Wen meint Breivik mit seinem Feindbild »Kulturmaxisten«?

Zivilist in Uniform

Anders Breivik, der Attentäter von Oslo, sieht die westliche Welt vom »Kulturmarxismus« beherrscht. Wer dessen Agenten sind, muss er seinen Zeitgenossen nicht erklären.

I.
Ordinäre Marxisten interessieren sich für »Kultur« nur als Oberflächenphänomen. Nichts als ideologischer Reflex der Produktionsverhältnisse, gilt sie ihnen als falscher Schein, der die Individuen über die Verkehrtheit der Gesellschaft und das unbefriedigende eigene Dasein hinwegtäusche. Aufgabe des Kritikers sei es, solchen Schein zu zertrümmern und das utopische Glücksversprechen, mit dem dieser die von ihm Verführten lockt, irgendwie im empirischen Dasein »einzuholen«. So richtig hat es mit dem Einholen aber nie geklappt. Die »Kulturarbeit«, mit der diverse sozialdemokratische Volkserzieher heute den »bildungsfernen Schichten« faire »Startbedingungen« beim Wettkampf um die geistloseste Form von Selbstverwertung sichern, »Menschen mit Migrationshintergrund« die bereichernde Kraft »kultureller Differenzen« nahebringen und für eine »Zivilgesellschaft« werben wollen, in die jeder sich selbst als »kreativer Kopf« einbringen möge, ist nur die jüngste Erscheinungsform jener Mischung aus Fetischismus und Verachtung, mit der die durch und durch protestantische deutsche Linke seit jeher allen Phänomenen der Kultur begegnet. Einerseits dürfen diese nie in ihrer zweckfreien Autonomie wahr- und ernstgenommen werden, weil man damit ihrem falschen Schein erliegen könnte. Andererseits will man ja »einholen«, was die Kultur auf verkehrte Weise verspricht, und das geht nicht ohne harte Arbeit an sich selbst und anderen. Deshalb ist »Kulturarbeit« in linker Absicht von nationaler Erbauungskultur stets nur schwer zu unterscheiden gewesen. Beide glorifizieren Verinnerlichung und Verzicht, beide sind der Ansicht, Kultur müsse einem »etwas geben«, um ihre Existenz zu legitimieren, beide verachten die Zweckfreiheit und Unreglementiertheit ästhetischen Ausdrucks. Und für beide ist Kultur ein pädagogisches Gegenprogramm zur Zivilisation.
Wäre irgendein politisch Berufener je auf die Idee verfallen, »Zivilisationsvereine« zu gründen, in denen »Zivilisationsarbeit« betrieben wird, um die »zivilisationsfernen Schichten«, zu denen zweifellos zuvorderst die »Eliten« gehören, zur Mündigkeit zu erziehen? Wer einen solchen Vorschlag machte, geriete automatisch in den Ruch der Arroganz, während die Rede von der Bildungsferne unwidersprochen zum Gemeinplatz werden konnte. Um Zivilisation muss sich dem allgemeinen Verständnis nach niemand bemühen, weil sie ohnehin herrscht. Sie ist das Allgemeine, das abstrakte Prinzip, an das man sich anzupassen hat, um die eigenen Ziele zu erreichen, das man aber anders als die Kultur nie ganz und gar zur eigenen Sache machen muss. Die Zivilisation ist draußen, die Kultur ist drinnen. Die Zivilisation ist kalt und sachlich, die Kultur wird gerade in ihren irrationalen und menschenfeindlichen Aspekten als autochthoner Herzenswärmer geliebt. Wer sich zum Verteidiger der Zivilisation erklärt, gilt als Imperialist, wer seine Kultur verteidigt, bekommt sofort einen eigenen Förderverein. Hass hingegen flammt immer dann auf, wenn die Zivilisation nach innen und die Kultur nach außen dringt, wenn das vermeintlich Eigentliche sich als Fassade, das scheinbar Uneigentliche sich als Erscheinungsform von Individualität erweist. Die zur routinierten Phrase gewordene Verachtung gegenüber dem sogenannten Bildungsbürgertum richtete sich in der Hauptsache nie gegen dessen Begriff von Kultur und Bildung, sondern dagegen, dass dieser in ihm unabweisbar zur Fassade geworden war. Linke »Kulturarbeit« will es besser machen als die Bürger, will sich die »Kultur«, die den Bürgern zu pompöser Dekoration und hohlem Pathos missriet, in lebensreformerischem Eifer als vitalen Impuls des alltäglichen Daseins zueignen. Deshalb sind ihre ärgsten Feinde nach dem endgültigen Verschwinden des Bürgertums die »verbürgerlichten« Migranten, die ihre Kultur, welche doch ihr Eigenstes sein soll, an die Zivilisation verrieten. Diese haben dem depravierten Restbürgertum, das noch immer auf seine längst fadenscheinigen »Werte« und »Errungenschaften« pocht, immerhin die Erkenntnis voraus, dass Freiheit und Glück kein Grund und Boden sind, der sich als sicherer Besitzstand einhegen ließe, sondern eher etwas, das einem passieren kann, wenn man über das nur Eigene, und daher Bornierte, hinauszugelangen sucht. Für das Gelingen gibt es keine Garantie. Alles Glück muss, um den Namen zu verdienen, eben auch glücken, das heißt den Zufall zulassen können. Im pursuit of happiness, der Grundformel des Liberalismus, deren Wahrheitsgehalt die »verbürgerlichten« Migranten so ernst genommen haben wie nur das frühe Bürgertum selbst, ist dieses zufällige Moment allen Gelingens festgehalten, das zur Zivilisation gehört wie die »Kulturarbeit« zur Zivilgesellschaft.

