Die kabylische Minderheit in Algerien

Wir sind alle Lounès

In Algerien wurden 13 Jahre nach der Ermordung des regimekritischen kabylischen Sängers Matoub Lounès zwei Angeklagte verurteilt. Kritiker glauben jedoch, dass es Auftraggeber gab. Lounès, der ein Gegner sowohl der Islamisten als auch des damals herrschenden Militärregimes war, gilt als Symbolfigur in der Kabylei, die weiterhin von der Regierung benachteiligt wird und von islamistischem Terror betroffen ist.

Matoub Lounès wusste, dass er mit seinen kritischen Liedtexten sein Leben riskierte, als er wegen eines Visums für seine Frau aus dem Exil in Frankreich nach Algerien zurückkehrte. »Ich bin ein Kämpfer. Sie können mich töten, aber sie können mich nicht zum Schweigen bringen«, sang er auf seinem letzten Album »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Am 25. Juni 1998 wurde der kabylische Sänger ermordet. Die regionalistische Partei Vereinigung für Kultur und Demokratie (RCD), der er nahestand, hatte ihm Hilfe bei der Beschaffung des Visums für seine Frau angeboten. Nach seiner Ankunft hatte er die Visumsunterlagen bei einem Führungsmitglied des RCD abgegeben. Auf dem Rückweg zu seinem Haus wurde er in seinem Auto erschossen.
Matoub Lounès ist noch heute einer der beliebtesten Sänger Algeriens, er wurde durch seinen Musikstil – eine Kombination traditioneller kabylischer mit modernen Ins­trumenten wie Bass und Synthesizer – und seine regimekritischen Texte bekannt. Er trat für die Rechte der Kabylen ein und forderte einen laizistischen und demokratischen Staat. In seinen in der Berbersprache Tamazight verfassten Liedern prangerte er po­litische Morde an und nannte Opfer und Täter beim Namen, wie es vor ihm kaum jemand gewagt hatte. »Pouvoir assassin – Mörderherrschaft«, sang er wenige Monate vor seinem Tod auf einem Konzert in Paris. 13 Jahre nach seiner Ermordung wurde nun ein Urteil gesprochen, doch viele Kabylen und ausländische Beobachter bezweifeln, dass der Fall aufgeklärt wurde.
Die Kabylei ist eine wirtschaftlich brachliegende und relativ verlassene Region. »Die meisten Menschen hier leben hauptsächlich von dem Geld, das ein Familienmitglied aus dem Ausland schickt oder in der Vergangenheit in Frankreich erwirtschaftet hat«, erklärt der Soziologe Abdelhamid Mansour der Universität Algier der Jungle World. »Aber heute bekommen die jungen Kabylen nicht mehr so leicht ein Visum wie noch bis in die neunziger Jahre«, fügt er hinzu.
Trotz des westlichen Einflusses durch die Emigrierten hat sich an den alten Sitten wenig geändert. Viele Frauen tragen die traditionelle Kleidung der Kabylen und verlassen ihr Haus nur, wenn sie etwas zu erledigen haben. Die Autorität des männlichen Familienoberhauptes über Frauen und Kinder ist meist absolut.
Nach Angaben der Weltbank sind drei Viertel der unter 30jährigen Kabylen arbeitslos. Die sieben Millionen Kabylen, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung, sind die größte der vier berbersprachigen Gruppen Algeriens. Immer wieder haben sie die gleichberechtigte Anerkennung des Tamazight neben dem Arabischen und kulturelle Autonomie gefordert. Die Zentralregierung in Algier ist diesen Forderungen nie nachgekommen und beantwortete jeg­liche Form politischen Widerstands mit Gewalt.

Auslöser für den letzten großen Aufstand im Jahr 2001 (Jungle World 19/01) war die Ermordung eines Gymnasiasten auf einer Polizeistation. Staatliche Einrichtungen wurden angegriffen, die Gendarmerie schoss, es gab zahlreiche Tote und Verwundete. Die Unruhen griffen auch auf andere Landesteile bis weit nach Ostalgerien über, es wurde deutlich, dass es kein »ethnischer«, sondern ein politischer und vor allem sozialer Konflikt war. In Städten der arabischsprachigen Region riefen Jugendliche: »Wir sind alle Kabylen!« Die sich hier artikulierende Wut resultierte aus dem sozialen Elend, vor allem der Perspektivlosigkeit der Menschen, die weder Arbeit noch Wohnung finden. Im Januar dieses Jahres kam es, zunächst wegen der Einführung ­einer Steuer für Straßenhändler, in Algier zu Protesten. Sie breiteten sich auf andere Städte aus, es folgten Demonstration von Schülern, Studierenden, Arbeits- und Wohnungslosen und Staatsangestellten. Nachdem die Staatsgewalt die Proteste niederschlagen hatte, brachen sie im April ab.
Über die politische Situation und die Situation des Aktivismus in der Kabylei heute sagte Malika Matoub, die Schwester des 1998 ermordeten Sängers, der Jungle World: »Die Kabylei ist seit den Ereignissen von 2001 praktisch auf den Knien. Man muss auch berücksichtigen, wie viel Gewalt die Bevölkerung hier erlebt hat.« Sie meint damit vor allem den Bürgerkrieg, der nach dem Abbruch der ersten demokratischen Wahlen 1991 durch das Militär ausbrach und fast zehn Jahre andauerte. Bis zu 150 000 Menschen wurden dabei getötet.

