Harte Urteile nach den Riots in Großbritannien

Sparen und strafen

Nach den Riots greifen britische Gerichte hart durch. Konservativen Politikern wird vorgeworfen, mit ihren Forderungen an die Justiz die Gewaltenteilung zu untergraben. Die Liberalen versuchen, sich als Kritiker harter Urteile zu profilieren. Für konservative Vordenker wie Duncan Smith hingegen sind die wirtschaftsliberalen Reformen Margaret Thatchers nicht weit genug gegangen.

Michael Fitzpatrick, ein 18jähriger aus Manchester, bekannte sich vor Gericht schuldig. Er hatte einen geplünderten Laden betreten, Turnschuhe aufgehoben, wieder fallengelassen und später geplünderten Champagner mitgetrunken. Dafür verurteilte ihn das Amtsgericht zu zwei Jahren und vier Monaten Haft im Jugendgefängnis. Der 23jährige Nicholas Robinson aus London hatte eine Kiste Wasser geklaut. Das Urteil: sechs Monate Haft.
Die erste Welle von Gerichtsverhandlungen und Urteilen in Folge der Riots macht deutlich, dass die Justiz zumindest in der ersten Instanz hart urteilt. Darin folgen die Richter den Aufforderungen führender Politiker in Großbritannien. Premierminister David Cameron hatte »beispielhafte« Strafen gefordert. Explizit lobte er das berüchtigte »Facebook-Urteil« gegen zwei Männer in der nordwestenglischen Provinz. Sie hatten über Facebook zur Veranstaltung »Riot« eingeladen. Ein Richter in Chester verurteilte die beiden Männer zu jeweils vier Jahren Haft. Vielen Konser­vativen und den Boulevardmedien gefallen solche Urteile, doch in der vergangenen Woche war auch Kritik zu vernehmen. Diese kam in erster Linie vom liberalen Koalitionspartner der konservativen Regierung. Theresa Munt, eine Abgeordnete der Liberaldemokraten, bezeichnete den Vorschlag der Konservativen, verurteilten Randalierern und deren Familien die Sozialhilfe zu streichen und die Wohnungen wegzunehmen, als »verrückt« und »total durchgeknallt«.

Bedenken äußerten zudem liberaldemokratische Mitglieder des Oberhauses, wenn auch in etwas moderaterer Tonlage. Lord MacDonald, der fünf Jahre lang als Oberstaatsanwalt in England und Wales tätig war, hatte die Gerichte für ihre Urteile kritisiert. Die Richter seien von einem kollektiven Verlust der Verhältnismäßigkeit betroffen. Die Strafen, die verhängt wurden, zeigten weder Menschlichkeit noch Gerechtigkeit. Sie seien außerdem nicht konsistent. Dies hatten zuvor schon Mitarbeiter in den Justizbehörden angemerkt. So wurden in drei weiteren »Facebook-Urteilen« deutlich geringere Strafen verhängt als in Chester. Die jeweiligen Täter kamen mit Verwarnungen davon, einer musste sich lediglich öffentlich entschuldigen. Ähnlich stark variiert das Strafmaß bei vielen anderen Urteilen. Damit droht aus Sicht von Justizexperten eine Welle von Berufungsverfahren, die das englische Justizsystem über die kommenden Monate belasten dürfte.
Allein in London wurden im Zuge der Ausschreitungen fast 2 000 Menschen verhaftet. Über 1 000 sind bereits angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Überdurchschnittlich viele Fälle sind allerdings nach der ersten Verhandlung von Amtsgerichten zur Urteilssprechung an höhere Instanzen weitergereicht worden, weil nur dort höhere Haftstrafen verhängt werden können. Die Grenzen des repressiven Vorgehens zeigen sich bereits an der Überbelegung englischer Gefängnisse. Nach der ersten Welle von Verurteilungen stieg die Zahl der Gefängnisinsassen in England und Wales auf einen neuen historischen Höchststand von 86 600.
Die Kritik richtet sich nicht nur gegen Richter, sondern auch gegen die politische Einflussnahme auf die Gerichte. Der Liberaldemokrat Lord Car­lile, der bis vor einigen Monaten Hauptberater der Regierung in Fragen der Terrorismusbekämpfung war, warnte explizit vor einem zu großen Einfluss der Minister auf die Rechtsprechung. Dies bedrohe die Rechtsstaatlichkeit, weil die Gewaltenteilung untergraben werde. Dabei kritisierte er explizit auch David Cameron. Es sei nicht angemessen für den Premierminister, Druck auf Richter auszuüben. In der vorigen Woche hatte es zudem Spekulationen darüber gegeben, ob die Regierung und insbesondere das Innenministerium direkten Einfluss auf den Rat der englischen Richter ausgeübt hätten. Der Rat verabschiedet regelmäßig Richtlinien für die Höhe von Strafen. Regierung und Justizrat hatten die Spekulationen zurückgewiesen, unstrittig ist allerdings die öffentliche Einflussnahme.
Lord Carlile meinte außerdem, es sei keine Lösung, einfach die Gefängnisse zu füllen. Großbritannien hat gemessen an der Bevölkerungszahl bereits die höchste Zahl an Gefängnisinsassen in ganz Europa. Überdies ist die Rückfallquote sehr hoch. Die Liberaldemokraten hatten im Wahlkampf das englische Justizsystem als dysfunktional bezeichnet und Reformen versprochen. Ein Reformversuch der Regierung scheiterte im Frühjahr. Justizminister Kenneth Clarke hatte vorgeschlagen, Angeklagten eine Halbierung ihrer Haftzeit anzubieten, wenn sie sich schuldig erklärten. Die Boulevardpresse, allen voran Rupert Murdochs Sun, hatte diesen liberalen Vorschlag durch eine gezielte Kampagne sabotiert, indem sie Clarke vorwarf, er wolle Sexualstraf­täter früher aus dem Gefängnis entlassen. Die Regierung musste die Pläne vorerst aufgeben.

