Antiisraelische Proteste in Ägypten

Das Feindbild wird gebraucht

Wie bereits das Regime Hosni Mubaraks unterhält das nun regierende ägyptische Militär gute Beziehungen zu Israel, betreibt aber antiisraelische Propaganda. Vorurteile gegen Israel gibt es auch in der ­Jugendbewegung, doch die antiisraelischen Proteste wurden von islamistischen Gruppen initiiert.

Das Verhältnis zu Israel ist in Ägypten weniger eine Frage der Außen- als der Innenpolitik. Die antiisraelischen Proteste sagen mehr über die Situation der verschiedenen politischen Akteure in Ägypten aus als über das offizielle Verhältnis zu Israel. Dieses ist, ungeachtet dramatisierender Berichte über »die schwerste diplomatische Krise« seit langem, entspannt. Seit der Ära Mubarak bestehen enge, auch private Kontakte zwischen den ägyptischen Politikern und Militärs und ihren israelischen Kollegen.
Ägypten zögerte nach dem Tod fünf ägyptischer Grenzsoldaten, die Tat zu verurteilen, bis die Demonstrationen die Übergangsregierung zu einer öffentlichen Stellungsnahme zwangen. Dann verfasste sie zwei Erklärungen, eine gemäßigte, an Israel gerichtete, und eine schärfer formulierte, die eher an die Demonstranten vor der isra­elischen Botschaft gerichtet war und die wenige Stunden später von allen offiziellen Websites wieder gelöscht wurde.
Öffentlich ließ die Übergangsregierung verkünden, sie werde den Botschafter aus Tel Aviv abziehen, woraufhin sowohl dieser als auch die israelische Regierung erklärten, sie wüssten von einer solchen Entscheidung nichts. Das von der israelischen Regierung ausgesprochene »tiefe Bedauern« über den Tod der Grenzsoldaten nahm die ägyptische Regierung zunächst positiv auf. Dann kletterte der 23jährige Ahmed al-Shehat 20 Stockwerke zur israelischen Botschaft hinauf, verbrannte die israelische Flagge und hisste die ägyptische. Der »Flagman« wurde im Internet und von der Protestbewegung als Held gefeiert – eine Chance, die sich die Übergangsregierung unter Premierminister Essam Sharaf, die unter politischen Druck steht, nicht entgehen lassen konnte. Viele Politiker schlossen sich dem medialen Lobgesang auf den jungen Mann an. Die Regierung erklärte, eine Bekundung des Bedauerns sei keine Entschuldigung, man verlange von Israel zumindest eine Entschädigung für die Familien der Opfer und ein Versprechen, dass so etwas nie wieder geschehen werde.
Die vertraulichen Gespräche mit der israelischen Regierung werden als scharfe Zurechtweisung dargestellt. Das hat seinen Grund: Mit dem Feindbild Israel lässt sich auch Jahrzehnte nach dem Abschluss des Friedensvertrags hervorragend Politik machen. Die Übergangsregierung setzt die Politik Mubaraks fort. Einerseits pflegt sie engste Beziehungen zu Israel und tritt auch öffentlich für das Festhalten am Friedensvertrag ein, anderseits schürt sie gezielt bestehende anti­israelische und antisemitische Ressentiments, auf deren Vorhandensein sie sich verlassen kann.

