Berthold Vogel im Gespräch über die wachsende soziale Kluft in der Mittelschicht

»Die Mittelschicht befindet sich in einer Reproduktionskrise«

Der Soziologe Berthold Vogel, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts in Göttingen und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, spricht über die wachsende Ungleichheit innerhalb der Mittelschicht, das Bildungs-Upgrade der Gesellschaft und die Benachteilung der jungen Generation auf dem Arbeitsmarkt.

Die Riots in Großbritannien entsprangen nicht der gesellschaftlichen Mitte, die um ihren Status oder Wohlstand fürchten muss. Anders als in Deutschland protestierten hier keine Wutbürger, sondern die rassistisch diskrimierte underclass.
Die sogenannten Riots kommen sicher nicht aus der sozialen Mitte. Was wir in Großbritannien beobachten, das würde ich eher als eine Revolte der Bindungslosen bezeichnen. Hier sind Jugendliche auf der Straße, die in vielerlei Hinsicht keine Bindungen mehr haben und kennen. Denen Bindungen verweigert werden, die selbst aber auch große Probleme haben, Bindungen einzugehen. Bindungen mit Blick auf die Arbeit, die Familie, das Gemeinwesen. In der Zerstörung des eigenen Lebensumfelds kommt diese Bindungslosigkeit in besonderer Weise zum Ausdruck. Interessant ist freilich, dass sich in der Bindungslosigkeit dieser jungen Leute die Lebenswirklichkeit der anderen Seite der Gesellschaft spiegelt. Die Bindungsverweigerung und Pflichtvergessenheit einer globalen Elite, die verächtlich auf Steuerzahler, Staat und Gemeinwesen herabblickt. Auch von oben wirkt zerstörerische Energie, in allen europäischen Gesellschaften.
Die Aufstände in Griechenland, in Tunesien und nun auch in Israel zeigen also – trotz ihrer Unterschiedlichkeit –, dass die neue Un­sicherheit auch die Mittelschichten betrifft?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir tatsächlich überall von »Aufständen« sprechen können. Bei aller Ähnlichkeit kommen hier doch sehr unterschiedliche Dinge zusammen: in Tunesien das Bedürfnis, sich von einem autoritären und repressiven Regime zu befreien, in Griechenland der Frust der neureichen Klassen darüber, dass die wilden Jahre des europäisch finanzierten »enrichez vous« vorbei sind, oder die Sorge in Israel, dass der Wohlstand von heute schon morgen passé sein wird. Aber eines ist in allen genannten Ländern klar. Die Veränderungen treffen gerade auch die Mitte der Gesellschaft.
Inwieweit sind die Mittelschichten von den Folgen der gesellschaftlichen Polarisierung zwischen Arm und Reich betroffen?
Die Mittelschichten haben immer Sorge, den Anschluss nach oben zu verpassen oder gar sozial abzusteigen. Neu ist, dass sich die Abstiegsängste der Mittelschichten in zahlreichen europäischen Gesellschaften vor dem Hintergrund einer langen Aufstiegs- und Wachstumsperiode vollzieht. Der Traum von immerwährendem Wohlstand und Gütervermehrung ist für einen Gutteil der sozialen Mitte ausgeträumt. Das gilt nicht für alle, aber doch für viele. Denn wir sehen nicht nur Verluste in der Mitte der Gesellschaft, wir sehen auch Gewinne. Kurzum: Die Mitte verschwindet nicht, sie wird heterogener, die Abstände innerhalb der Mitte nehmen zu.
Befristete Arbeitsverträge und soziale Unsicherheit betreffen nun also auch die Mittelschichten?
Befristung und Unsicherheit sind Realitäten. Interessanterweise gilt das auch dort, wo man es vor vielen Jahren noch nicht vermutet hätte: in kaufmännischen und technischen Berufen, im Gesundheitswesen und insbesondere in den öffentlichen Diensten, im Staatssektor. Und angesichts der dramatischen öffentlichen Schulden haben wir hier noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Die interessante Frage der kommenden Zeit wird die sein: Wie regeln wir vor diesem Hintergrund die öffentlichen Angelegenheiten in Zukunft? Und wer wird sie unter welchen Bedingungen regeln? Die Frage nach der Unsicherheit der Mittelschichten scheint daher kein nur partikulares Problem einer gesellschaftlichen Gruppe zu sein, sondern ein universales Problem gesellschaftlicher Gestaltung.
In Spanien, wo jeder zweite Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos ist, aber auch in Tunesien war es vor allem die Jugend, die rebellierte, da sie trotz ihres akkumulierten kulturellen Kapitals von den Privilegien entfernt ist, in deren Genuss ihre Eltern im Zeitalter der anhaltenden Prosperität noch kamen. Kommt es aufgrund langer Karriere- und Ausbildungsverläufe nun auch zu einer Generationenspaltung innerhalb der Mittelschicht?
