Proteste gegen zwei entlassene Sexualstraftäter in Sachsen-Anhalt

Insel im Verfolgungseifer

In einem Dorf in Sachsen-Anhalt brodelt der Zorn. Denn im Ort wohnen seit kurzem zwei Männer, die wegen Sexualstraftaten inhaftiert waren und kürzlich aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden. Nun versuchen die Dorfbewohner, die beiden zum Wegzug zu zwingen.
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In Insel gibt es eine lange Straße, die den Westen des Dorfs mit dem Osten verbindet. An diesem Freitag brennt in keinem der Häuser hier Licht. Kein Laut ist zu hören, kein Mensch ist zu sehen. Am Ende der Straße wird es belebter. Über 100 Menschen stehen an einer Einfahrt, die Stimmung ist wie auf einem ostdeutschen Volksfest: ausgelassen und aggressiv. Einige lachen, andere erzählen vom Urlaub an der türkischen Riviera, viele Kinder tollen zwischen den Erwachsenen herum. Wieder andere machen mit Handtrommeln, Küchengeschirr, Rasseln und Tröten ohrenbetäubenden Lärm und tragen Schilder vor sich her, auf denen etwa steht: »Die Politik hat versagt! Bewachte Wohnbereiche schaffen für Ex-Sex-Straftäter!« Oder: »Wir fordern lebenslange Haft für Sex-Straftäter! Denkt an die Opfer!«

Vor etwa sechs Wochen wurde die Vergangenheit von Martin P. und Gerhard S.* in Insel, einem Ortsteil von Stendal in Sachsen-Anhalt, bekannt. Seither protestieren die meisten der 470 Einwohner gegen die Anwesenheit der neuen Nachbarn. Die heute 54- und 65jährigen Männer wurden beide in den achtziger Jahren für jeweils drei Vergewaltigungen zu fünf Jahren Haft verurteilt und saßen bis Oktober 2010 im baden-württembergischen Bruchsal in Sicherungsverwahrung, wie das Schwäbische Tagblatt berichtete.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügte Deutschland im Dezember 2009 wegen seiner Gesetzgebung zur Sicherungsverwahrung, die lange nach einer Verurteilung angeordnet werden konnte. Kritisiert wurde auch, dass es für Betroffene »schwer zu erfüllen« sei, ihre Ungefährlichkeit nachzuweisen und somit die Aussicht auf eine Entlassung zu haben. Der Bundesgerichtshof zog in diesem Jahr nach und verordnete der Bundesregierung erhebliche Nachbesserungen in Sachen Sicherungsverwahrung. Nach den Urteilen kamen in den vergangenen Monaten ehemalige Häftlinge wie P. und S. frei. Die beiden wurden nach ihrer Entlassung zunächst als gefährlich eingestuft und ständig von der Polizei beobachtet. Im April hob das Landeskriminalamt Baden-Württemberg in Abstimmung mit der Justiz die Überwachung auf, da die ehemaligen Häftlinge eine Therapie gemacht und sich vorbildlich verhalten hatten. Ein »herausragendes Gefahrenpotential« besteht nach Informationen des Schwäbischen Tagblatts nicht mehr.
Die Einwohner in Insel sehen das ganz anders. »Das sind lebende Zeitbomben«, sagt etwa Frank Sörgel. Wenn es seine Zeit zulässt, demonstriert der 49jährige Hausarzt mit anderen Dorfbewohnern vor dem Haus der beiden Männer, um ihren schnellstmöglichen Wegzug zu erzwingen. Seit Mitte September halten die Inseler dreimal in der Woche Kundgebungen ab, auf denen manchmal über 100 Teilnehmer gezählt werden. 40 Nazis der »Kameradschaft Salzwedel« protestierten schon einmal mit den Inselern, wie die Mitteldeutsche Zeitung berichtete.
Auch Carmen S. aus dem benachbarten Möhringen, die ihren vollen Namen aus Angst vor den ehemaligen Häftlingen nicht nennen will, ist an diesem Freitag gekommen. »Ich fühle mich gestört«, sagt die 45jährige Tankwärtin. »Es ist ruhiger geworden, und die Frauen sind zurückhaltend«, berichtet Lude Norman über die Stimmung in Insel. Auch seien weniger Kinder auf der Straße zu sehen. Angst, dass seinen eigenen drei Kindern von Martin P. und Gerhard S. etwas angetan werden könnte, äußert auch Sörgel. Den Einwurf, dass die Männer sich an Frauen und nicht an Minderjährigen vergangen haben, will er nicht gelten lassen. »Haben Sie Kinder?« fragt er zurück.

