Die 68er-Filme von Jean-Luc Godard auf DVD

Tout ne va pas bien

Der Aufbruch im Mai 1968 spielt in vielen Filmen von Jean-Luc Godard eine wichtige Rolle: Nicht nur deren Inhalt, auch ihre Form war ein Bruch mit Althergebrachtem. Godards Kritik des etablierten Kinos und seiner Bildersprache ist Thema in seinen 68er-Filmen, die nun in einer sorgfältig edierten DVD-Box erschienen sind.

Fin de cinéma« steht auf der am Schluss eingeblendeten Tafel in Jean-Luc Godards wunderbarem Film »Weekend« von 1967. Bald darauf entstand sein Film »Die Chinesin«, der eher ein Diskurs- als ein Spielfilm ist und die Politisierung Godards und seinen Abschied vom konventionellen Erzählkino vorbereitet. »Die Chinesin« hat eine ungewöhnliche Bildsprache, die mit tradierten Sehgewohnheiten bricht. Die Dekolonialisierung des Trikonts, die Kritik der Gesellschaft des Spektakels, die chinesische Kulturrevolution, all dies wird in dem Film bereits angespielt. Die Begeisterung der Studierenden für Maos Parole »Bombardiert das Hauptquartier!«, mit der er 1966 die studentischen Roten Garden ermutigt hatte, die Parteifunktionäre zu entmachten, war groß. Sie wurde in Europa von radikalen jungen Linken, die Maoisten genannt wurden, als Revolution in der Revolution verstanden.
Im Film sind es fünf junge Studierende um die 20, die sich für einen Sommer in einer großbürgerlichen Stadtwohnung einrichten. Sie gründen eine Zelle und diskutieren. Sie finden sich sehr wichtig, jeder Satz ist bedeutungsvoll. Die Wohnung gehört den Eltern von Véronique (Anne Wiazemsky). Sie studiert Philosophie und kommt aus einer Bankiersfamilie. Aufmerksam verfolgt sie die Sendungen von Radio Peking. Sie sitzt ihrem Freund Guillaume (Jean-Pierre Léaud) gegenüber am Tisch, beide sind in Bücher vertieft und machen sich Notizen.
Der Chemiestudent Henri (Michel Semeniako) kommt blutüberströmt in die Wohnung. »Waren das Neonazis?« fragt Véronique. »Nein«, erwidert Henri, »es waren vom der PCF«. Am Rand der Veranstaltung marxistisch-leninistischer Studenten über die chinesische Kulturrevolution haben ihn Schläger der kommunistischen Partei erwischt.
Guillaume deklamiert Weisheiten aus dem »Roten Buch«, dem Sammelsurium von Mao-Zitaten zu allen erdenklichen Fragen kommunistischer Politik. Kirilov (Lex De Bruijin) bastelt schweigsam an einem Fahrradlenker, er ist depressiv und selbstmordgefährdet. Yvonne (Juliet Berto) trägt besonders gerne die blaue Ballonmütze im Mao-Look. Sie studiert nicht, ist aus der Enge des elterlichen Bauernhofs in die Stadt geflohen und meist beim Putzen oder Abwaschen zu sehen. Gegen die Revisionisten, wie die Maoisten die an Moskau orientierten Kommunisten nannten, ist sie auch: Bei der Demonstration gegen den Vietnamkrieg hätten diese mit Rufen wie »Rote Garden – Mörder« die maoistischen Gruppen zu übertönen versucht, als diese »USA – Mörder« riefen. Die Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg ist präsent. Zunächst wollte Godard, dass nicht Schauspieler, sondern maoistische Studierende die Rollen übernehmen. Dann überwog wohl die Skepsis und der Plan wurde verworfen. Die jungen Schauspieler wirken mit ihrem Rigorismus überzeugend, auch wenn einiges sicher überzeichnet ist.
Als der Film im September 1967 in die Kinos kam, kritisierten viele maoistische Militante die Betonung der gewalttätigen Aktion im Film. Véronique will am liebsten die Universitäten in die Luft jagen, ihre Gruppe bereitet unterdessen einen Anschlag auf den sowjetischen Kulturminister vor. So treffend der Film nach Ansicht von Zeitzeugen die Stimmung in der maoistischen Szene widerspiegelt, so abwegig ist es, sie mit Attentaten oder bewaffneter Propaganda in Verbindung zu bringen. Einen faszinierenden Einblick in das maoistische und anarchistische Denken bietet der Film jedoch allemal. So zeigt der Film auch, dass die Kritik am Revisionismus der Sowjetunion andere Wege beschreiten kann als den zurück zu Stalin.