Als Soziologen könnten wir sagen: Die Mittelschicht befindet sich in einer Reproduktionskrise. Wer trägt die Mitte von morgen? Die Leiharbeiter bei Airbus? Die Ein-Euro-Jobber im Bildungssektor? Die befristet Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung? Die Praktikanten und Mehrfachjobber? Die Bildungstitel vermehren sich rasant, ja es findet geradezu ein BildungsUpgrade der Gesellschaft statt. Doch lohnen sich diese Investitionen? Stabile Berufsperspektiven werden rarer, gute Arbeit ist ein seltenes Gut. Viele junge Leute befinden sich in einem Hamsterrad, sie laufen immer schneller, aber sie kommen nicht voran. Das ist ganz klar eine Generationenfrage. Und diese Erfahrung der Jungen, die sehen, dass ihnen die Privilegien von gestern verweigert werden, frustriert.
Sie bedauern das Wegbrechen der Mittelschichten. Aber wenn die Mittelschichten die eigene Position stärken, bleibt oft die Solidarität auf der Strecke. Neue Wohlstandskonflikte und Abgrenzungen nach unten sind dann unvermeidbar.
Was heißt bedauern? Ich stelle mir eine Gesellschaft scharfer sozialer Trennungen zwischen Arm und Reich reichlich ungemütlich vor. Es ist doch unstrittig, dass ein sozialer Rechtsstaat auf eine leidlich wohlhabende Mittelschicht angewiesen ist. Wer allerdings von der permanenten Revolte träumt oder kommende Aufstände herbeisehnt, der verachtet auch die Mittelschicht und damit auch rechtliche und politische Mäßigung. Mir graust es vor einer Gesellschaft der Verteilungskämpfe, denn hier obsiegt immer das Recht der Stärkeren.
Im wohlfahrtsstaatlich regulierten Nachkriegskapitalismus wurde die Gesellschaft vielleicht insgesamt durchlässiger, was zum Anwachsen der Mittelschicht geführt hat, aber gleichzeitig sind neue Exklusionsmechanismen entstanden.
Früher war sicher nicht alles besser, schöner und gerechter. Davon kann nicht die Rede sein. Aufstiege haben immer auch etwas mit Ellenbogeneinsatz und Konkurrenz zu tun. Aber es gab dennoch eine gesellschaftsgeschichtliche Phase, in der Einigkeit bestand, dass Gleichheit und Solidarität positive Ziele der Gesellschaftspolitik sind. Zur Verwirklichung dieser Politik brauchte es einen gestaltungsfähigen Wohlfahrtsstaat, der Infrastrukturen schuf, Daseinsvorsorge gewährte und als Gemeinwohl sichernde Instanz auftrat. Dass dabei keine heile Welt geschaffen wurde und sogar neue Ungleichheiten entstanden, versteht sich von selbst, denn jede wohlfahrtsstaatliche Politik ist ein konfliktreiches Wechselspiel von Benachteiligung und Privilegierung.
Nachdem lange Zeit die »soziale Frage« infolge des wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses in den Hintergrund getreten ist, interessiert sich die Öffentlichkeit verstärkt wieder für das Thema der sozialen Ungleichheit. Welche Widerstandspotentiale gegen das Kontrollregime des Neoliberalismus empfehlen sie einer Linken, die sich nicht in eine staatsfixierte Rolle drängen lassen will?
Oh je, da fragen Sie wahrscheinlich den Falschen. Ich bin ein großer Freund des sozialen Rechtsstaats, der aktiv handelt, zugleich aber subsidiäre Strukturen fördert. Und dieses Modell sozialer Rechtsstaatlichkeit hat es heute unglaublich schwer, denn die Freunde sind rar geworden, rechte wie linke. Die einen wollen die öffentliche Hand ausbluten, die andern erzählen, Verschuldung sei kein Problem. Beide Haltungen sind politisch desaströs.
Auch der Sozialstaat ist doch aber als regulierende und disziplinierende Instanz in Reak­tion auf die neuen Klassenverhältnisse und einer moral panic vor der Arbeiterklasse der kapitalistischen Gesellschaft entstanden. Und auch heute prägt der Sozialstaat selbst Klassen- und Gechlechterverhältnisse und den allgemeinen lebenslangen Arbeitszwang.
Es stimmt ja nicht, dass der Sozialstaat alleine als disziplinierende Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen entstanden ist. Die Idee des Sozialstaates oder, wie ich lieber sagen würde, des sozialen Rechtsstaats, hat unterschiedliche Quellen: die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, das kirchliche Engagement angesichts sozialen und wirtschaftlichen Elends und auch ein bürgerliches Unrechtsempfinden, das um eine für alle Klassen der Gesellschaft gedeihliche Gesellschaftsentwicklung besorgt war. Alle diese Initiativen hatten selbstverständlich immer auch eine bevormundende, paternalistische Seite. Es ging auch um die Durchsetzung bestimmter Modelle der Lebensführung, der Arbeitsdisziplin, der Geschlechter- und Generationenordnung. Und das gilt auch heute noch: Die Appelle zur lebenslangen Bildung, der Zwang zur Erwerbsarbeit um jeden Preis, die Aufteilung in gute und schlechte Arme, in gute und schlechte Migranten – das alles ist auch Sozialstaat und Sozialpolitik. Doch wir dürfen eines nicht vergessen: Solange ein sozialer Rechtsstaat funktioniert, stellt er auch Möglichkeiten für seine Bürger bereit, sich zu wehren, Rechte einzufordern und Freiheiten zu erkämpfen. Allerdings sehe ich schon, dass diese Prinzipien ­einer freiheitlichen Politik immer weiter zu Gunsten ökonomischer Imperative zurück gedrängt werden. Die aktuelle Finanzkrise befeuert diese Entwicklung und droht zu einer politischen und sozialen Krise zu werden, die Ressentiments und Entsolidarisierung fördert.