalenkauf im Unrechtsstaat

In ihrem Comic »Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger« schildert die junge US-Amerikanerin Sarah Glidden, wie sie auf einer Israelreise ihre antizionistische Haltung aufgeben musste.

Kurz vor ihrer ersten Reise nach Israel offenbart die Kunsthochschulabsolventin Sarah ihrem Freund in New York ausgesprochen selbstbewusst Sinn und Zweck ihres Trips: »Ich werde also hinfahren und die Wahrheit in diesem Durch­einander suchen. Wenn ich zurück bin, ist alles kristallklar!«
Dabei steht ihre Wahrheit schon seit einiger Zeit fest: Von Interesse in dem Land ist für sie nur die Situation in den »besetzten Gebieten« – die Israelis sind die Bösen, die Palästinenser die Guten, und wer etwas anderes behauptet, betreibt zionistische Propaganda. Das ist die Ausgangslage von Sarah Gliddens außergewöhnlicher Graphic Novel »Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger«. In einer Mischung aus Reisebericht, journalistischer Reportage und Tagebuch erzählt Glidden, eine jüdische, linksliberale Amerikanerin aus nicht besonders religiösem Elternhaus, was sie im Jahr 2007 bei einer Israelreise erlebt hat und warum hinterher kaum noch etwas für sie klar war. »Meine Mutter hat mich damals überredet, nach Israel zu fahren«, erzählt Sarah Glidden. »Eines Tages sagte sie zu mir: ›Du hast so feste Überzeugungen – vielleicht solltest du dir das Land mal ansehen und deine starren Ansichten überprüfen.‹« Glidden war 26 Jahre alt – gerade noch jung genug, um an einem Birthright Trip teilzunehmen. Birthright ist eine von privaten Spendern und dem Staat Israel finanzierte Stiftung, die es jungen Juden aus aller Welt ermöglicht, kostenlos an einer zehntägigen Busreise durch das Land teilzunehmen.
Ziel dieser All-inclusive-Touren ist es, bei Juden, die nicht in Israel leben, für Solidarität mit dem Land zu werben und die Teilnehmer mit jüdischer Tradition und jüdischem Glauben vertraut zu machen. Mehr als zwei Drittel der jährlich etwa 20 000 Teilnehmer sind Amerikaner. Wie diese armen Seelen von Birthright-Reiseleitern einer Gehirnwäsche unterzogen werden – das wollte Glidden selbst erleben und in einem Comic verarbeiten.
Und dann die erste große Überraschung, als sie an den weltweit verteufelten Sperranlagen vorbeifahren und der Reiseleiter die Gruppe einigermaßen nüchtern und kritisch mit Blick auf beide Seiten informiert. Zwar hasse er, dass viele Palästinenser durch die Mauer in ihren Lebensgrundlagen bedroht würden, andererseits sei die Zahl der Terroranschläge in Tel Aviv seit dem Bau der Anlage von zwei pro Woche auf vier pro Jahr gesunken. Ist die Mauer also schlecht oder gut? So geht es für Sarah weiter. Nach und nach rückt sie von ihren Vorurteilen ab. Sie lernt etwas über linke Kibbuz-Pioniere, über Einwanderer, die vor dem Antisemitismus und der Shoah in Europa flohen. Sie sieht die jungen Soldaten, die sie wohl für so etwas wie Monster gehalten hat, erfährt von der Angst, die Israelis tagtäglich vor Anschlägen haben. Dann trifft sie sich mit ihrem Cousin, der in Israel studiert und sich darüber beschwert, dass die arabischen Israelis wie Bürger vierter Klasse behandelt würden und die Siedler außer Kontrolle geraten seien. Hat er recht? Und was ist überhaupt mit den Flüchtlingen, will Sarah wissen. Sollten die nicht alle zurückkehren dürfen? Ein Reiseleiter gibt zu bedenken: »Sie reden seit Jahren davon, dass sie uns ins Meer jagen wollen. Uns von der Landkarte radieren. Meinst du, das machen sie nicht? Sollen wir Leute einladen, die uns umbringen wollen?« Sarah bleibt fürs Erste nur ein hilfloses »Äh«.
