Das Buch »Zockerliga« von René Schnitzler

Stripperinnen und Strippenzieher

René Schnitzler war in den deutschen Fußballwettskandal verwickelt. In seinem Buch »Zockerliga« schreibt er nun über spielsüchtige Kicker.

Susis Show Bar, ein Striptease-Lokal im Hamburger Kiez, ist auch außerhalb der Stadt bekannt, und das hat etwas mit Fußball zu tun. Das Etablissement ist Mieter einer Loge im Stadion des FC St. Pauli, und einem Großteil der Fans missfällt die dort gebotene Stangentanzkunst – entweder, weil sie diese für sexistisch halten, oder weil sie ihrer Ansicht nach ablenkt von dem, was in einem Fußballstadion das Wesentliche sein sollte. Diese Ablehnung war ein wesentlicher Grund für die Entstehung der »Sozialromantiker-Bewegung« (Jungle World, 6/11), die die »Eventisierung« des Fußballs am Millerntor zu stoppen versucht.
René Schnitzler war zum ersten Mal im Sommer 2007 in der Show Bar, da war der Stürmer gerade von Borussia Mönchengladbach II zum FC St. Pauli gewechselt. Er beschreibt diesen ersten Abend in seinem Buch »Zockerliga. Ein Fußballprofi packt aus«, das er mit dem Stern-Redakteur Wigbert Löer und dem freien Autor Rainer Schäfer verfasst hat. Zumindest in der Zeit zwischen 2007 und 2010 hatten die neuen Spieler des Vereins ihr Aufnahmeritual im Etablissement in der Großen Freiheit zu bestehen: »Vorne auf der dunkelroten Drehschreibe, wo die Stripperinnen sich sonst langsam ausziehen, geht es den neuen Profis an die Wäsche (…). Die fast nackten Tänzerinnen fassen fast überall hin, zur Abkühlung nutzen sie Eiswürfel.« Während ein anderer damaliger Neuzugang, der nicht genannt werden will, solche Praktiken als »versuchte Vergewaltigung« einstufte, fand Schnitzler Gefallen daran, dass »unsere besten Teile mit Sahne eingesprüht waren«. Die Trainer – damals Holger Stanislawski und André Trulsen – hätten der schlüpfrigen Zeremonie beigewohnt, erzählt er.
Wie der Titel »Zockerliga« nahelegt, geht es in dem Buch hauptsächlich um spielsüchtige Kicker und um solche, die gefährdet sind. Aber für einen maßgeblichen Teil der St.-Pauli-Anhänger dürfte die Schilderung des Abends in der Stripbar die entscheidende Passage des Buches sein. Vehement haben die Fans gegen die Show-Bar-Loge protestiert, und nun erfahren sie, dass in Susis Stammladen jahrelang die Spieler verkehrten, die sie bejubelt haben oder noch bejubeln. Wie man damit umgeht, hängt maßgeblich davon ab, ob man die Kicker seines Vereins für austauschbare Erfüllungsgehilfen des eigenen Emotionshaushalts hält oder ob man Erwartungen an sie hat, die über die Darbietungen auf dem Platz hinausgehen.
Bundesweit bekannt geworden ist René Schnitzler durch seine Verwicklung in den hiesigen Wettskandal, seine im März verhängte Sperre gilt noch bis zum 30. September 2013. Er hat 100 000 Euro dafür kassiert, dass er einem Wettpaten zusicherte, den Ausgang von fünf Spielen des FC St. Pauli zu manipulieren. Dies hat er höchstwahrscheinlich nie getan, so gesehen hat er einen Betrüger betrogen. Wie Schnitzler in dieses kriminelle Milieu hineingeraten ist, versteht man nur, wenn man die Entwicklung seiner Spielsucht kennt. Er hat Geld von Strippenziehern des Wettbetrugsgeschäfts angenommen, weil er es fürs Zocken brauchte. Ein Fall von Beschaffungskriminalität im weiteren Sinne. Seine Sucht war so stark, dass er körperliche Entzugserscheinungen bekam, nachdem er aufgehört hatte zu spielen.
Von dem Buch »Zockerliga« und all den falschen Entscheidungen, die dessen Protagonist in den vergangenen Jahren getroffen hat, geht eine abgründige Faszination aus. Als Leser verliert man manchmal den Überblick über das Ausmaß der Verbindlichkeiten, genau wie Schnitzler selbst, der sowohl bei der Bank als auch bei »Zinsenleuten und Zuhältern« (Schnitzler) in der Kreide steht. Einmal verkauft er einen Mercedes, der 105 000 Euro gekostet hat, für 35 000 Euro an einen Bordellbetreiber, aber ohne Fahrzeugbrief, denn der liegt noch bei der Bank, die den Kauf mitfinanziert hat. Weil Schnitzler den Fahrzeugbrief nicht auslöst, taucht der Bordellbesitzer beim Training auf und klemmt auf dem Parkplatz das Bein des Stürmers in einer Autotür ein, um deutlich zu machen, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Später steht der Zuhälter gemeinsam mit St. Paulis Ersatztorwart Benedikt Pliquett vor der Wohnung von Schnitzlers Freundin, die noch in Hamburg ausharrt, nachdem das einstige Talent die Stadt bereits verlassen hat. Der Keeper will »vermitteln«, wie es in dem Buch genannt wird. Das ist aller Ehren wert, aber es irritiert ein bisschen, dass Spieler des Clubs überhaupt Kontakt zu Luden haben.
