Erst Mülltonne, dann Sex

Berlin Beatet Bestes. Folge 112. Divine: I’m So Beautiful (1984).

Als 17jähriger habe ich jedes Wochenende in der Disco verbracht. Natürlich gab es im niedersächsischen Niemandsland keinen coolen Club. Wir fuhren entweder nach Stade in die »Mülltonne«, eine Müsli-Kneipe, oder nach Moisburg ins »Mic Mäc«, der ersten Großraumdisco im Umkreis. Im »Mic Mäc« versammelte sich am Wochenende die Jugend der umliegenden Dörfer, um wie die Löcher zu saufen und sich danach zu prügeln. Zum Prügeln ging man allerdings immer nach draußen auf den Parkplatz. Drinnen war es also relativ sicher, auf dem Weg zum Auto waren dagegen scheinbar immer irgendwelche sturzbetrunkenen Bauern gerade dabei, sich die Fresse zu polieren. Die Tanzfläche bot ein ähnlich trostloses Bild. Zu einer gefühlten Endlosschleife aus »Vamos a la playa« und »Sunshine Reggae« stapften aufgebrezelte Dorftussies von einem Bein aufs andere, während sich die Jungs in Stimmung tranken. Denn natürlich tanzen richtige Männer eigentlich nicht. Richtige Männer brauchen daher viel Alkohol, um ihre seltsamen Hemmungen zu überwinden. In Norddeutschand kommen noch klimabedingte Versteifungen hinzu. Der permanente Nieselregen und die steifen Brisen im Nacken prägen eben auch das Gemüt. Was für Ängste das genau sind, die Männer am Tanzen hindern, werde ich dennoch nie verstehen. Ob zu Hause oder in der Disco, wenn ich Musik höre, die ich richtig, richtig gut finde, muss ich einfach anfangen zu tanzen. Immerhin hatte ich so auf der Tanzfläche bei den Mädchen immer freies Feld. Konkurrenzlos konnte ich zumindest für einen Moment die Lust am eigenen Körper mit meinen lose anvisierten Tanzpartnerinnen teilen. Obwohl unverbindlicher, individualisierter Solotanz seit fast 50 Jahren der einzige verbreitete Gesellschaftstanz ist, so ganz entsexualisiert ist auch dieses Gehampel nicht. Vom Tanzvermögen lässt sich immer noch leicht auf die sexuelle Aktivität und Phantasie schließen. Hoffte ich zumindest. Trotz meiner flinken Füße und wackelnden Hüften lief mit den Mädchen im »Mic Mäc« nämlich gar nichts. Die Dörfler fanden mich einfach zu aufdringlich und angeberisch. Leichter war es da schon in der »Mülltonne«. Die Öko-Mädchen waren zwar gebildeteter, aber auch lockerer. Den ersten Sex hatte ich jedenfalls mit einem Mädchen aus der »Mülltonne«.
1983 verirrten sich aus unerfindlichen Gründen auch Stars wie Kurtis Blow und Divine ins »Mic Mäc«-Moisburg. Kurtis Blow, mittlerweile unter anderem Produzent von Run DMC und den Fat Boys, wirkte zwar in seinen kurzen Breakdance-Einlagen nicht mehr ganz geschmeidig, trotzdem fanden wir es großartig, dass ein so berühmter Rapper in eine Gegend kam, in der sich buchstäblich Hase und Igel gute Nacht sagen. Divine, der Star vieler John-Waters-Filme wie »Pink Flamingos«, »Female Trouble«, »Polyester« und »Hairspray«, schockte dann gleich komplett. Scheinbar wie stellvertretend für mich, schrie die 170 Kilo schwere Drag-Queen, begleitet von knallhartem Disco-Beat-Playback, mit voluminöser Reibeisenstimme das irritierte Dorfpu­blikum an: »I’m so beautiful!«