Depression und Stress im Fußball

Einer fehlte

Zu seinem ersten Spiel mit der brasilianischen Nationalelf reiste Fernandes nicht an. Depressionen oder Stress werden als Grund kaum akzeptiert.

Etwa 25 000 Menschen bereiteten der brasilianischen Nationalmannschaft am Montag vergangener Woche in Belém einen begeisterten Empfang. Die Stadt im Norden Brasiliens, die als einzige Region des Landes kein Team in der ersten oder in der zweiten Liga hat, war Austragungsort für das Rückspiel im »Superklassiker« zwischen Brasilien und Argentinien. Das Hinspiel hatte torlos geendet. Der nun unter neuem Namen wieder aufgelegte Fußballwettbewerb zwischen Argentinien und Brasilien wurde als »Copa Roca« zwischen 1914 und 1976 in unregelmäßigen Abständen ausgetragen. Siebenmal gewann Brasilien, dreimal Argentinien. Die Spieler müssen in den heimischen Ligen aktiv sein, so die Regel. Gegen ein Kilo Lebensmittel erhielten die Zuschauer Eintritt ins Stadion Mangueirão, wo die Seleção am Montagabend ein erstes lockeres Training absolvierte. Bereits am Flughafen und vor dem Mannschaftshotel hatten Tausende begeisterte Fans die Spieler empfangen.
Nur einer fehlte bei der Begrüßungsparty. Abwehrspieler Mário Figueira Fernandes von Grêmio Porto Alegre war nicht angereist – und tauchte auch im Laufe des Tages nicht mehr auf. Der 21jährige gilt als die größte Nachwuchshoffnung seines Clubs. Erst am Wochenende zuvor hatte er beim 2:1-Sieg seiner Mannschaft gegen Avaí noch geglänzt und sogar den Führungstreffer erzielt. Für das Hinspiel zwischen Argentinien und Brasilien war er erstmals in die Nationalelf berufen worden, beim müden 0:0 in Córdoba (immer wieder Córdoba!) aber nicht zum Einsatz gekommen. Seine Berufung hatte er zuvor freudig kommentiert und die Hoffnung geäußert, es werde noch viele weitere Berufungen geben.
Umso überraschender sein Nichterscheinen, auf das weder Nationalcoach Mano Menezes noch der Verband vorbereitet waren. Selbst sein Umfeld schien von der Entscheidung überrascht worden zu sein. Fernandes wolle seinen Kopf für Grêmio freibehalten, so sein Agent Jorge Machado in einer ersten Erklärung. »Er wollte nicht zur Seleção fahren. Es ist eine sehr eigenwillige Sache, aber eben seine Entscheidung. Der Zeitpunkt war für ihn einfach nicht der richtige.« Und fügte hinzu: »Wir haben alles versucht, aber wir konnten ihn einfach nicht davon abbringen. Wir haben ihm gesagt, dass es schlecht für seine Zukunft sein kann (…) Aber er ist bei seiner Entscheidung geblieben. Er ist ein sehr intelligenter Junge, der weiß, was er tut.«
Menezes hatte von der Absage erst aus der Presse erfahren. Weder er noch der Verband waren bis zum späten Montagnachmittag von Fernandes benachrichtigt worden. Das nährte natürlich Spekulationen: Hatte der Spieler einfach keine Lust oder steckte doch mehr dahinter? Verantwortungslosigkeit und Disziplinlosigkeit schloss Machado aus. Die Entscheidung sei weder gegen den Trainer noch sonst jemanden gerichtet. Auch Spekulationen, es könne sich um einen Boykott gegen den Brasilianischen Fußballverband CBF handeln, wies er zurück. »Mário ist kein Idealist, überhaupt nicht. Er ist ein häuslicher Typ, ihm gefällt es nicht, die Umgebung zu wechseln.« Er habe einfach nicht gewollt – und das gelte es zu respektieren.
Auch in Porto Alegre wurde man von der Absage überrascht. In einer später verbreiteten Erklärung des Clubs ist von psychologischen Gründen die Rede. Aufgrund rein persönlicher Probleme und des daraus resultierendes Stresses könne Fernandes nicht zur Nationalmannschaft reisen. Man bat Anhänger, Presse und alle mit dem Fußball verbundenen Personen um Verständnis für seine Entscheidung.
Bei den Kollegen herrschte aber vor allem Verwirrung und Ungläubigkeit. »Die Berufung abzulehnen, ist keine Frage der Persönlichkeit. Die Seleção ist der Traum eines jeden Spielers. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber alle, die hier her­kommen, sind willkommen, unabhängig vom Alter oder Club. Aber jeder hat seine eigene Ansicht«, wurde Torwart Jéfferson von Botafogo zitiert. Er wolle aber nichts weiter über Fernandes sagen, ohne dessen genaue Beweggründe zu kennen. »Ich möchte lieber nicht kommentieren, was mit ihm passiert ist. Aber ich würde die Seleção nie zurückweisen«, sagte Verteidiger Emerson von Curitiba, der ebenfalls erstmals ins Team berufen wurde. Wie auch Ronaldinho Gaúcho, der sagte, glücklich über seine Nominierung zu sein. Er hoffe, »dem brasilianischen Volk Freude zu schenken«. Ähnlich ergriffen schien Lucas, Nachwuchshoffnung vom FC São Paulo: »Ich fühle eine große Emotion, es ist immer eine großes Vergnügen, die Nationalmannschaft und mein Land zu vertreten; ich will immer.«
