Der Papst kommt heim ins Reich

Der eilige Vater

In den sechs Jahren seiner Amtszeit hat Benedikt XVI. bewiesen, dass er wirklich ein deutscher Papst und noch reaktio­närer als sein Vorgänger ist.

Einen Mittagsschlaf gönnt sich der Papst offenbar. Zumindest ist im Terminplan für seinen Besuch in Deutschland nach dem »Mittagessen mit dem Päpstlichen Gefolge«, das am 22. September um 13.30 Uhr beginnt, fast drei Stunden lang keine Aktivität vermerkt. Um 16.15 Uhr hält Benedikt XVI. dann eine Rede im Bundestag, doch die Predigt über die christliche Leitkultur Europas wird kurz ausfallen müssen, da er eine Stunde später Repräsentanten der jüdischen Gemeinde trifft. Um 18 Uhr wird der eilige Vater bereits im Olympiastadion erwartet. Sollte er sich mehr Zeit für den Bundestag oder den Dialog der Religionen nehmen wollen, wird man dort aber wohl nicht ohne ihn anfangen.
Obwohl vom Kirchenstaat, den sich der Klerus im Mittelalter durch Intrigen und Fälschungen ergaunerte, nur ein Areal von 0,44 Quadratkilometern übriggeblieben ist, wird der Papst auch als Staatschef empfangen. Mit Demokratisierungsforderungen wird sich das Oberhaupt der letzten Monarchie Europas ohne Verfassung und Parlament jedoch nicht auseinandersetzen müssen. Wenn am Tag nach seiner Rede der Bundestag über die europäische Währungspolitik debattiert, wird wohl niemand den Papst um einen Beitrag zur Bewältigung der Schuldenkrise bitten, obwohl auch der Vatikan auf der Grundlage eines Vertrags mit Italien zur Euro-Zone gehört.
Mit einer solchen Vorzugsbehandlung konnten die Päpste des Mittelalters nicht rechnen. Wenn sie reisten, galt es meist, schwierige diplomatische Verhandlungen zu führen. Es konnte vorkommen, dass unzufriedene Gesprächspartner einen Gegenpapst aufstellten, im Jahr 1303 verpasste der Adlige Sciara Colonna Bonifaz VIII. sogar eine Ohrfeige. Eine PR-Tour war eine Papst­reise damals nicht, auch der berühmte öffentliche Aufruf zum Kreuzzug von Urban II. im Jahr 1095 kam nur zustande, weil der Papst ohnehin gerade auf einer Synode in Clermont weilte.
Erst Johannes Paul II. entfaltete eine rege Reisetätigkeit. Er absolvierte 129 Auslandsreisen. Benedikt XVI., der erst 21 Staatsbesuche vorweisen kann, muss sich anstrengen, wenn er den Rekord seines Vorgängers brechen will. Auch bei den Heiligsprechungen liegt er zurück. Hier dürfte der Vorsprung von Johannes Paul II., der 483 Menschen heiligsprechen ließ, kaum aufzuholen sein. In den Jahren zwischen 1588, als Sixtus V. den Prozess der Heiligsprechung institutionalisierte, und dem Amtsantritt Johannes Paul II. war nur 231 Menschen diese Ehre zuteil geworden.
In einer Hinsicht aber hat Benedikt XVI. seinen Vorgänger bereits übertroffen. Er ist noch reaktionärer als Johannes Paul II., und das will schon etwas heißen. Die Bezeichung »Gottes Rottweiler« verdankt Benedikt XVI. nicht bösartigen britischen Boulevardjournalisten. Er hat sie sich als Präfekt der Glaubenkongregation, der Nachfolgeorganisation der Inquisitionsbehörde, durch besondere Strenge redlich verdient. Benedikt kann somit als moderner Nachfolger der domini canes (Hunde des Herrn) gelten, der Dominikaner, die sich im Mittelalter mit besonderem Eifer der Ketzerverfolgung widmeten.
Die katholische Lehre zu hüten und zu vertreten, ist der Job des Papstes. Die Kritik an der Bewahrung vorbürgerlicher Doktrinen muss der Institution gelten. Selbst die bedeutendste Reform seit Jahrhunderten, das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), änderte nichts an den Glaubenssätzen. Die Kirche entschied sich nur, die Befolgung dieser Glaubenssätze nicht mehr mit den Mitteln weltlicher Macht zu erzwingen und Andersgläubige nicht mehr als Feinde zu betrachten.
Wie die Konzilsbeschlüsse ausgelegt werden, entscheidet in der zentralistisch und absolutistisch geführten katholischen Kirche der Papst. Bereits Johannes Paul II. war alles andere als ein Freund des gesellschaftlichen Fortschritts. Dass er eine zentrale Rolle beim Sieg über den Realsozialismus spielte, ist eine aus verschiedenen Gründen von religiösen Reaktionären und Stalinisten verbreitete Legende (Jungle World 32/10). Doch Johannes Paul II. war nicht nur Antikommunist, sondern ein Feind jeder linken Bestrebung, gerade auch innerhalb der Kirche (siehe Seite 13), und ein Verfechter der restriktiven katholischen Sexualmoral. Er entschuldigte sich jedoch unter anderem für die Ketzerverbrennungen, die bei der Eroberung Lateinamerikas begangenen Verbrechen und die mangelnde Bereitschaft vieler Katholiken, während des Holocaust den Juden zu helfen. Unter seinem Pontifikat nahm der Vatikan im Jahr 1993 diplomatische Beziehungen zu Israel auf, als erster Papst besuchte er eine Moschee.