Godards Filme sind so vielschichtig, dass es auch beim zweiten oder dritten Ansehen immer noch Neues zu entdecken gibt. Gleichwohl ist er in diesem Film weniger radikal als in seinen 68er-Filmen. Es gibt eine Art Handlungsrahmen und Exkurse über die Produktion des Filmes. So erklärt Guillaume, dass er jetzt so spreche, weil er vor der Kamera sitze, worauf im Gegenschnitt der Kameramann zu sehen ist. Dabei sind im Film viele alltägliche Dinge und Symbole aus der Zeit eingebaut, etwa mit Hammer und Sichel geschmückte Zeitungen, Comics, Fotos, Werbung. Zitiert wird auch ein französisches Chanson der Zeit, dessen Refrain nur aus der Wiederholung des Namens des Großen Vorsitzenden und Steuermanns der KP Chinas besteht: »Mao, Mao …!«
Der Film kritisiert zugleich das elitäre Moment der Studentenbewegung. Wie selbstverständlich ist es die ungelernte Bauerstochter, die in der WG für die Reproduktionsarbeit zuständig ist. Problematisiert werden die Lebensentwürfe und die Ernsthaftigkeit der politischen Haltung der Protagonisten. Am Ende des Sommer löst sich die temporäre WG auf, die Parolen werden von den Wänden gewaschen, die Mao-Bibeln aus den Regalen gefegt.
Godard beteiligte sich an den Protesten im Pariser Mai 1968. Bekannt ist, dass er als Kameramann Aktionen und Diskussionen auf Celluloid festhielt. Als einer unter vielen, weshalb zum Bedauern einiger Cineasten nicht eindeutig feststellbar ist, welches Material von Godard stammt. So nutzten die revolutionären Kameraleute die neuesten technischen Möglichkeiten und ersetzten das bis dahin gebräuchliche 35-mm-Filmmaterial durch das günstigere 6-mm-Material. Auch die Kameras waren leichter geworden. Es wurde mit Handkamera ohne Stativ mitten im Geschehen gedreht. In diesem Umfeld entstand die Gruppe Dziga Vertov, der neben Godard auch Jean-Henri Roger und Jean-Pierre Gorin angehörten. Um ökonomisch unabhängiger von der Filmindustrie arbeiten zu können, benutzte die Gruppe die damals neue Videotechnik. Auch wurde nach alternativen Vertriebswegen gesucht, da der Kinofilmvertrieb von nur wenigen Distributionsfirmen beherrscht wurde. Die Gruppe beschäftigte sich auch damit, wie sich Ausbeutung am Arbeitsplatz darstellen lässt. Der Film »Tout va bien« (»Alles in Butter«) schildert die Besetzung einer Salamifabrik durch einen Teil der Belegschaft und stellt sich mit seiner Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie der CGT in die Tradition des Mai 1968. Die Leute wollen mehr als ein paar Centimes, sie wollen nicht weiter unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und sich nicht mehr von Vorarbeitern schikanieren lassen, bloß weil sie mal auf die Toilette müssen. Der Film schildert die Besetzung aus der Sicht der US-amerikanischen Radiokorrespondetin Suzanne (Jane Fonda), die den Firmenchef interviewen will und von ihrem Mann, Jacques, einem linken Filmregisseur (Yves Montand), begleitet wird. Die Besetzer nehmen den Chef während ihres wilden Streiks in seinem Büro in Geiselhaft. Der für die Fabrik zuständige CGT-Funktionär versucht, ihn zu befreien, schließlich ist er sein Verhandlungspartner.
Jane Fonda arbeitete als Vorbereitung auf ihre Rolle ein paar Wochen in einer Fabrik am Band. Das besetzte Verwaltungsgebäude der Fabrik wurde im Studio nachgebaut, und dieser Umstand wird im Film auch offengelegt: In der Totalen sind die Studioräume zu sehen. Diese Verfremdung im Brechtschen Sinne rückt die Distanz der Filmleute zum Fabrikalltag ins Bewusstsein.
»Alles in Butter« zeigt auch die Schwierigkeiten der Journalistin, die nach der gewaltsamen Beendigung des Streiks durch die Polizei darüber berichten will. Aber das Thema erscheint zu linksradikal. Vor der Kamera erklärt sie, dass sie im Mai 1968 zur Expertin für »linke Themen« wurde und eine Zeitlang etwas unterbringen konnte. Aber nun, 1972, seien diese Themen angeblich langweilig.