Eine lange Tradition hat die Denunziation sämtlicher Proteste gegen die Regierung als das Werk ausländischer, vorzugsweise israelischer, Spione, die das Land schwächen wollten. Dieser Propaganda bedient sich die Militärregierung seit April, um die andauernden Protesten zu diskreditieren, sie fand mit der Verhaftung Ilan Grapels als angeblichem israelischen Spion einen ersten Höhepunkt. Dann wurden mehrere Aktivisten und nun auch 36 Menschenrechtsorganisationen des »Hochverrats« angeklagt, weil sie angeblich Geld aus dem Ausland erhalten und im Auftrag fremder Kräfte – gemeint sind die USA – arbeiten.
Ähnliche Vorwürfe werden gegen die Bewegung 6. April erhoben, nach mehreren hetzerischen Aufrufen des Militärrats griffen Ende Juli Anwohner eine Demonstration an und töteten einen Protestierenden. Allerdings herrschen dieselben antiisraelischen Vorurteile auch in weiten Teilen der Jugendbewegung. Nach der Verhaftung Grapels warf die bekannte Bloggerin Zeinobia Israel wütend vor, »ihre« Revolution zu unterwandern, und rief andere Aktivisten auf, wachsamer zu sein. Erst nach bissigen Kommentaren nahm sie den Aufruf zurück.
Ein Großteil der jugendlichen Protestierenden hat jedoch ein weitaus differenzierteres Bild von Israel als die Masse der Ägypter, unterscheidet klar zwischen jüdischer Bevölkerung, dem Staat Israel und dessen Politik und hat zum Beispiel die Sozialproteste in Israel interessiert verfolgt. In den vergangenen Wochen gab es in sozialen Netzwerken und auf Treffen häufig Diskussionen über das Verhältnis zu Israel, und es gibt auch scharfe Kritik an den derzeitigen antiisraelischen Protesten. Auf Facebook schimpfte die 20jährige Saher über den »Flagman« al-Shehat: »Warum loben alle diesen Kerl nur so, warum wird er für diesen Blödsinn auch noch belohnt? Denkt denn niemand darüber nach, welche Probleme er unserem Land macht?«

Die Proteste vor der israelischen Botschaft waren schon anlässlich des Nakba-Tags am 15. Mai umstritten, viele Protestierende waren von Beginn an dagegen, dort zu demonstrieren – zumeist, weil sie fürchteten, sich mit Israel zu befassen lenke von den wichtigeren Themen ab, etwa von der Politik des Militärs und der Verwirklichung der revolutionären Ziele. Dass es nun zu Demons­trationen vor der Botschaft in Kairo und in mehreren anderen Städten kam, die deutlich größer als die im Mai waren und bei denen radikalere Forderungen erhoben wurden – Ausweisung des Botschafter, Schließung der Botschaft, Abbruch der Geschäftsbeziehungen –, hat auch damit zu tun, dass die Verhältnisse sich geändert haben.
Als am Nakba-Tag Tausende Jugendliche gegen die Palästina-Politik Israels protestierten und zugleich Slogans gegen die Militärregierung riefen, schoss das Militär in die Menge. Die Proteste richteten sich rasch wieder gegen das Militär. Die derzeitigen Proteste gegen Israel hingegen scheinen der Regierung willkommen zu sein. Seit der Räumung des Tahrir-Platzes in Kairo hat das Militär keine noch so kleine Demonstration erlaubt – dann demonstrierten über Tage Tausende vor der Botschaft, und kein Polizist oder Soldat schritt ein. Der »Flagman« Ahmed al-Shehat berichtete, ein Offizier habe ihm zugenickt und ihn gewähren lassen, als er zu klettern begann.
Tatsächlich ist die Strategie der Regierung zumindest für einige Tage aufgegangen: Von der Wut über die abgebrochene Übertragung des Prozesses gegen Mubarak und die Repression gegen Protestierende war für einige Tage nichts zu bemerken. Dass die Kritik am Militär bei den antiisraelischen Protesten keine Rolle spielte, hatte auch damit zu tun, dass sie nicht primär von den Gruppen der Jugendbewegung organisiert wurden. Diese schlossen sich erst später an. Vor allem die islamistischen Salafisten riefen in vielen Städten zu Protesten gegen Israel auf, während die Muslimbrüder – schon auf dem Weg zur Realpolitik – sich zurückhielten.
Der Protest gegen Israel brachte auch Fraktionen der Bewegung wieder zusammen, die sich vor allem wegen ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Militärrat gespalten hatten. All dies zeigt aber auch, in welch unsicherer Situation alle po­litischen Akteure sich derzeit befinden, einschließlich der islamischen Gruppen, die nun erneut versuchen, auf die Straße zurückzukehren, Bündnisse zu schließen und ihre Anhänger zu mobi­lisieren. Über Monate hinweg haben sie auf das Bündnis mit dem Militärrat gezählt, diesen ständig gelobt und sich davon wohl einen Zugang zur Macht nach den kommenden Wahlen erhofft.

