Besuch beim größten Trödelmarkt Europas in Lille

Trödeln bei den Sch’tis

Einmal jährlich im September verwandelt sich die nordfranzösische Stadt Lille in die »Braderie«, den größten Trödelmarkt ­Europas und ein Paradies für Liebhaber überflüssiger Dinge.

Wer einmal den nördlichsten Landstrich Frankreichs, das an der Grenze zu Belgien gelegene Departement Nord-Pas-de-Calais, bereist hat, dem dürften kaum Urlaubserinnerungen von flirrender Hitze, Weingelagen, malerischen Städtchen und einem nächtlich in ein französisches Ohr geflüsterten »Je t’aime« in den Sinn kommen. Eher beschreibt Jacques Brels Chanson »Le plat pays« aus den Sechzigern die Atmosphäre dort, wo ein eisiger Wind über das flache Land fegt, der ewig verhangene Himmel aufs Gemüt von Einwohnern und Fremden drückt und statt Wein bevorzugt Bier und Schnaps getrunken werden.
Doch das Bild vom unwirtlichen Norden mit seiner ökonomischen und kulturellen Rückständigkeit und Bewohnern, die sich wegen der Kälte und der finanziellen Misere eben öfter mal einen genehmigen als andernorts, ist spätestens seit dem in ganz Europa erfolgreichen Kinofilm »Willkommen bei den Sch’tis« von 2008 revidiert worden. Sämtliche Vorurteile gegenüber den Sprechern des Ch’ti, eines Dialekts innerhalb der nordfranzösischen picardischen Sprache, führt der selbst aus der Region stammende Regisseur und Schauspieler Dany Boon, der wegen seines Ch’ti in der Schule gehänselt wurde, nämlich allein auf ihr seltsames, aber im Grunde drolliges Französisch zurück. Der Film wartet mit allerlei liebenswerter Folklore auf, so dass sich am Ende für den in den Norden strafversetzten Südfranzosen Philippe das Sprichwort bewahrheitet: »Wer in den Norden zieht, weint zweimal. Einmal, wenn er ankommt, und einmal, wenn er wieder abfährt.« Sogar bei den Sch’tis, das weiß man seither, kann das Leben angenehm sein.

Auch Lille, die Hauptstadt des Nord-Pas-de-Calais, hat in den vergangenen Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt. 2004 wurde sie zur Kulturhauptstadt Europas ernannt. Seit dieser kulturellen Aufwertung und wegen der günstigen Verkehrsanbindung – schließlich ist man von Paris gerade einmal eine Stunde entfernt und mit dem Eurostar in etwa einer Stunde in London und Brüssel – wirbt die Stadt für sich selbst als »Eurométropole«.
Einmal im Jahr jedoch, im September, scheint das pompöse bürgerliche Kulturleben in Lille ganz anderen, viel lebendigeren Aktivitäten zu weichen. Die Straßen sind überlaufen von Menschen, die, beladen mit Tapeziertischen, abgegriffenen Kartons und unzählige Male verwendeten Tüten, um die Stände auf den überall in der Innenstadt freigeräumten Parkplätzen kämpfen. Vollgepackte Autos schieben sich hupend durch das Wirrwarr, es riecht nach abgestandenem Fett, dessen Dunst aus den zahlreichen Frittenbuden auf die Straßen weht, der Boden ist übersät mit zertretenen Bierbechern, Weinpullen, Kleidungsstücken und zerfetzten Plastiktüten, dazwischen liegen einzelne Trinker, die am Straßenrand ihren Rausch ausschlafen – das sind typische Eindrücke vom Auftakt der Braderie, des größten Trödelmarkts Europas.
Wenn es ums Trödeln geht, kann keine Region des Landes mit dem sonst so armen und kargen französischen Norden konkurrieren. Da die Stadt keine Standgebühren erhebt, nutzen viele die Gelegenheit, um zu Hause auszumisten und ihren Krempel auf der Straße zu verkaufen, aber auch, um schnell und billig an neue Einrichtungs- und Haushaltsgegenstände zu kommen. Wer direkt in Lille wohnt, stellt seine Sachen kurzerhand vor die Haustür. Auch Kaffee, Tee und Gebäck werden einfach aus der Küche heraus angeboten. Zwei Damen im Leoparden-Outfit, deren Wohnung im Erdgeschoss liegt, bieten am Samstag- und Sonntagabend selbstgemixte Cocktails für zwei Euro an. Diejenigen, die von außerhalb kommen – sei es aus den umliegenden Dörfern und Städten, dem übrigen Frankreich oder aus dem nahen Belgien –, quetschen sich einfach dazwischen. Irgendwo findet sich immer ein Platz auf dem Trottoir, wo auf einer Strecke von mehr als 100 Kilometern gehandelt und getauscht wird.

