Nerds, Geeks und Piraten

Nerdig ist die neue Hippness

Die Nerds sind hinter ihren leeren Pizzaschachteln ans Tageslicht hervorgekrochen, glänzen nun in Talkshows und ­gewinnen Wahlen. Wie das passieren konnte? Vielleicht liegt es daran, dass sie nie richtige Nerds waren.

Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis irgendeine umfassend blond gefärbte Schauspielerinnen-Darstellerin oder einer dieser zwar körperlich, aber bedauerlicherweise nicht mental durchtrainierten Singenkönnen-Woller in irgendeiner Talkshow nicht mehr nur wie üblich giggelnd verkündet, derartig hip zu sein, dass er oder sie gerade nach Kreuzberg gezogen sei, nein, unter den staunenden Blicken der anderen Gäste wird die Person dann auch noch stolz darauf hinweisen, dass sie ja der totale Nerd oder der Super-Geek sei. Und auf Nachfrage wird sie berichten, dass sie praktisch fast jeden Abend im Internet herumhänge und dort dieses absolut angesagte Social-Media-Ding namens Twitter oder Facebook benutze, um mit den zahllosen Fans in Kontakt zu bleiben. Vielleicht wird die Person dann noch ein bisschen davon schwärmen, wie ungemein aufregend dieses Web sei, weshalb sie manchmal doch tatsächlich erst abends um halb elf ins Bett gehe, weil sie doch tatsächlich noch eine E-Mail von einem Agenten aus Amerika bekommen habe.

Vorausgesetzt, sie haben die Schulzeit überlebt, würden sich die noch vor wenigen Jahrzehnten verächtlich als Nerd oder Geek bezeichneten Menschen vielleicht darüber freuen, wie sehr sich diese Bezeichnungen doch gewandelt haben. Die damaligen Mobbingopfer hatten immerhin eines gemeinsam: Sie entsprachen nicht dem Durchschnitt. Der dünne blasse Junge, der in naturwissenschaftlichen Fächern glänzte, aber im Sportunterricht regelmäßig zum Gespött der Klasse wurde, das dickliche Mädchen, das keinerlei Wert auf modische Kleidung oder gar Make-up legte, dafür jedoch in jeder dritten Mathestunde den Lehrer korrigierte, die hochbegabten Einzelgänger, sie alle wurden tagaus, tagein zur Zielscheibe ihrer zumindest sozial erfolgreicheren Mitschüler.
Ein Geek zu sein (das Wort bedeutete in englischem Slang Idiot, aber auch Streber und lässt sich zugleich auf das plattdeutsche »Geck« zurückverfolgen) war definitiv nichts Erstrebenswertes. Zumal die beruflichen Aussichten für diejenigen, die als Streber verlacht wurden, nicht unbedingt glänzend waren: Wenn das Geld zum Studium fehlte und man obendrein das Unglück hatte, nicht in einer Großstadt aufzuwachsen, war der Weg zum Sonderling vorprogrammiert. Dass der Außenseiter Brieffreundschaften mit Wissenschaftlern aus aller Welt pflegte und sogar regelmäßig Post von der Nasa erhielt, spielte in der dörflichen Zwangsgemeinschaft keine Rolle – dort wäre sogar ein verliehener Nobelpreis von der Tatsache überschattet worden, dass der oder die Ausgezeichnete scheußliche Hosen und jeder Mode spottende Jacken trägt und sich auch niemals auf dem örtlichen Schützenfest hat blicken lassen.
Und dann änderte sich auf einmal zwar nicht alles, aber vieles: Genau die Typen, die ausgelacht, verspottet und manchmal verprügelt wurden, machten sich auf, die Welt zu revolutionieren. Sie erfanden Betriebssyssteme und Computerprogramme, das Internet und neue Geräte, Blue Ray Discs und jede Menge anderes cooles Zeug. Und einige wurden ganz nebenher auch noch reich dabei. Genauer: richtig reich und nicht bloß autohausbesitzerreich, wie ihre ehemaligen Klassenkameraden. Und berühmt. Wie Bill Gates, der bekannteste Nerd von allen, der ein riesiges Vermögen und ein soziales Prestige erlangte, an dem selbst eine überdurchschnittlich ignorante Dorfbewohnerschaft nicht vorbeigucken kann. Denn von einer gewissen Reichtumsgrenze an ist es auch egal, ob jemand beige Cordhosen trägt. Oder sich eigenartig verhält, wie es eben Gates manchmal tut, der beispielsweise irgendwann entschieden hatte, dass es nun an der Zeit sei zu heiraten, und per Newsletter an die eigenen Angestellten um aussagekräftige Bewerbungen für den Posten als Frau Gates bat.
So ist es nicht verwunderlich, dass es seit dem Boom der Computerindustrie als schick gilt, sich als Nerd oder Geek zu bezeichnen, obwohl das Leben der gemeinen Programmierknechte und der abhängig als Systemadministratoren Beschäftigten kaum etwas mit dem zu tun hat, das die Superstars des Genres führen – und die meisten immerhin sozial so angepasst sind, dass sie sich ohne Probleme in betriebliche Strukturen einfügen können. Obwohl dies insgesamt nicht wirklich glamourös ist, hat sich das Wort Geek von einer abfälligen Bezeichnung für Personen mit intellektuellen Beschäftigungen auf dem Computersektor ohne erkennbaren tieferen Sinn zu etwas Neutralerem gewandelt. Von dem Schimpfwort, das ins Deutsche am ehesten mit Streber übersetzt werden konnte, hat sich der Geek zu einer Person entwickelt, die großes Interesse an Technik, Computern und neuen Medien hat – und sämtliche Aspekte des Lebens aus wissenschaft­licher Sicht angeht und so auch lieber die perfekte Form für einen Kuchen berechnet, statt einfach einen zu backen.