Nun scheint dieses Bündnis in einer schweren Krise zu sein. Der Militärrat will noch vor den Wahlen »Grundlinien für eine neue Verfassung« ausarbeiten. Es soll nicht nur die Vorherrschaft des Militärs, sondern auch der Säkularismus festgeschrieben werden – ein Affront gegen die Islamisten. Diese waren verunsichert und versuchten, zu Protesten gegen die israelische Botschaft zu mobilisieren, als die Demonstrationen bereits abgeflaut waren und sich die meisten Gruppen der Jugendbewegung wieder dem Kampf gegen die Repression zugewandt hatten.
Das Verhältnis zu Israel wird auch weiterhin thematisiert werden, wenn sich eine Gelegenheit ergibt oder es nötig erscheint. Ungeachtet des Friedensvertrags Israel als ständige Bedrohung darzustellen, stärkt die Macht des gewaltigen Militärapparats, der noch immer die Politik bestimmt und mit seinen zahlreichen Unternehmen auch eine Wirtschaftsmacht ist. Ein angeblich drohender Krieg mit Israel ruft noch immer die stärksten Emotionen hervor. Als Front gilt die Sinai-Halbinsel, wo das Militär eine äußerst dubiose Politik verfolgt. Im unabhängigeren Teil der Presse wird weiterhin gerätselt, welche Ziele die »Operation Adler« verfolgt, in deren Rahmen das Militär seit dem 12. August Tausende Soldaten sowie Panzer und Flugzeuge auf den Sinai verlegt. Offiziell soll das Militär kriminelle Banden und islamistische Gruppen bekämpfen, die israelische Regierung hat der Truppenverstärkung zugestimmt, ja sie sogar begrüßt.
Die Zeitung al-Masry al-Youm hat in einer aufwendigen Recherche versucht, mehr über den Hintergrund der Aktion herauszufinden und festgestellt, dass vieles von der ansässigen Bevöl­kerung ganz anders dargestellt wird. So sei etwa der Angriff auf die Polizeistation in Arish Ende Juli nicht von islamistischen Gruppen ausgegangen, diese hätten sich erst später angeschlossen. Vielmehr seien unter den Angreifern zahlreiche unter Mubarak zu Unrecht als Islamisten Verhaftete gewesen, die während der Revolution freikamen und sich rächen wollten. Die Frage, was die Ziele der »Operation Adler« sind und wen das Militär eigentlich bekämpft, konnten die Journalisten jedoch nicht beantworten.
Unklar bleibt auch, was von der Ankündigung der Regierung zu halten ist, der Sinai solle in ­einem gewaltigen Infrastrukturprogramm »besiedelt« werden. Angeblich sollen Millionen Wohnungen und Arbeitsplätze auf der Halbinsel entstehen. Ob dies tatsächlich geplant ist und ob es dabei um eine Zurückdrängung der dort ansässigen Beduinen, um die Ausweitung des Suez-Kanals zu einem größeren Umschlagplatz oder um militärische Ziele geht, wird sich wohl erst in den nächsten Monaten zeigen. Wenn Anfang September der Ramadan und das anschließende Eid-Fest vorbei sind, wird Israel wohl kein Thema mehr sein. Dann beginnt wieder die »große Politik«. Am 5. September stehen Mubarak und sein Innenminister Habib al-Adly erneut vor Gericht, und für den 9. September ist zum ersten Mal seit Wochen wieder eine Groß­demonstration gegen das Militär und die Regierung geplant.