Man mag solche Gesten für unzureichend und verlogen halten, zumal auch Johannes Paul II. nicht auf die Idee kam, die Zusammenhänge zwischen den von der Kirche zu verantwortenden Verbrechen und ihrer Doktrin zu untersuchen. Dass Benedikt XVI. nicht einmal solche Gesten für notwendig hält und den versöhnlichen Aussagen seines Vorgängers sogar widerspricht, belegt, dass er eine noch reaktionärere Kirchenpolitik durchsetzen will.
Damals noch als Joseph Ratzinger bekannt, geißelte er im Jahr 2005, kurz vor dem Antritt seines Pontifikats, den »nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes«, das »von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag«. Es war daher kein Patzer, dass er 2007 in Brasilien sagte: »Die Verkündung Jesu und des Evangeliums brachte in keinster Weise eine Entfremdung der vorkolumbianischen Kultur mit sich, auch nicht die Besetzung oder Auferlegung durch eine fremde Kultur.«
Benedikt XVI. trifft sich in Deutschland zwar mit Juden, Muslimen und Protestanten, sagte jedoch weit deutlicher als sein Vorgänger, was er von ihnen hält. Den Protestanten beschied er, sie bildeten keine »Kirchen im eigentlichen Sinn«, und den Islam hält er – im Gegensatz zum Katholizismus – nicht für eine Religion der Vernunft. Die stärksten Veränderungen gab es jedoch im Verhältnis zum Judentum.
Zu den Ergebnissen des Zweiten Vatikanischen Konzils gehörte auch der Beschluss, die Juden nicht mehr als »von Gott verworfen oder verflucht« darzustellen. Das Christentum habe nicht zu einem Widerruf ihres Bundes mit Gott geführt, folglich wird ihrer Religion eine Existenzberechtigung zugestanden. Dementsprechend wurde am Karfreitag nicht mehr explizit für die Bekehrung der Juden gebetet. Im Jahr 2008 gestattete Benedikt XVI. diese »Fürbitte« wieder.