II.
Anders Breivik, der seinen Massenmord inmitten einer politischen Gemeinschaft beging, die gerade eben selbst noch mit antizionistischer Kulturarbeit beschäftigt gewesen war, ist seinerseits mit Leib und Seele Kulturalist. Was er in seinem weltpolitisch daherkommenden 1 500-Seiten-Konvolut, das die Psychopathologie nicht nur irgendwelcher Nazigruppen, sondern eines großen Teils der Bevölkerung in obsessiver Übersteigerung auf den Punkt bringt, als »Multikulturalismus« geißelt, ist in Wahrheit ein Produkt des Scheiterns des Kosmopolitismus, das allererst ermöglicht hat, dass die islamischen Communities, die sich als verlässliche Sachverwalter der zerfallenden Institutionen des Wohlfahrtstaates anbieten, von Leuten wie Breivik neidvoll als Konkurrenten beim Wettbewerb um die populärste Form von Selbstentmenschung und Verzicht beäugt werden. Diejenigen, die jetzt bereits einen Terror gegen den Multikulturalismus heraufziehen sehen, warnen davor umso panischer, je gewaltsamer die Erkenntnis verdrängt werden muss, dass der Multikulturalismus nicht die konkrete Verwirklichung des Kosmopolitismus, sondern die Ideologie von dessen Ausverkauf gewesen ist. Gerade weil die kosmopolitische Weltgesellschaft nicht Wirklichkeit geworden ist, die Regression auf vormoderne Vergesellschaftungsformen aber durch den Stand der Entwicklung des Weltmarktes selbst unmöglich wurde, wird der Primat der Ethnie, der Gemeinschaft, eben der »Kultur«, im Modus des Multikulturalismus auf der Ebene der heteronom organisierten »globalisierten« Zivilgesellschaft aufs Neue installiert. Wahnhafter Ausdruck dieser Konstellation ist Breiviks Vernichtungswahn, der eine Gesellschaft, die als Patchwork zwangshomogenisierter Partikulargemeinschaften längst von beängstigender Einheitlichkeit ist, blindwütig erst recht zu homogenisieren trachtet. In diesem Wahn der Homogenität, der sich eben nicht einfach gegen die »fremden Kulturen« richtet, sondern gegen das vermeintlich zersetzende Prinzip, das sie miteinander vermische, ist er sich mit jenen einig, die er als »Counter-Jihadist« erklärtermaßen kopieren wollte. Der Name für dieses Prinzip ist bei Breivik »Kulturmarxismus«, als seine wichtigsten Agenten werden die Theoretiker der »Frankfurter Schule« (gemeint ist die frühe Kritische Theorie) halluziniert – die »Juden« mithin, und nicht der zeitgenössische Islam, dessen vermeintliche Dominanz im Gegenteil als Folge der Vorherrschaft jenes »kulturzersetzenden« Denkens angesehen wird.
In seiner Begriffsverwendung erweist sich der Wikipedia-Universalgelehrte als nordischer Erbe des christlich-fundamentalistischen Flügels der US-amerikanischen Republikaner. Deren prominentester Exponent, Pat Buchanan, der unter anderem Aids für eine »Vergeltung der Natur« und Migration für eine »Invasion« hält, welche die »weiße Welt« gefährde, ficht schon seit Jahrzehnten gegen die »Vergötzung der globalen Ökonomie« und gegen den drohenden »Tod des Westens« in Folge von Geburtenrückgang, Einwanderung und Massendemokratie. Im Gegensatz zu den radikalliberalen Neocons, gegen die er sich ausdrücklich abgrenzt und deren Vordenker er, darin europäischen und US-amerikanischen Linken sehr ähnlich, als Vertreter einer wurzellosen »Ostküsten-Intelligenz« ansieht, versteht Buchanan unter »Westen« jedoch gerade nicht das neue Amerika, sondern das alte Europa, von dem auch die Vereinigten Staaten abstammten und dessen Erbe sie beharrlich verleugneten. Mittels der Entgegensetzung des neuen, durch Globalisierung und ethnische Durchmischung angeblich »degenerierten« Amerika und des »eigentlicheren«, jedoch von seinen amerikanischen Abkömmlingen verleugneten Europa gelingt es Buchanan und seinen Mitstreitern, auch innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft »Kultur« gegen »Zivilisation« auszuspielen.
Nur sollen die »fremden Kulturen« nicht, wie der demokratische Multikulturalismus es propagiert, als homogene Partikulargemeinschaften in die Zivilgesellschaft integriert werden, sondern sie sollen draußen bleiben. Darin zumindest weiß sich Breivik, mag er auch brachialere Mittel zur Durchsetzung dieses Anspruchs empfehlen, mit den republikanischen Erfindern des Schimpfnamens »Kulturmarxismus« einig, der bei Buchanan, William S. Lind und anderen immer wieder als Schlagwort für den bedrohlichen Kosmopolitismus der globalen Ökonomie begegnet, gegen welchen der alte europäische Westen, das Christentum, die Familie und die Ehe unbedingt zu retten seien. Nur dass Breivik diesen Wahn ausgerechnet in einem Umfeld auslebte, das von jenem Kosmopolitismus bis heute kaum auch nur berührt worden ist. Dass der erste paranoide Anti-Globalisierungsritter, der in halluzinierter Notwehr selbst zur Waffe griff, sich gleichzeitig wie selbstverständlich auf eine immer noch lebendige Tradition nordisch-arischer Heldensagen berufen konnte, macht ihn nicht lächerlich, sondern erst recht gefährlich.

