Gott und der Kapitalismus

Gute Götter, schlechte Götter

Das Hauptterrain derjenigen, die nach der Rechtfertigung Gottes fragen, ist heute die bürgerliche Ökonomie.

Die Frage, wie ein angeblich allmächtiger Gott eine so schlechte Welt schaffen konnte, ist nicht neu. Das war etwa am 1. November 1755 ein ganz großes Thema. Damals wurde Lissabon durch ein Erdbeben weitgehend zerstört. Das Ereignis erschütterte den Philosophenglauben, die Menschen lebten in der »bestmöglichen aller Welten«, und warf erneut das christliche Theodizeeproblem auf, also die Frage, wie ein guter Gott solche Weltübel zulassen kann. Voltaires gegen Leibniz gerichtetes »Gedicht über die Katastrophe von Lissabon« trägt den schönen Untertitel: »Untersuchung des Grundsatzes: ›Alles ist gut‹.«
Das Thema der Theodizee ist sicherlich eine gute Denkschule. Nirgends sonst ist jemals ein so scharfsinniger Unsinn entstanden. Zum Beispiel das Argument, die Welt müsse schlecht sein, weil sie sonst gottgleich wäre. Kirchenkritiker hoffen, den Gottesglauben mit dem Hinweis auf die schlechte Welt vorzuführen, aber am Ende gewinnen doch die Klerikalen, weil die Fragestellung die Gottesexistenz letztlich bejaht. Das sieht man zum Beispiel an dem Beitrag von Albert Camus zum Thema: »Entweder ist Gott gut, dann ist er nicht allmächtig; oder aber er ist allmächtig, dann ist er nicht gut.« Die einzige lustige Antwort zur Theodizeediskussion kommt von Platon, der Gott aus der Schusslinie nahm, indem er einen von Gott outgesourcten Handwerker erfand – den Demiurgen –, der im Auftrag von Gott die Welt erschaffen und dabei geschlampt habe.
Die ewige Theodizeefrage spielte noch einmal nach dem Holocaust eine gewisse Rolle: »Wie konnte Gott einen solchen Massenmord zulassen?« Einen richtigen Schaden hat der christliche Aberglaube aber auch dadurch nicht genommen (in der jüdischen Religion hat die Theodizee eine geringere Bedeutung, weil Gott dort ein ambivalenter Typ ist, der ohnehin ziemlich böse sein kann). Dass das Erdbeben von Lissabon Auswirkungen auf die europäische Aufklärung hatte, ist nachvollziehbar, aber im Zusammenhang mit der Shoah ist eine solche »Konstruktion eines Sinnes« (Adorno) ganz unangebracht: »Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete.« (Adorno, »Negative Dialektik«)
Mit dem Thema der Theodizee lässt sich gegen den heutigen ungeglaubten Aberglauben nichts gewinnen. Schon gar nicht als Kommentar zum Papstbesuch. Vor allem aber: Das Hauptterrain der Theodizee ist heute die bürgerliche Ökonomie, die sich durchweg als aggressive Rechtfertigungslehre kapitalistischer Praktiken und neoliberaler Glaubenssätze präsentiert. Für die Mainstream-Ökonomen und andere Politikberater schafft »der Markt« heute so fraglos die beste aller möglichen Welten (Bourdieu spricht von einer »Theodizee der Kompetenz« im VWL-Milieu), dass Leibniz, der die von Gott geordnete Welt für die beste aller möglichen Welten hielt, dagegen wie ein Zweifelnder wirkt.
Eigentlich müssten die gegenwärtigen Finanz- und Schuldenkrisen auf den Marktwirtschaftsglauben genauso zersetzend wirken wie das Erdbeben von Lissabon auf den damaligen »Alles ist gut«-Glauben. Doch das ist offenbar nicht der Fall. Wie schon 2008/2009 gibt es zwar eine gewisse Katerstimmung, aber nach wie vor gilt, dass Pannen und Pleiten einzelne Institutionen in Frage stellen, aber nicht das kapitalistische System. Eine »zweite Aufklärung«, die gerade mit Blick auf den marktwirtschaftlichen Aberglauben notwendig wäre, findet nicht statt. Davon zeugt natürlich auch der Papstbesuch.