Er setzt sich auch energisch für die Seligsprechung von Pius XII. ein, der zum Holocaust schwieg. Pius XII. wurde bereits ein »heroischer Tugendgrad« zugesprochen, und Pater Peter Gumpel, der vatikanische Referent für das Seligsprechungsverfahren, war unverschämt genug, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zu kritisieren, weil dort auf einer Schautafel das mangelnde Engagement von Pius XII. zur Rettung der europäischen Juden dokumentiert wird.
Dass Johannes Paul II., in seiner Jugend ein antifaschistischer Widerstandskämpfer, Benedikt XVI. hingegen ein Hitlerjunge war, ist daher nicht nur eine unbedeutende biographische Randnotiz. Als »Kind des deutschen Volkes« bezeichnete sich Benedikt XVI. im Jahr 2006 ausgerechnet in Auschwitz-Birkenau. Eine »Schar von Verbrechern« habe »unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht«. Die Legende, eine Horde brauner Aliens hätte unschuldige Deutsche verführt, ergänzte er um den Mythos, die nationalsozialis­tischen Verbrechen seien vor ­allem eine Folge der Gottlosigkeit gewesen, als hätte es nie einen christlichen Antijudaismus und ein Konkordat mit Hitler gegeben, in dem die Geistlichen ein sonntägliches »Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches« versprachen.
Beachtlichen Eifer zeigte Benedikt XVI. auch bei der Rehabilitierung der rechtsextremen Pius-Bruderschaft, der der Holocaust-Leugner Richard Williamson angehört. Die Pius-Bruderschaft erkennt die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht an, kirchenrechtlich betrachtet handelt es sich um Schismatiker, die eigentlich erst nach einem Widerruf und einer Reuebekundung rehabilitiert werden können. Benedikt XVI. dekretierte jedoch eine Aufhebung der Kirchenstrafen ohne Gegenleistung. Die »väterlichen Empfindungen«, die ihn nach Angaben des Vatikan so milde stimmten, kommen allerdings nicht auf, wenn es um die Exkommunikation von katholischen Befürwortern einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetze geht.
Das gütige Lächeln Benedikt XVI. sollte auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein kühl kalkulierender Machtpolitiker ist. Gemeinsam mit Tarcisio Bertone, der als Kardinalstaatssekretär der zweitmächtigste Mann in der katholischen Hierarchie ist, sorgt er dafür, dass freiwerdende Posten mit ausgewiesenen Reaktionären besetzt werden. So wurde der relativ liberale belgische Kardinal Godfried Danneels, der unter anderem die Benutzung von Kondomen zum Schutz vor HIV befürwortete, im vergangenen Jahr von dem erzkonservativen André-Mutien Léonard abgelöst, der Homosexuelle als »abnormal« bezeichnete.
Ratzinger und Bertone waren auch die Hauptverantwortlichen für die Geheimhaltung der von Geistlichen begangenen Sexualverbrechen. Ein von ihnen im Jahr 2001 unterzeichneter Brief erteilt die Anweisung, alle Verdachtsfälle als »päpstliches Geheimnis« zu behandeln, die Schweigepflicht endet erst zehn Jahre nach der Volljährigkeit des mutmaßlichen Opfers, wenn eine strafrechtliche Verfolgung in der Regel nicht mehr möglich ist. Seit dem vergangenen Jahr ist zwar vorgesehen, die »staatlichen Rechtsvorschriften bezüglich einer Anzeigepflicht für solche Verbrechen immer zu beachten«, sofern damit das Beichtgeheimnis nicht verletzt wird. Doch eine solche Anzeigepflicht existiert in den meisten Staaten nicht, und es bleibt offen, was der Vatikan unter einer Zusammenarbeit mit den »zuständigen Stellen unter Beachtung der jeweiligen Kompetenzen« versteht.

Staatliche Unterstützung entgegenzunehmen, gilt dem Vatikan hingegen als gottgegebenes Recht. Doch insbesondere der Umgang mit mutmaßlichen geistlichen Sexualverbrechern hat zu Zerwürfnissen geführt. Zwar nicht im vermeintlich säkularen Deutschland, aber unter anderem im als erzkatholisch geltenden Irland. Dort kritisierte Premierminister Enda Kenny im Juli den »Narzissmus, der bis zum heutigen Tag im Vatikan dominiert«.
Dennoch ist der Papst weiterhin populär, seine als Popevents inszenierten Reisen ziehen oft noch ein Millionenpublikum an. Doch geht es ihm ähnlich wie dem Dalai Lama. Man schätzt ihn als eine Art spirituelle Quelle für was auch immer, ohne sich allzu sehr um seine Gebote zu kümmern. Gefährlich ist er vor allem, wenn die von ihm angestrebte Rechristianisierung von einflussreichen politischen Kräften unterstützt wird, wie es derzeit in Deutschland der Fall ist.
Andererseits muss man einräumen, dass so ein Papst-Event selbst bei gestandenen Ungläubigen Zweifel wecken kann. Wenn man hört, dass die Abschlussmesse in Madrid am 20. August von einem Gewitter unterbrochen und das Redemanuskript des Papstes vom Winde verweht wurde, könnte man fast glauben, dass da oben womöglich doch jemand ist.