III.
Nichts zu tun hat der von Breivik bemühte Begriff des Kulturmarxismus mit der angloamerikanischen Denkschule des »Cultural Marxism«, dessen Vertreter er freilich, wie viele andere, dennoch zitiert. Vielmehr zeugt deren Geschichte selbst vom Niedergang des Marxismus und dem Verrat von dessen universalistischen Ansprüchen. Ging es dem Begründer und bis heute interessantesten Vertreter des »Cultural Marxism«, Raymond Williams, noch ähnlich wie seinem französischen Zeitgenossen Henri Lefèbvre um die ideologiekritische Erschließung von Erscheinungsformen der Alltagskultur und um Begründung eines materialistischen Kulturbegriffs, der das Erbe des deutschen Idealismus abstreifen sollte, kennen seine postmodernen Nachfolger, allen voran Stuart Hall, der das Fortleben bayerischer Folklore in den USA ernsthaft als Beispiel »kultureller Hybridität« abfeiert, nur noch partikulare Kollektividentitäten, die gegen jeden Anklang von Universalismus in ihrer »minoritären« Eigenheit gestärkt werden sollen. Zu diesem Zweck sollen sie jene »relative kulturelle Hegemonie« erlangen, von der in diesen Kreisen in Anlehnung Antonio Gramsci, den rechte Kulturalisten ebenso gern bemühen wie linke, so oft die Rede ist.
Damit betreiben die postmodernen »Cultural Marxists« längst selbst die Apologie einer Welt, die nur noch Cliquen und keine Individuen, nur noch nebeneinander vor sich hinvegetierende Kulturen statt die Sehnsucht nach der einen freien Welt kennt. Gegen diese Sehnsucht richtet sich auch Breivik, dessen Fimmel für imaginäre Uniformen ihn als antizivilisatorischen Zivilisten ausweist, der in einer Gesellschaft, in der bald nur noch Banden gegen Bürgerwehren kämpfen, als selbsternannter radikaler Staatsbürger notfalls auch den bürgerlichen Staat zu vernichten bereit ist.