Allerdings sind die wenigsten, die sich stolz als Nerd oder Geek bezeichnen, auch wirklich welche – mittlerweile nennen sich nämlich selbst Leute so, die es gerade einmal schaffen, halbwegs problemlos ein Wort zu googlen. Was früher als freakig galt, gilt plötzlich als cool. Weshalb nun auch, wie oben erwähnt, schon stündlich damit gerechnet werden muss, dass es von irgendwelchen Münchner Schickeria-Schlampen zum neuen, irrsinnig hippen Ding ausgerufen wird, was bislang wohl nur daran gescheitert ist, dass es noch nicht die passenden Klamotten zum Trend gibt. Aber das lässt sich ja sicher schnell ändern, wenn irgendwer Chanel und andere Modefirmen Leetspeak erklärt und auf den Pariser Modenschauen dann massenhaft T-Shirts mit aufgedruckten Buchstaben- und Zahlenkombinationen vorgeführt werden. Kann nicht sein? Zur ­Erinnerung: Es dauerte nicht sehr lange, bis Punk zur akzeptierten Mode wurde und selbst kleinstädtische Hausfrauen Nietengürtel und Fetzen-T-Shirts trugen.
Was das alles mit der Piratenpartei zu tun hat? Na nix. So gesehen. Und viel, andersrum betrachtet. Student der Rechtswissenschaft, Tätigkeit in der Jugendarbeit, Manager, Kaufmann und Student, Historiker, Handwerker mit Auslandserfahrung – die Berufe, in denen einige der künftigen Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses bislang arbeiteten, klingen nicht nach ausgeprägtem Nerdism, nicht wahr? Und wer es schafft, gemeinsam mit anderen ein Parteiprogramm auszuarbeiten und es draußen auf der Straße bei Tageslicht wildfremden Menschen vorzustellen, wem es gelingt, sich auf Wahlveranstaltungen gut zu verkaufen, wer sich Gedanken um die eigene Wirkung macht und sich entsprechend verhält, der wäre auch früher an keiner Schule dieser Welt als Außenseiter ausgelacht worden.
Eine Geek-Partei sind die Piraten also definitiv nicht, auch wenn es ausgewiesene Nerds und sogar Nazi-Nerds unter ihren Mitgliedern gibt. Dass es diese Worte geschafft haben, von verächtlichen zu hippen Bezeichnungen zu werden, hilft den vielen schüchternen, blassen Strebern da draußen vielleicht ein bisschen, auf dem Schulhof einigermaßen klar zu kommen – aber darauf wetten sollte man selbst dann nicht, wenn plötzlich ein blumiges Parfum namens »Geeks only« zum Verkaufsschlager wird.