Über die reaktionäre Wut auf Rating-Agenturen

Wütend ohne Souverän

In der Wut auf die Rating-Agenturen zeigen sich die Widersprüche der europäischen Einigung und das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie.

Am schlimmsten wird es, wenn das Feuilleton sich den Problemen der Nationalökonomie widmet. »Der Kampf der Finanzmärkte tobt sich in eine Erhitzung hinein, in der gegebenenfalls auch alle Gewinne verbrennen«, schrieb Karl-Markus Gauß Ende Juni im österreichischen Standard. Es tobt aber vor allem der erhitzte Bürger, der auf die Akteure der Finanzmärkte projiziert, was ihn selber antreibt. Gauß wollte die Krise als neuen Krieg verstanden wissen, schrieb vom »Schlachtenlärm«, von »Kampflinien« und »Frontenklärung« und meinte, dass die »fanatischen Erz­zocker des Finanzmarktes« wie Selbstmordattentäter agierten. Diese Wut hat offenkundig eine neue Intensität erreicht, seit ruchbar wurde, dass Rating-Agenturen, die Gauß zufolge doch zu den brutalsten »Finanzmarkt-Hooligans« zählen, auch die Kreditwürdigkeit von Staaten bewerten.

Auch Politikwissenschaftler schreiben, wenn sie wütend werden, wie der Literaturkritiker Gauß. »Neoliberale Kurpfuscher wüten weiter«, empörte sich Elmar Altvater Mitte Juli in der Woz. Altvater möchte den Rating-Agenturen die »Lizenz« entziehen, denn »wie Zirkusdompteure« ließen sie »vor den Augen der Weltöffentlichkeit« die Regierungen souveräner Staaten »nach ihrer Peitsche tanzen«. Allerdings versuchte der in Dingen der Ökonomie fachlich Geschulte die Zirkus-Metapher auch marxistisch zu fundieren: »Die Zinsen steigen, die BürgerInnen zahlen«, die Politik unterwerfe sich »privaten Mächten«, und diese seien »keineswegs neutral«; Rating-Agenturen wirtschafteten – wer hätte es gedacht – »profitorientiert als kapitalistische Großunternehmen«. Allein das disqualifiziere sie als »neutrale Richter«.
Die Enragierten stellen sich auf den Standpunkt des Staats, den sie sich offenkundig als eine solche neutrale Instanz vorstellen, würde er nur nicht von bestechlichen Politikern gelenkt. Hatte Marx den Weltmarkt als »das Übergreifen der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat« verstanden, so versprechen sich diese Marxisten vom »Primat der Politik« das Übergreifen des Staats über den Weltmarkt. Das aber ist tatsächlich nur in Form des wirklichen Kriegs, und zwar des Weltkriegs möglich, und so hängt auch die Sehnsucht nach jenem Primat mit dem letzten großen Weltkrieg zusammen. Man sehnt sich zurück nach Verhältnissen, die unmittelbar und nur durch diesen Krieg möglich geworden sind. Selbstverständlich optiert man für John Maynard Keynes und den New Deal, nicht für Faschismus und Nationalsozialismus, aber die Frage, wie es möglich war, dass der Staat noch einmal solche Bedeutung im Verwertungsprozess des Kapitals gewinnen konnte, wird lieber nicht gestellt.
An den Ratings jedoch, die derzeit so viel Aufsehen erregen, bewährt sich nur Marx’ alte Einsicht, dass »keine Art Bankgesetzgebung« die Krise beseitigen kann. Und so folgt auf die Bankenkrise von vor drei Jahren die Staatsschulden­krise, die ihrerseits je nach Staat und Tradition der Krisenbewältigung unterschiedliche Formen annimmt. Darum die besondere Wut in Europa und vor allem in Deutschland und Österreich auf die Rating-Agenturen: Sie hängt einerseits mit dem grassierenden Antiamerikanismus zusammen, deshalb ruft man nach einer eigenen europäischen Agentur. Andererseits scheint den Wütenden aufzufallen, dass die niedrige Einstufung einzelner EU-Länder mit dem prekären politischen Zusammenhang dieser Ökonomien zu tun hat. Sie treffen insofern genau den wunden Punkt der europäischen Einigung, nämlich eine gemeinsame Währung zu haben, aber keinen ­gemeinsamen Souverän. So folgt in immer kürzeren Abständen ein Krisengipfel auf den anderen, und jedes beschlossene »Maßnahmenpaket« hat gute Chancen, bei nächster Gelegenheit wieder »aufgeschnürt« zu werden, abhängig von den Krisenlösungsvorschlägen, die gerade dem Notenbankpräsidenten, dem Kommissionspräsidenten oder einem der mächtige­ren Regierungschefs adäquat erscheinen.

