Die Aufklärung des Falls Andrea Wolf in der Türkei

Das Licht bleibt aus

Menschenrechtsaktivisten setzen sich für eine Aufklärung der Umstände des Todes von Andrea Wolf ein. Die deutsche PKK-Kämpferin wurde 1998 vom türkischen Militär erschossen. Ihr Fall gilt als exemplarisch für die in dieser Zeit begangenen Kriegsverbrechen.

»Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen würden«, schrieb Andrea Wolf am 1. Mai 1997 in den Bergen in ihr Tagebuch. Die linke Aktivistin war seit drei Monaten bei der PKK. Nach einer Ausbildung im Libanon hatte sie sich deren Frauenbrigade, dem Freien Frauenverband Kurdistans (YAJK), angeschlossen.
Ende der neunziger Jahre erreichte die Gewalt im Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK ihren Höhepunkt. Ein Teil der türkischen Armee unterstützte paramilitärische Einheiten, die wie Todesschwadrone in Lateinamerika Oppositionelle beseitigten. Vor allem im kurdischen Südosten der Türkei verschwanden Tausende Menschen. Der türkische Menschenrechtsverein IHD vermutet, dass es zwischen 40 000 und 60 000 waren. Der PKK nahestehende und linke Aktivisten, Politiker, Schriftsteller, Journalisten, Anwälte, Ärzte und Lehrer sind darunter. Aber auch einfache Schäfer wurden von paramilitärischen Einheiten in den Bergen erschossen, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Der Kampf war auch ein Propagandakrieg. Die PKK verübte ebenfalls Strafexekutionen an kurdischen Dorfschützern, die mit der türkischen Armee kooperierten, und tötete Lehrer, die in den kurdischen Regionen Türkisch unterrichten sollten. Es kam zu einer weiteren Eskalation der Gewalt. Auch die türkische Kontraguerilla beging nun Attentate, die den PKK-Aktionen ähnelten. In den Massenblättern wie der Zeitung Hürriyet erschienen große Homestories über die verzweifelten Witwen hingerichteter Lehrer oder im Kampf gefallener junger Soldaten.
»Andrea interessierte die Rolle der kurdischen Frauen in diesem Kampf«, erzählt Michael Buckman bei einer Pressekonferenz in der Istanbuler Niederlassung des türkischen Menschenrechtvereins am 14. September. Er ist Mitglied einer Delegation, die das Massengrab in den Bergen von Van besuchen möchte, in dem Andrea Wolf verscharrt worden sein soll. Seit 13 Jahren versucht er mit anderen Freunden von Andrea Wolf, die Ereignisse um ihren gewaltsamen Tod aufzuklären und dafür zu sorgen, dass das öffentliche Interesse nicht nachlässt. Andrea Wolf war Aktivistin in der antiimperialistischen Bewegung und der autonomen Szene. Nachdem die deutsche Staatsanwaltschaft ihre Verhaftung wegen einer angeblichen Teilnahme am RAF-Anschlag auf das Gefängnis JVA Weiterstadt, der im Jahr 1993 stattfand, anordnete, tauchte sie unter. Die deutschen Behörden stellten das Verfahren später ein, Wolf aber setzte sich ab. Sie landete Ende 1996 bei der PKK und nahm den Namen »Ronahi« (Licht) an.
Immer wieder beschreibt sie in ihrem Tagebuch die Unmenschlichkeit dieses Krieges: »Bei einem Gefecht haben sich sechs Frauen in die Luft gesprengt. Als ihnen die Munition ausging, haben sie es vorgezogen zu sterben, als den türkischen Soldaten in die Hände zu fallen.« Die Munition ging ein halbes Jahr später wohl auch den 41 PKK-Kämpfern aus, unter denen sich die damals 33jährige Andrea Wolf am 28. Oktober 1998 befand. Die türkische Armee hatte eine Großoffensive in der Region eingeleitet, fünf Einheiten durchkämmten die Berge im Grenzgebiet zum Irak und zu Syrien. Sie wurden von Kampfhubschraubern unterstützt.