Trotz des ernsten Themas ist es keine Schwerstarbeit, das Buch zu lesen, im Gegenteil.Zum einen ist eine Graphic Novel ohnehin ein eher leicht zugängliches Genre, das in diesem Fall hoffentlich vielen Interessierten den Einstieg vereinfacht. Außerdem sind die historischen und politischen Informationen spannend und verständlich formuliert, die Dialoge wirken nicht gekünstelt, und Glidden lockert ihre Erzählung mit unterhaltsamen Anekdoten auf. So erfahren die Leser Erhellendes zu den Themen Falafel-Bestellung und Sandalenkauf in Jerusalem. Außerdem gibt es eine kleine Einführung in die Problematik von Feiertagen (»Kein Kaffee am Sabbat? Dieser Gott ist wirklich rachsüchtig.«) und einen Hinweis auf Ersatzreligionen (»Hey, es läuft Seinfeld! Mögt ihr das?«  – »Soll das ein Witz sein? Seinfeld ist heilig!«).
Sarah Glidden zeichnet ein facettenreiches Porträt des Landes, und das ist eine Leistung, die ihr gar nicht hoch genug anzurechnen ist. So viele Orte, so viele Probleme, so viele inspirierende Momente, so viele Meinungen – Israel ist kompliziert, und das wird deutlich. Dank ihres lebendigen Stils bekommt man beinahe den Eindruck, man wäre bei der Reise selbst dabei gewesen. Ein Effekt, der von Sarah Glidden bei aller Subjektivität der Geschichte durchaus erwünscht ist und ihren Zeichenstil bestimmt hat. »Mir war es wichtig, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es in dem Land aussieht – deshalb habe ich von Fotos abgezeichnet und auf die Details geachtet«, sagt sie. Vielleicht ist das nicht der wichtigste Aspekt des Buches, aber wer schon mal auf den typischen Wegen in Israel unterwegs war, wird Freude daran haben, Bekanntes zu entdecken – Westmauer, Negev-Wüste, Totes Meer, Independence Hall, Masada-Festung.
Beeindruckend ist es, der Protagonistin bei ihrer Entwicklung zuzusehen. Sie wehrt sich gegen Argumente, will nicht klein beigeben, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Man sollte nicht vergessen: Das hier ist alles wirklich passiert, und zu solch einer Darstellung des eigenen leidvollen Erkenntnisprozesses gehört schon einiges an Mut. Oder eine eklatante Fehleinschätzung. »Als ich mit dem Zeichnen begonnen habe, habe ich das eigentlich nur für mich gemacht«, sagt Glidden. »Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass sich überhaupt irgendjemand für meine Geschichte interessiert. Erst als ich mein Buch im Laden sah, wurde mir klar, dass ich einiges von mir preisgegeben habe.«
Dafür muss man dankbar sein. Vielleicht hört sich das jetzt ein bisschen naiv und genügsam an, aber es ist erfrischend und ermutigend zu sehen, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre verbohrten Vorstellungen vom vermeintlichen Dämon Israel zu überwinden. Normalerweise erlebt man so etwas ja leider nicht allzu häufig.
Sarah Glidden verbindet mit ihrem Debütwerk einen Wunsch: »Ich befinde mich immer noch mitten im Lernprozess und werde zu Fragen, die Israel betreffen, mit Sicherheit keine vorschnellen Antworten mehr anbieten – ich hoffe nur, mein Buch macht ein paar Menschen neugierig darauf, das Land ebenfalls selbst zu entdecken.« Das dürfte gelingen.

Sarah Glidden: Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger. Panini-Verlag, Stuttgart 2011, 206 Seiten, 24,95 Euro