Ende Juli waren P. und S. in das verfallene Haus in Insel gezogen, das ihnen Edgar von Cramm vermietet. Der Freiburger Tierarzt hatte die Wellensittiche der beiden behandelt, als diese sich in Sicherungsverwahrung befanden. Cramm hielt den Kontakt zu den Männern und half ihnen nach der Entlassung. Bei einer Versammlung unter dem Motto »Vergewaltiger in unserem Dorf« Mitte August wollte der Tierarzt zunächst ein Gespräch zwischen den neuen und alten Nachbarn vermitteln. »Dafür wurde ich ausgelacht«, sagt er. Cramm hatte bei der Zusammenkunft, die etwa 250 der 470 Inseler besuchten, zudem mitgeteilt, dass P. und S. ihren Wegzug planten. Beide warten aber noch auf ein passendes Angebot.
Dass P. und S. nicht sofort umgezogen sind, passt den Inselern gar nicht. Die Rentnerin Renate Barthel trillert während der Kundgebung fast unentwegt mit ihrer Pfeife und trägt ein Schild um den Hals: »Herr von Cramm, halten Sie Ihr Versprechen, sonst sind Sie ein Lügenbaron«. Auch Alexander von Bismarck (CDU), dem Ortsbürgermeister, geht es nicht schnell genug mit dem Wegzug. Er mutmaßt, was »hinter den Kulissen« abläuft: »Vielleicht pokern die beiden, um mehr Geld zu erhalten.« Bismarck, Nachfahre des Eisernen Kanzlers, ist der inoffizielle Sprecher der protestierenden Inseler und nimmt auch immer an den Kundgebungen teil. »Ich will den Bürgern zeigen, dass ich für sie da bin, nicht so wie andere Politiker, die sich wegdrehen«, sagt er.
Der Bürgermeister von Insel begann Anfang September mit dem Ortschaftsrat, Unterschriften zu sammeln. Cramm soll mit der Unterschriftensammlung aufgefordert werden, die Anwohner »von dieser ›Belastung‹ zu befreien«. Über 700 Unterschriften seien in den ersten Tagen im Dorf und den angrenzenden Ortsteilen Döbbelin und Tornau gesammelt und an das Justizministerium in Magdeburg geschickt worden. Doch anstatt einer Antwort an die Inseler hätte es nur eine öffentliche Stellungnahme der zuständigen Ministerin Angela Kolb (SPD) gegeben, sagt Bismarck. Kolb betonte darin, dass die »Chance auf Resozialisierung« ehemaliger Häftlinge und Sicherungsverwahrter eine »gesetzliche Aufgabe« sei und die Inseler nicht bereit seien, »die Menschenwürde der Betreffenden zu achten«. Das sieht Bismarck anders. Für ihn ist es eine »Zumutung«, wenn sich über 400 Menschen auf zwei einstellen müssten. Rentnerin Barthel machen die Aussagen der Ministerin wütend. »Das ist eine Schweinerei von der Kolb«, sagt die 60jährige. »Soll sie die beiden mitnehmen nach Magdeburg«.

Vermieter Cramm, der in der kommenden Woche nach Insel reisen will, berichtet auch von »vielen netten Mails« aus dem Dorf, die er erhalte. »Es gibt verständnisvolle Leute, die mit den beiden Kontakt aufgenommen haben«, sagt er. Diese Inseler hätten ihm berichtet, dass sie mit den Demonstranten diskutieren wollten, dafür aber attackiert worden seien. Auch eine Gegendemons­tration sei in Erwägung gezogen worden, doch habe man nur mit wenigen Teilnehmern gerechnet. »Es ist eine verschwindend geringe Minderheit«, räumt der Tierarzt über die Inseler ohne Verfolgungseifer ein.
Seitdem sich die Dorfbewohner von ihren neuen Nachbarn trennen wollen, ist rund um die Uhr Polizei vor dem Haus der ehemaligen Häftlinge. Schon einmal mussten dem Schwäbischen Tagblatt zufolge Beamte eingreifen, als ein Mob betrunkener Nazis vor dem Haus stand und zur Tat schreiten wollte. Dass das wieder passieren könnte, ist für Barthel klar. »Wenn die Polizei mal nicht da ist, muss nur einer was saufen und schon brennt’s hier«, sagt die Rentnerin. Sie zeigt auf das Haus und pustet weiter in ihre Trillerpfeife.

* Namen von der Redaktion geändert