Obwohl die politischen Proteste abgeflaut sind, ist die Kabylei keine sichere Region. Während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren gerieten die Kabylen bei der Auseinandersetzung zwischen islamistischen Terroristen und dem Militär häufig zwischen die Fronten. Islamisten drangen in Dörfer ein und massakrierten die Bewohner. In einigen Fällen wurden sie vom algerischen Geheimdienst dafür bezahlt, die Bevölkerung einzuschüchtern. Selbstmordattentate und Kidnappings häufen sich in der Kabylei seit Beginn des Ramadan. Die rauen, mit Wäldern durchzogenen Gebiete sind schwerer zu kontrollieren als die Einfahrtsstraßen von Algier, wo seit 2008 Sprengstoffdetektoren stehen. Seitdem konzentrieren sich die Attentate al-Qaidas im islamischen Maghreb (Aqmi) auf die Kabylei. Am 14. August sprengte sich ein Attentäter in seinem Auto in der Nähe des Bahnhofs von Tizi Ouzou in die Luft. Dabei wurden 33 Menschen verletzt und Häuser und Geschäfte zerstört. Kurz vor Beginn des Ramadan gab es drei Selbstmordattentate in Thénia. Nach Angaben der algerischen Zeitung Liberté hat die Aqmi Waffen aus Libyen erhalten.
Im Gerichtsprozess um den Mord an Matoub Lounès, der erst im Juli vor dem Amtsgericht in Tizi Ouzou begann, wurden ein ehemaliger Jihadist und ein Nachbar Matoubs verurteilt. »Es war ein politischer Mord, und die Machthaber weigern sich bis heute, eine Untersuchung über den Tat­hergang, die Schusswunden und die mehr als 78 Einschüsse im Auto durchzuführen«, sagte seine Schwester Malika. Sie und Lounès’ Frau Nadia glauben, dass der RCD die jihadistischen GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen), die inzwischen zerschlagen wurden, mit dem Mord beauftragt hat. Die Partei stand in engem Kontakt mit Lounès und wusste, wo er sich aufhielt. Malika beruft sich auf einen Polizeibericht, in dem steht, dass »eine terroristische Organisation den Mord verübt hat«. Die Täter seien wiedererkannt worden, doch von wem, ist dort nicht zu erfahren. In einer Radiosendung des französischen Senders Beur FM aus dem Jahr 2002 äußerte sie die Vermutung, dass der derzeitige Vorsitzende des RCD, Said Saadi, der Auftraggeber gewesen sein könnte. Er und weitere Mitglieder des RCD wurden aber nicht als Zeugen zum Prozess geladen. Nach der Radiosendung verklagte die Familie Saadis Malika wegen Verleumdung.
Der RCD ist eine Oppositionspartei, hat aber 1991 dem Abbruch der Wahlen durch das Militär zugestimmt und ist 1999 einer Koalitionsregierung beigetreten. Viele Algerier glauben, dass die Partei in dieser Zeit eng mit den Machthabern zusammenarbeitete. Daher auch die Vermutung, dass Mitglieder der RCD-Führung den Mord in Auftrag gaben. Malika erwartet von dem Mordprozess keine Aufklärung des Falls. »Ohne Untersuchung kann kein Schuldiger gefunden werden«, kritisiert sie. »Vielmehr handelt es sich um einen Schauprozess, in dem es um die beiden Verdächtigen geht, die in Untersuchungshaft sitzen. Die Regierung will uns vorgaukeln, es gäbe in Algerien einen funktionierenden Rechtsstaat.« Seit 1999 saßen die nunmehr Verurteilten in Untersuchungshaft. Sie wurden für schuldig befunden und zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die sie bis auf einige Monate abgesessen haben.