Im Profifußball, wo die Berufung zur Nationalmannschaft als das Größte überhaupt gilt, noch dazu in Brasilien, können die wenigsten Fernandes’ Entscheidung nachvollziehen oder sich überhaupt einen Grund denken, weshalb jemand verzichtet. Der Einsatz in der Seleção wird derart überhöht, dass eine Absage fast schon als Sakrileg erscheint. Dabei hat Fernandes einfach sein Recht wahrgenommen, zu tun, was er für richtig hält in seinem Leben.
Es ist auch nicht so, dass er aus Prinzip verzichtet hätte. Seine Erklärungen nach der ersten Berufung deuten zumindest nicht in diese Richtung. Auch schloss sein Club eine spätere Teilnahme an der Nationalmannschaft nicht aus.
Aber ob es dazu in absehbarer Zeit kommt, ist eher fraglich. Mano Menezes »respektiere die vom Spieler vorgebrachten Gründe, jedoch reichten sie für künftige Entscheidungen der Nationalmannschaft nicht aus«, so der Verband in einer Erklärung auf seiner Website.
In einer persönlichen Stellungnahme machte Menezes zudem klar, dass er Spieler schätzt, die trotz Rückschlägen alles daran setzen, bei Spielen wie dem gegen Argentinien auf dem Feld zu stehen. »Wir hatten ein Gespräch zu allgemeinen Fragen. Ich bin nicht unnachgiebig, aber in jeder Organisation der Welt gibt es Regeln. Und wir werden sie anwenden – aus Respekt für diejenigen, die auch mit Schmerzen und müde zur Seleção gereist sind. Das muss klar sein zwischen uns, und das ist meine Position in der Angelegenheit.«
Das klingt nicht so, als könne sich Fernandes Chancen ausrechnen, unter Menezes überhaupt noch einmal berufen werden. Die Olympischen Spiele 2012 in London sind für ihn damit wohl passé.
Fernandes selbst verweigerte jeden Kommentar, nahm aber am Dienstag ganz normal am Mannschaftstraining teil. Sein Vereinstrainer Celso Roth äußerte sich nur äußerst vorsichtig, jedes Wort abwägend. Es sei die persönliche Entscheidung des Spielers. »Ob er gut oder schlecht gehandelt hat, es geht mich nichts an, das zu beurteilen.« Als Zeichen der Unterstützung bot Grêmio Fernandes an, den Vertrag um ein weiteres Jahr zu verlängern.
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Fernandes nicht auftaucht. Bereits 2009 war er nach der Vertragsunterzeichnung bei Grêmio vier Tage lang verschwunden. Sein neuer Club schaltete sogar die Polizei ein. Schließlich fand man ihn im Haus eines Onkels in Jundiaí im Bundestaat São Paulo, wo er sich verkrochen hatte. Damals wurde über Depressionen spekuliert.
Doch diese Zeiten schienen vorbei. Fernandes selbst hatte nach seiner Berufung vor zwei Wochen gesagt: »Als ich hier herkam, hatte ich persönliche Probleme, die überwunden sind. Die Berufung ist eine Chance, die ich gewollt habe. Aus der Nationalmannschaft kann ich nicht so einfach verschwinden.«
Der 21jährige wird in Brasilien bereits als der »neue Lúcio« gehandelt – keine geringe Bürde für den jungen Mann. Auch wurde er schon mit fast jedem namhaften Club Europas in Verbindung gebracht. Im April vergangenen Jahres war nach Angaben des damaligen Präsidenten von Grêmio, Duda Kroeff, Inter Mailand an einer Verpflichtung interessiert, die Italiener hätten Fernandes mehr als einmal beobachtet. Eine Ablösesumme von zwölf Millionen Euro stand im Raum. Fernandes aber entschied sich, weiter bei Grêmio zu bleiben und erst später nach Europa zu wechseln.
Europäische Klubs werden sich eine Verpflichtung in Zukunft wohl zweimal überlegen, denn trotz aller öffentlichen Bekundungen, Probleme wie Burn-out und Depressionen ernster zu nehmen, müssen im Profigeschäft Fußballer in erster Linie funktionieren. Die Episode um seine Berufung zeigt, dass Mário Fernandes das nicht tut – was auch immer seine Beweggründe gewesen sein mögen. Brasilien gewann auch ohne ihn am Mittwoch vergangener Woche den »Superclássico de las Américas« 2:0 durch Tore von Lucas und Neymar im Rückspiel.