Wie viele suchtkranke Zocker gab es und gibt es noch in der Branche? Die Autoren haben einen anonym bleibenden Sportdirektor eines Bundesligisten getroffen, der bemerkt hat, dass ein in seinen Leistungen schwankender Defensivstratege des Clubs seine Spielsucht nicht mehr im Griff hat. Der Club wickelt derzeit dessen Schulden ab, von seinem Gehalt bekommt der kickende Angestellte nur einen kleinen Teil ausgezahlt. Beim 1. FC Saarbrücken sollen in der Bundesligasaison 1992/93 drei Spieler »Haus und Hof« verzockt haben, erzählt Henning Bürger, der damals dort kickte und heute die zweite Mannschaft von Eintracht Braunschweig trainiert. Die Autoren zitieren auch den Suchtexperten Jörg Petry, der kritisiert, dass Vereine Spieler zu Werbepartnern aus der Glücksspielbranche schicken: »Welcher Arbeitgeber schickt seine Arbeitnehmer eigentlich zum Wetttrinken?« Glücksspiele seien »kein normales Wirtschaftsgut«, sie ständen auf einer Stufe mit »Waffen und Drogen«.
Der Reiz des Buchs besteht auch darin, dass Schnitzler keine Identifikationsfigur ist. Man bringt ihm ähnlich viel Sympathie entgegen wie in einem Krimi einem kaputten Privatdetektiv, über den sich nichts Positives sagen lässt, abgesehen davon, dass er die richtigen Worte für die Schlechtigkeit der Welt findet. Schnitzler sei »ein Mann vom Gemüt eines Kindes«, schreiben Löer und Schäfer. Zu Beginn seiner Hamburger Zeit spielt er mit seinem Nachbarn und Teamkameraden Björn Brunnemann, der heute für den Berliner AK in der Regionalliga Nord aktiv ist, in der Tiefgarage mit kleinen ferngesteuerten Autos. Noch wichtiger waren natürlich richtige Autos. Sein Zweitfahrzeug war zeitweilig ein Mustang Shelby GT 550, ein »Pornowagen« (Schnitzler), angeblich lauter als sieben Harleys. Das schmälert aber nicht den Wert von Schnitzlers Rundumschlag. In der Branche, in der das Ausplaudern sogenannter Interna verwerflicher ist als in der katholischen Kirche, dürfte es einen ähnlichen Eindruck hinterlassen wie vor fast einem Vierteljahrhundert Toni Schumachers Werk »Abpfiff«.
Man muss sich nicht für Themen wie Spielsucht und Wettbetrug interessieren, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen, es funktioniert darüber hinaus als Milleuskizze des Profifußballs. Während Philipp Lahms Buch »Der feine Unterschied« keinerlei »saftige Anekdoten« (11 Freunde) enthält, wimmelt es in Schnitzlers Buch davon. Es liest sich wie der neue Lahm mit einem Hauch »Schoßgebete«. »Nach Auswärtsspielen hat sich Schnitzler schon daran gewöhnt, dass er sein Bett immer mal wieder räumen muss, wenn einer seiner Mitspieler mit einer nächtlichen Eroberung erscheint«, schreiben Löer und Schäfer. Nach einem Zweitliga-Spiel in Hoffenheim übernachtet ein St. Paulianer gar nicht im Mannschaftsquartier; »der Mittelfeldspieler«, wie er im Buch heißt, taucht erst morgens, eine Viertelstunde nach der vereinbarten Abfahrtzeit des Mannschaftsbusses, wieder auf.
Die Autoren schreiben, solche »Begebenheiten« seien auch bei anderen Vereinen »nicht unüblich«, und ein »Mitspieler von Schnitzler« sagt, er »möchte nicht wissen, wie viele Kinder in Deutschland aufwachsen, die von Fußballprofis bei Auswärtsspielen gezeugt wurden«. Letzteres klingt ein bisschen übertrieben, denn natürlich kann das niemand wissen, außerdem geht es nur die Mütter dieser Kinder, die Spieler und deren Freundinnen oder Ehefrauen etwas an. Aber generell dürfte der Eindruck, dass Fußballer sich auf Reisen ähnlich verhalten wie andere Geschäftsleute, mit der Realität übereinstimmen.

René Schnitzler mit Rainer Schäfer und Wigbert Löer: Zockerliga. Ein Fußballprofi packt aus, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 208 Seiten, 16,99 Euro.