Gäbe es den Souverän Europas, wäre er zusammen mit der gemeinsamen Währung geschaffen worden. Griechenlands Ökonomie etwa hätte sich einer anderen Art von Kontrolle und Wirtschaftspolitik unterwerfen müssen, vergleichbar eher den Maßgaben für die neuen Bundesländer nach der deutschen Wiedervereinigung. Ebenso könnte ein Land sich nicht getrennt von der Union verschulden, weil es nämlich gar keine eigenen Staatsanleihen hätte, es würde stattdessen an den gemeinsamen Anleihen partizipieren, die Europa besitzen müsste, wäre es ein Staat. Die nun diskutierten »Eurobonds«, die eigentlich einer gemeinsamen Anleihe entsprechen, sind in diesem Sinn als Gegengewicht zu den Schulden gedacht.
Wäre also Europa ein Staat, hätten auch die Ratings der Agenturen dieselbe Bedeutung wie für die USA, sie setzten eben Parteien, nicht Staaten, unter Druck, sich zu einigen. Und während sie in diesem Fall etwas von der zukünftig drohenden Schwäche des Hegemons in der Weltpolitik deutlich machen, zeigen sie in jenem, wie sehr Europa in jeder neuen Krise von seiner eigenen Geschichte eingeholt wird – je größer die Krise, desto heftiger.
In den endlosen Diskussionen über die EU wird demgemäß der Souverän, um den es doch gehen müsste, niemals beim Namen genannt. Von »Eini­gung« ist die Rede, nicht von einem geein­ten Staat; von einer notwendig gewordenen »einheitlichen Wirtschaftspolitik«, »schärferen Kontrollen« oder »wetterfestem Regelwerk« wird gesprochen, die Schaffung eines »EU-Stabilitätsrats« oder eines »europäischen Finanzministers« gefordert. Der Souverän jedoch, den dies voraussetzen würde, bleibt das eigentliche Tabu.
Visiert wird etwas wie eine neue, eine demo­kratische Form des »Doppelstaats« (Ernst Fraenkel). Die Gesamtheit der EU-Bürger soll als verfassungsgebendes Organ neben die nationalen Regierungen treten, so dekretierte es Jürgen Habermas erst jüngst wieder bei einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität. »Werden dann aber die Nationalstaaten neben einer gesamt­europäischen Regierung an Bedeutung verlieren? ›Alles, nur nicht das‹, ist Habermas’ große und für viele überraschende These an diesem Abend. ›Die nationale Identität ist nie nur eine kultu­relle, historische oder sprachliche gewesen, son­dern vor allem eine politische.‹ Als Verkörperung des politischen Willens seiner Bürger sei der Nationalstaat sehr wichtig. Aber dieselben Bürger müssten sich als europäische Bürger verstehen und in dieser Doppelrolle an der europäischen Demokratie teilhaben können.« So gibt die SPD-Zeitung Vorwärts Habermas’ Ausführungen wie­der.
Weder will Habermas einen europäischen Staat, darunter kann man sich wohl prinzipiell nur ein bürokratisches Monstrum vorstellen, noch heißt er gut, was die eigene Regierung unternimmt, um zwischen dem einzelnen Nationalstaat und der europäischen Union irgendwie zu vermitteln. An Angela Merkel statuierte Habermas ein Exempel für dieses verwerfliche »Taktieren« und den skandalösen »Opportunismus« der euro­päischen Regierungen. Die europäische Idee, die dadurch verraten werde, sei hingegen »von unten«, durch einen »zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang«, herzustellen. Und da verwandelte sich offenbar der sonst so bedächtige Alleskommunizierer in den ideellen Gesamtwutbürger: So berichtet der Vorwärts, dass Habermas, in seiner Eigenschaft »als Bür­ger«, »wild gestikulierend über das ›schamlose Verhalten der Regierungen‹« herzog. »Die Finanzkrise lässt vergessen, dass es sich bei der euro­päischen Einigung um ein politisches Projekt handelt«, polterte er. Dass es dazu eines Souveräns bedarf, wird verdrängt, darum das Gepolter und das ­Gerede von einem »zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang«.

Werden unter solchen Voraussetzungen die ­Finanzmärkte beschimpft, und dazu scheint jener gesamteuropäische »zivilgesellschaftliche Kommunikationszusammenhang« einzig imstande, findet eine eigenartige Verschiebung statt: Um nicht von der Notwendigkeit eines Souveräns zu sprechen, die eine gemeinsame Währung langfristig beinhaltet – langfristig heißt: über Perioden hinweg, die Krisen miteinschließen –, und dennoch eine Einigung »von unten«, also von der Masse der Wutbürger aus zu beschwören, nimmt man in Kauf, dass die Akteure der Finanzmärkte angegriffen werden, die diese Währung zwangsläufig in Gefahr bringen, wenn die Krise droht.
Wer diese projektiven Mechanismen durchschaut, kann aber seinerseits nun nicht einfach auf »Realpolitik« pochen. Wollte man sich auf die Geschichte der USA berufen und einen Staat Europa als die einzige Möglichkeit beschwören, die ökonomische Krise zu bewältigen und eine verlässliche Außenpolitik zu betreiben, die nicht auf Appeasement gegenüber dem Jihad hinausliefe – es wäre eine politische Illusion, ein neokonservatives Wunschbild, für das nicht zufällig die nötige Öffentlichkeit fehlt. In dem ganzen Dilemma, das sich an der europäischen Einigung heutzutage abzeichnet und die Krise immerzu verschärft, drückt sich aber nichts anderes aus als das Nachleben des Nationalsozialismus inmitten der Demokratie – so wie ein eigener europäischer Souverän überhaupt nur denkbar wäre, wenn Europa sich selbst von Hitlerdeutschland befreit hätte.