Der Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien

Beide wollen Meer

Seit 20 Jahren streiten Slowenien und Kroatien um den genauen Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten – vor allem um den auf offener See.

Viele Touristen verbinden Slowenien in erster Linie mit Bergen, mit den Julischen Alpen, dem Triglav, mit Wandern, Klettern und Wintersport. Doch das kleine Land liegt nicht nur in den Bergen, sondern auch an der Adria, am Mittelmeer. Allerdings gehört Slowenien nur ein Küstenstreifen von gerade einmal 46 Kilometern zwischen der italienischen Stadt Triest und der größtenteils kroatischen Halbinsel Istrien.
Strandtouristen bevorzugen daher Kroatien mit seiner über 1 000 Kilometer langen Festlandküste. Damit die Touristen nicht einfach durchbrausen, hat Slowenien nicht nur eine Autobahnmaut erhoben, sondern verzichtet auch seit Jahren konsequent auf den Ausbau des letzten Teilstücks der Autobahn Richtung Kroatien. Dabei bietet die slowenische Küste für Touristen nicht allzu viel: zwei hübsche Städtchen, Izola und Piran, und bei Portorož einen einzigen größeren Strand. Und dann liegt an diesem kleinen Adria-Abschnitt noch die Stadt Koper mit dem einzigen Handelshafen Sloweniens. Zwischen den Hoheitsgewässern Kroatiens und Italiens verfügt Slowenien über einen kleinen Korridor, der dem Hafen Zugang zu internationalen Gewässern verschafft.

Über diese unsichtbare Grenzziehung in den Gewässern der Bucht von Piran streiten sich Kroatien und Slowenien, seit mit dem Zerfall Jugoslawiens vor 20 Jahren aus einer innerjugoslawischen Verwaltungslinie eine Grenze zwischen zwei souveränen Staaten geworden ist. Neben verschiedenen eher unbedeutenden Grenzkonflikten entlang des Flusses Mura stellt der Verlauf der Meeresgrenze das Hauptproblem für die Beziehungen zwischen den beiden ehemals jugoslawischen Staaten dar. Für Slowenien geht es immerhin um den freien Zugang zum einzigen Seehafen. Gegen die Interessen Sloweniens als Meeresanrainer stehen kroatische Befürchtungen, territoriale Zugeständnisse könnten als ­falsches Signal gegenüber den südlichen Nachbarn verstanden werden.
Im Jahr 2001 standen beide Staaten kurz vor einer Lösung des Konflikts, als die damaligen Ministerpräsidenten Janez Drnovšek und Ivica Račan einen Kompromiss aushandelten, der Slowenien den Zugang zu internationalen Gewässern gewährte und im Gegenzug die Abgabe slowenischer Gebiete an Kroatien vorsah. Der Vorschlag scheiterte auf Druck der kroatischen Öffentlichkeit im kroatischen Parlament und beendete somit vorerst die Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung. Es folgten auf beiden Seiten Anschuldigungen, die Hoheitsgewässer verletzt zu haben. Außerdem richtete die kroatische Regierung eine »ökolo­gische Schutzzone« auf dem gesamten kroatischen Meeresgebiet ein.
Der Konflikt kulminierte am 18. Dezember 2008, als Slowenien unter dem derzeitigen Ministerpräsidenten Borut Pahor ein Veto gegen weitere Verhandlungen zur Aufnahme Kroatiens in die EU einlegte. Teile der kroatischen Bevölkerung reagierten mit dem Boykott slowenischer Waren, während Ministerpräsident Ivo Sanader die Verletzung der Prinzipien der Solidarität, der Gemeinsamkeit und der gutnachbarschaftlichen Beziehungen beanstandete, »auf denen die Europäische Union und ganz Europa gegründet sind«. Die Festnahme eines Kroaten mit fünf Handgranaten im Gepäck an der slowenischen Grenze verschärfte kurzzeitig die Krise. Nach slowenischen Angaben plante der Mann einen Anschlag auf den slowenischen Ministerpräsidenten Pahor.

Der EU-Ratsvorsitzende Bruno Le Maire drängte auf eine bilaterale Lösung des Problems. Am 10. September 2009 kündigte Borut Pahor die Aufhebung des Vetos an und verwies auf Gespräche mit seinem neuen kroatischen Amtskollegen Jadranka Kosor, nach denen sich ein internationales Schiedsgremium mit der Grenzfrage beschäftigen solle. Der Einigungsvertrag über ein Schiedsgericht wurde von beiden Seiten am 4. November 2009 in Stockholm unterzeichnet. Das kroatische Parlament ratifizierte das Abkommen mit einer Zweidrittelmehrheit. Im slowenischen Parlament scheiterte es jedoch, weshalb sich Pahor gezwungen sah, ein Referendum auszuschreiben. Dieses wurde bei einer Wahl­beteiligung von nur 48 Prozent mit knappen 51,5 Prozent für die Lösung des Konflikts durch ein Schiedsgericht entschieden. Pahor, der seine politische Zukunft mit dem positiven Ausgang verknüpft hatte, wertete das Ergebnis als Beweis für die »politische Reife« seines Landes und nannte das Referendum »ein kleines Fenster der his­torischen Möglichkeit«.
Mit der Entscheidung, ein Schiedsgericht über die Frage der Grenzziehung entscheiden zu lassen, rückt die Lösung des Konflikts in greifbare Nähe. Dennoch stellt sich die Frage, welche Reaktionen in Slowenien zu erwarten sind, sollte eine Entscheidung zugunsten der kroatischen Ansprüche gefällt werden. Zudem ist die Frage der Grenzziehung keineswegs nur eine Auseinandersetzung um eine administrativ-territoriale Trennlinie. In der Wahrnehmung des jungen Slowenien ist sie auch eine kulturelle. Sie symbolisiert die Abkehr vom Rest Ex-Jugoslawiens hin zu Westeuropa und knüpft dabei an ältere historische Zugehörigkeiten an. Die bis 1918 vorhandenen ökonomischen, kulturellen und politischen Verbindungen nach Wien und Budapest sowie die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa bilden heute Anknüpfungspunkte bei der Konstruktion einer nationalen Identität. Ein Nachgeben bei der Fest­legung dieser Grenze würde demnach nicht nur den Zugang zu internationalen Gewässern verhindern, es würde auch Sloweniens Abgrenzung in Richtung Zagreb und Belgrad in Frage stellen. Dies allerdings ist durch den in zwei Jahren zu erwartende Beitritt Kroatiens zur EU eh eine anachronistische Sicht der Dinge. Dass am Ende eine pragmatische Lösung stehen wird, ist daher, unabhängig von Befindlichkeiten auf beiden Seiten, doch ziemlich wahrscheinlich.