Kann Herbstversteher nicht leiden 

Kastanienmännchenalarm!

Herbstversteher sind Mitläufer-Melancholiker und fast so schlimm wie der Herbst selbst.

Na toll, bald ist schon wieder Herbst. Und schon kommen sie wieder aus ihren Löchern, die Herbstversteher. Und quaken einem die Ohren voll, wie schön das doch sei, wie gemütlich. Romantisch. Kuschelig. Und fühlen sich dabei auch noch total individuell und gegen den Mainstream, als was ganz Besonderes, weil ja jeder den Sommer toll findet, aber den Herbst zu mögen, das ist was Eigenes, da gehört schon was zu. Allerdings. Vollständige Idiotie, zum Beispiel. Was soll gut sein am Herbst?
Die Herbstversteher schwärmen dann davon, durch das bunte, raschelnde Herbstlaub in den Parks zu toben, im goldenen Schein der tiefstehenden Sonne, sie träumen von Kastanienmännchen und Eichelnsammeln. Herbstversteher haben tolle Kindheitserinnerungen. Aber garantiert keine Kinder. Sonst wüssten sie, wie das ist, wenn das kackbraune Herbstlaub sich im Nullkommanichts durch den beständigen Niesel- oder zur Abwechslung auch mal Starkregen in eine glitschige, breiige Masse verwandelt. Und sich vermengt mit der gesamten Hundescheiße, die nun ebenfalls durch die reichliche Wasserzugabe schön einweicht und sich verflüssigt. Ganz zu schweigen von all den Abfällen, den Pappkartonteilen und Papierfetzen, so dass die Parkwege von einer zentimeterdicken organischen Schlickschicht überzogen sind, und durch diese toben die Kinder nämlich. Na, schönen Dank.

Aber die tollen Kastanienmännchen, quieken die Herbstversteher. Und was man da alles Schönes basteln kann! Große Güte. Ich habe Kinder. Ich weiß, was die basteln. Da muss die Erinnerung wirklich schon sehr verblasst sein, wenn man sich das als etwas Schönes vorstellt. Das sind die Herbstversteher erster Ordnung.
Die Herbstversteher zweiter Ordnung wissen tatsächlich, welchen Ramsch Kinder aus dem Biomüll da draußen zusammenstecken, die machen das nämlich selbst auch. Und kochen dazu irgendwelche fauligen Früchte ein, weil das so natürlich ist. Und weil selbstgemacht ja viel besser schmeckt. Das sagen Leute, die auch finden, dass selbstgestrickt viel besser aussieht. Und so sehen sie dann auch aus: wie selbstgestrickte Kastanienmännchen.
Wie ganz sensible selbstgestrickte Kastanienmännchen, denn der Herbst ist natürlich auch die Zeit der tiefen Empfindungen. Wenn die Herbstversteher mit Hagebuttentee in tönernen Kannen auf kleinen Stövchen mit darin befindlichen Duftkerzen am Fenster sitzen und versonnen über die vom Herbststurm gebeutelten Bäume schauen. Und dazu Keith Jarrett hören. Oder Paulo Coelho lesen. Überhaupt – lesen. Im Herbst komme man endlich wieder dazu, etwas zu lesen, sagen die Herbstversteher. Aber was lesen Menschen schon, wenn sie dafür extra eine vorgegebene Jahreszeit brauchen. Frank Schätzing wahrscheinlich, oder Martin Walser.

Im schlimmsten Fall fangen sie gleich selbst noch an, Lyrik zu schreiben. Denn der Herbst ist die Zeit der Melancholie. Des gepflegten Weltschmerzes. Zumindest für alle, die nichts wissen von Melancholie und Schmerz. Der Herbst ist eine Zeit der Nachdenklichkeit für alle, die nicht selber denken. Für Leute, für die auch Karneval eine Zeit ausgelassener Lustigkeit ist. Der Herbst ist die hohe Zeit der Mitläufer-Melancholiker, der Weltschmerzopportunisten, von topangepassten Systemprofiteuren also, die auch mal das Gefühl ahnen wollen, dass da noch irgendwas sein könnte unter ihrer glänzenden, funktionierenden Oberfläche. Aber da ist nichts. Außer blöde grinsenden Kastanienmännchen.
Kurzum: Ich kann den Herbst nicht leiden. Schon deswegen, weil ich sonst das üppige Zeilenhonorar nicht bekäme, das der Redakteur mir in Aussicht gestellt hat, wenn ich den Herbst ordentlich disse. Und die Kohle brauche ich dringend. Damit ich im Herbst wegfahren kann. Ich kenne da ein wunderbares Örtchen im Harz, wo man auf ausgedehnten Spaziergängen durch die herrlich herbstlich gefärbten Wälder mal ein bisschen zu sich selbst kommen und innere Einkehr finden kann. Und vor allem seine Ruhe. Vor all den grauenhaften Herbstverstehern, zum Beispiel. Man hält es sonst ja nicht aus.