Drei Tage lang dauerten die Gefechte, berichtete Welat Yilmaz, ein Überlebender, später dem Menschenrechtsverein. Er habe sich zusammen mit drei anderen PKK-Kämpfern in einer Höhle versteckt und gehört, wie mehrere Frauen sich den Sicherheitskräften ergaben, darunter auch Andrea Wolf. Die vier PKK-Kämpfer in der Höhle lauschten einem Streitgespräch zwischen einem Leutnant namens Sabri und Andrea Wolf. Der Offizier beschimpfte die Gefangene als blonde Hure aus Deutschland, provozierte und demütigte sie. Die in der Höhle Verbliebenen hörten Schläge, Schmerzensschreie und schließlich Schüsse. Sie konnten die Höhle erst am nächsten Tag verlassen, nachdem das Militär abgezogen war. Die Leichen von vier Frauen, darunter Andrea Wolf, fanden sie verstümmelt vor, berichteten Welat Yilmaz und drei weitere PKK-Kämpfer später.
Doch als Terroristen gelten sie vor allem bei offiziellen Stellen in der Türkei nicht als glaubwürdig. Bis heute bestreiten die türkischen Behörden diese Vorfälle. Andrea Wolfs Freundeskreis in München erfuhr bald durch Kontaktpersonen in der Türkei von den Vorwürfen gegen die Armee. Das in Deutschland eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde jedoch bald eingestellt. Das Auswärtige Amt bat die türkische Regierung um eine Stellungnahme. Es folgte die offizielle Erklärung, dass die Behörden nichts über den Verbleib von Wolf wüssten. Auf Antrag des Münchner Freundeskreises und Lilo Wolfs, der Mutter der Getöteten, beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Fall und verurteilte die Türkei 2010 wegen Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention. Die Türkei habe keine adäquate und effektive Untersuchung angestrengt, kritisierten die Richter in Strasbourg. Den Vorwurf, türkische Soldaten hätten die Unbewaffnete getötet, sahen sie jedoch nicht als erwiesen an.
Anfang dieses Jahres berichtete der türkische Menschenrechtsverein von einem neuen Zeugen. Dieser soll aus dem Kreis der Dorfschützer kommen, einer von der türkischen Armee bewaffneten kurdischen Miliz, die die PKK von den Dörfern fernhalten soll. Der an der Militäroperation beteiligte Dörfschützer soll die Ausagen der PKK-Kämpfer bestätigt haben. Die Frauen seien nach ihrer Festnahme misshandelt und außergerichtlich hingerichtet worden. Das wäre als Kriegsverbrechen ein klarer Verstoß gegen das internationale Recht. Bislang hat dieser Dorfschützer allerdings Angst, seine Identität preiszugeben und an die Öffentlichkeit zu treten. Die Anwältin Eren Keskin und der Freundeskreis Andrea Wolfs versicherten auf der Pressekonferenz in Istanbul, entsprechende Aussagen lägen ihnen vor. Keskin wies auf die Wichtigkeit des Falls für die Aufklärung auch anderer Kriegverbrechen hin: »Andrea Wolf ist ein Fall von Tausenden, die in Massengräbern verscharrt wurden und deren Todesumstände unbekannt sind.« Doch die Reise der Delegation nach Van zeigt, wie wenig Interesse die Türkei an einer Klärung der Sachverhalte hat.
Mitglieder der Internationalen Untersuchungskommission zum Fall Andrea Wolf, Anwälte sowie die Bundestagsabgeordneten Nicole Gohlke und Andrej Hunko von der Partei »Die Linke« machten sich Mitte September auf den Weg. Trotz vorheriger Genehmigung der Reise wurde die Gruppe in den Bergen von Spezialeinheiten des Militärs gestoppt. Die PKK sei sehr aktiv in der Region, deshalb könne das türkische Militär sie leider nicht passieren lassen, erklärte ein Offizier. Der habe seine Genugtuung kaum verbergen können, ärgert sich der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Van, Sami Görendag, im Gespräch mit der Jungle World.

Görendag führte die Delegation zu einem anderen Massengrab auf der Alm Görentaş ganz in der Nähe. Es ist eines von zehn, die der IHD in den vergangenen Monaten entdeckt hat. Es haben bereits Untersuchungen stattgefunden. Ein Offizier ist als Straftäter identifiziert und verurteilt worden. Viel ist das nicht, aber es ist ein Anfang.
Ein großes Hindernis für den Frieden in der Region sind allerdings die fortwährenden Anschläge und Entführungen seitens der PKK. Sie liefern den türkischen Sicherheitskräften immer wieder Gründe für die Abriegelung ganzer Landstriche. Die Delegation hat nun erneut Klage bei der Staatsanaltschaft von Çatak in der Provinz Van erhoben und fordert, dass das Massengrab geöffnet wird. Anhand von gerichtsmedizinischen Untersuchungen könnten die Identität der Begrabenen sowie ihre möglichen Todesumstände ermittelt werden.