Am Schluss des Filmes beobachtet Suzanne in einem riesigen Supermarkt, wie an der endlos langen Reihe von Kassen die Waren aufs Band gelegt und die Beträge eingetippt werden. Es gibt eine lange Kamerafahrt vorbei an den Kassen. Hier werden der Warentausch und die monotone, schwere Frauenarbeit anschaulich. Die Sequenz bietet noch mehr: Im Bereich vor den Kassen, dort, wo die Wartenden in Schlangen stehen, gibt es einen Aktionsstand. Ein Vertreter des PCF bietet dort das Wahlprogramm an. Revisionismus als Ware, Phrasen im Sonderangebot. Schließlich kommen radikale Linke in den Kassenbereich und legen die Waren zurück in die Regale. Eine Frau liest dem Vertreter des PCF einige Phrasen aus dem Parteiprogramm vor und fragt, was das denn bedeuten solle. Er weicht aus, will nicht diskutieren. Sicherheitspersonal und Polizei kommen, um gegen die Radikalen vorzugehen. Die Journalistin Suzanne beobachtet alles aufmerksam. Sie wird für einen Bericht über diesen Protest keinen Sendeplatz bekommen.
Unvollendet blieb der von der Gruppe Dziga Vertov produzierte Film »Jusqu’à la victoire« (»Bis zum Sieg«). 6 000 Dollar hatte die Arabische Liga gezahlt, damit diese den Volksbefreiungskampf der PLO-Fedajin gegen Israel glorifizieren. Der Film wurde nicht fertiggestellt. Selbstkritisch griffen Godard und seine Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville das Filmprojekt vier Jahre später wieder auf. Unter dem Titel »Ici et ailleurs«, (»Hier und anderswo«) montierten sie 1974 aus dem Material einen Film, der sich mit der Palästina-Solidarität der revolutionären Linken in den siebziger Jahren beschäftigt.
Der Film »Hier und anderswo« war Anlass einer Debatte, in der danach gefragt wurde, ob Godard Antisemit sei. Sie flammte im Oktober 2010 auf, als bekannt wurde, dass der Filmemacher für sein Lebenswerk einen Ehrenoscar bekommen sollte. Den Preis hat der inzwischen hochbetagte Godard nicht angenommen, weil er nicht einsah, dafür um die halbe Welt reisen zu müssen. So cool diese Abfuhr an die Filmindustrie von Hollywood auch daherkam, so berechtigt waren die Fragen nach antisemitischen Konnotationen und Positionen im Film »Hier und anderswo«. Die Erzählung beginnt mit Bildern des palästinensischen Widerstands aus dem Jahr 1970. Ein Agitator erklärt, warum Palästinenser mit der Waffe gegen die »zionistischen Eroberer« kämpfen. Eine Frau liest mühsam einen Text über die Beteiligung der palästinensischen Frau am Volksbefreiungskampf. Sie besucht einen Alphabetisierungskurs, hinter ihr lehnt ein Gewehr an der Wand. Kämpfer bestellen ein Feld, die Gewehre wurden zusammengestellt. Waffen, Kampflieder, Entschlossenheit, Volkskrieg. Bis zum Sieg. Kämpfer lesen im Kreis auf dem Boden sitzend Flugblätter und diskutieren. Einer hält die arabische Ausgabe der roten Mao-Bibel in der Hand. Im Off erklärt eine Frauenstimme, dass der Film Fragment geblieben sei und in einer Flut von Bildern und Tönen der Tod verdrängt werde.
Bild- und Tonaufnahmen aus Nazideutschland, Lateinamerika und Vietnam werden mit Filmmaterial aus Israel und den palästinensischen Gebieten zusammengeschnitten, ein Bild von Adolf Hitler wird neben einem Foto von Golda Meir gezeigt. Der Film soll zwar eine Kritik an der Heroisierung der PLO sein, die Godard 1970 inszenierte. Gleichzeitig bekräftigt er mit seinen Montage die antizionistische These, der zufolge Israel ein Nazideutschland ähnlicher Aggressor und der Kampf gegen ihn legitim sei. Seinem eigenen Anspruch, 24 Bilder Wahrheit pro Sekunde zu liefern, ist Godard nicht immer gerecht geworden.

Jean Luc Godard Edition 2. Acht Filme 1967–80. (Arthouse)