Die gesellschaftliche Debatte um die Hintergründe der Riots geht unterdessen weiter. Nach einer Intervention des stellvertretenden Premierministers Nick Clegg einigten sich in der vorigen Woche Cameron und der Oppositionsführer Ed Miliband auf eine Untersuchung der Ursachen. Cameron hatte dies zunächst abgelehnt. In die Debatte eingeschaltet hat sich auch der ehema­lige Premierminister Tony Blair. Er kritisierte Camerons Rede über den gesellschaftlichen Zerfall und sagte, die Probleme seien keine gesamtgesellschaftlichen, sondern die Folge der Entstehung ­einer kleinen, schwer zu integrierenden Minderheit. Diese gebe es in jeder modernen Gesellschaft, Großbritannien sei da keine Ausnahme.
Der Arbeitsminister und konservative Vordenker Iain Duncan Smith sieht das anders. In einem Interview mit dem Magazin Spectator prophezeite er, dass die Krawalle der Beginn einer sozialen Krise seien, die sich nun zu entfalten beginne. Nach den ökonomischen Krisen und der Schuldenkrise sei diese soziale Krise die wahre Herausforderung für Cameron, ähnlich wie für Blair die Terrorattacken vom Juli 2005. Smith berief sich dabei auch auf die Regierungszeit Margaret Thatchers. Damals sei es den Konservativen gelungen, die Wirtschaft ins 21. Jahrhundert zu befördern. »Uns gelang es, die Märkte zu befreien, aber wir haben den Rest vergessen. (…) Nun haben wir eine Gesellschaft aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der viele im Sozialsystem gefangen sind, und eine Wirtschaft des 21. Jahrhunderts.«

Smiths Rhetorik steht im Gegensatz zu dem auch in Deutschland zuletzt von Frank Schirrmacher diskutierten Text des ehemaligen Thatcher-Anhängers und Konservativen Charles Moore. Dieser hatte noch vor den Riots einen Abgesang auf die Politik der Konservativen angestimmt. »Die Stärke der Analyse der Linken«, schrieb er in der Zeitung Daily Telegraph, »liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern.«
Derartige Einsichten haben die gegenwärtig regierenden Konservativen nicht. Smith äußerte seine Überlegungen im Kontext der Maßnahmen der Regierung nach den Riots. Cameron hatte ­einen Hilfsplan für 120 000 Familien in Problemsituationen angekündigt, als präventive Maßnahme gegen neue Unruhen. Smith erklärte nun, was darunter zu verstehen sei: Die »Hilfsmaßnahmen« beinhalten Arbeitsprogramme, Einweisungen in Erziehungsheime und Drogenentzugsprogramme.
Radikale Linke haben unterdessen in Bristol das Gebäude eines lokalen Boulevardblattes angegriffen. Die Täter zerstörten Fensterscheiben und warfen Farbbeutel auf die Fassaden der Bristol Evening Post. In einem Bekennerschreiben warfen sie der Zeitung vor, »im Dienste des Klassenfeindes zu stehen«. Die Bristol Evening Post hatte nach den Riots in Bristol Bilder von Verdächtigen veröffentlicht und die Bevölkerung dazu aufgerufen, bei der Erfassung der Plünderer zu helfen. Die Journalistengewerkschaft Großbritanniens (NUJ) verurteilte den Angriff auf die Zeitung.
Eine weitere Eskalation der sozialen Auseinandersetzungen käme der Regierung möglicherweise ganz recht. Denn sie könnte davon ablenken, dass die wirtschaftlichen Daten ziemlich schlecht aussehen. Häuserpreise und Konsumausgaben sinken, während die Inflation mit fünf Prozent weiterhin hoch ist. In der vergangenen Woche wurden die neuen Arbeitslosenzahlen veröffentlicht. Die Arbeitslosigkeit ist im vorigen Quartal auf fast 2,5 Millionen Erwerbslose gestiegen, bei einer Quote von 7,5 Prozent. Das Sparprogramm der Regierung hat den versprochenen Aufschwung bisher nicht gebracht.