Auch Nadine aus dem nur eine Stunde entfernten Calais hat es sich auf einem Klappstuhl bequem gemacht. Seit sechs Jahren verscherbelt sie vor allem Geschirr, das sie jedes Jahr aus ihrem Hausstand ausrangiert. Auch Freundinnen geben ihr immer etwas mit, zum Beispiel, wenn sie »wegen einer Erbschaft etwas doppelt haben«. Ihre Likörgläschen und Kristallvasen en miniature erscheinen wie echte Kleinodien. Die schicke weiß umrandete Sonnenbrille auf ihrer Nase verkauft sie allerdings nicht, die braucht sie heute noch. Im sonst ständig regnerischen Norden scheint ausnahmensweise den ganzen Tag die Sonne.
Offizieller Beginn der Braderie ist am Samstag um 14 Uhr, aber daran hält sich kaum jemand. Schon im Morgengrauen breiten die Leute ihren Plunder aus, schließlich sind alle echten Sammler Frühaufsteher, wenn sie sich auf die Jagd nach dem letzten noch fehlenden Teil einer Kollektion begeben. Einige quälen sich schon Freitagmorgen aus dem Bett, um an den Ufern der Deûle, die Lille von Westen her umgrenzt, über Briefmarken und Münzen zu fachsimplen. »Für mich ist die Braderie vorbei, wenn sie für die anderen anfängt«, sagt Gérard, der eine Passion für Modellautos hat, mit ernster Miene. Wer sich nicht unbedingt für Miniaturautos begeistern kann, hat Zeit zum Frühstücken, um sich danach ins Getümmel zu begeben, wie Sarah und Claire, zwei Studentinnen aus Paris: »Nein, wir suchen nichts Bestimmtes. Es macht einfach Spaß, in all dem alten Zeug herumzustöbern und über die Kuriositäten zu staunen.« Tatsächlich fühlt man sich auf der Braderie an die Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock erinnert, in denen seltene und daher auch als seltsam empfundene Objekte verschiedenster Herkunft und Bestimmung gemeinsam ausgestellt wurden, um in ihrer ungewöhn­lichen Kombination das Erstaunen des Betrachters zu erwecken.
Die Braderie ist ein Paradies für Liebhaber von überflüssigen Dingen. Abseits des großen Boulevard de la Liberté, wo übliche Ausschussware wie Handytaschen, Turnschuhe und gefälschte Rolex-Uhren angeboten werden und sich Kebab-Stände aneinanderreihen, stößt, wer lange genug sucht, auf vielerlei ungewöhnlichen Nippes, darunter – neben den obligatorischen Putten- und Engelsfigürchen – ein feister Mönch aus Porzellan, der in der linken Hand einen Bierkrug hält und in der Rechten die Bibel. Gasmasken, Puppenmöbel, belgische Postsäcke, klebrige Toilettenkoffer, abgewetzte Kleidung, kostbarer Schmuck, aber auch Plastikketten aus Kaugummiautomaten, alle möglichen Variationen von Stempeln und Champagnerkorken, zerfledderte Fotoalben, darunter Abbildungen der »schönsten Frauen Frankreichs« von anno 1930, ein mit handbemalten Hundeköpfen verzierter Vogelkäfig, Tonnen von Geschirr und Besteck sowie jede Menge Tierpräparate stehen hier oft zu Schleuderpreisen zum Verkauf bereit.

Tatsächlich lässt sich die Geschichte der »Braderie« bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. In ihren Anfängen war sie ein Jahrmarkt, auf dem vor allem Vieh gehandelt wurde. Zu diesem Anlass wurden die Stadttore für von außerhalb kommende Händler geöffnet, die ausnahmsweise ihre Geschäfte innerhalb der Stadt tätigen durften. Bärenführer, Gaukler und Musikanten sorgten für die Belustigung des Publikums. Den heiteren, ausschweifenden Charakter der Braderie hat der aus Lille stammende Genremaler François Watteau 1799 in einem Gemälde festgehalten. Anfang des 16. Jahrhunderts kamen erstmals jene nicht gewerbsmäßigen Händler hinzu, die heute Bradeux genannt werden. Diese Leute gehörten dem Dienstpersonal der Feudalherren an, die ihnen das Recht zusprachen, abgelegte Kleidung und leicht angestoßenes Tafelgeschirr zwischen Sonnenuntergang und -aufgang zu verkaufen. Nach der Französischen Revolution war es jedem Bürger freigestellt, seine eigenen Besitztümer auf der Straße feilzubieten. Wenn die Braderie bis heute besteht, dann nicht nur, weil sie Sammler und Trödler aus halb Westeuropa anzieht, sondern auch, weil sie von den Bewohnern der Eurométropole Lille und des Nord-Pas-de-Calais immer noch benötigt wird. Welch enorme ökonomische Bedeutung der die ganze Stadt umfassende Markt für die Bevölkerung einer der ärmsten französischen Regionen hat, die sich hier nicht selten ihren halben Hausrat zusammengekauft haben dürfte, lässt sich kaum ermessen.
Auf die Notwendigkeit des Marktes für den unmittelbaren Lebensunterhalt spielt das Wort »Braderie« an, eine Entlehnung des flämischen Wortes »braaden«, zu Deutsch »braten«. Es verweist auf die öffentliche »Braderie«, in der hier vom 15. Jahrhundert an gebratene Hühnchenschenkel vom Massenpublikum mit den Händen verspeist werden konnten. Wegen einer Geflügelpest wurde diese Tradition dann aber unbeliebt, und allmählich bürgerte sich die heutige Leibspeise der Nordfranzosen ein: Miesmuscheln, serviert mit Pommes frites und literweise Bier. Wie die Hühnchen sind die moules-frites ein preiswertes Nahrungsmittel, das mit den Händen gegessen wird, was nicht nur den eher plebejischen Charakter der Braderie widerspiegelt, sondern auch repräsentativ ist für die flämische und picardische Küche, die sich mit ihrer Vorliebe für schwere Biereintöpfe und dem in allen Varianten dargereichten Stinkkäse Maroilles bis heute resistent gegen die teure Sparsamkeit der nouvelle cuisine zeigt. Auf das »Volkstümliche« hält man sich denn auch einiges zugute: »Wir Restaurantbesitzer konkurrieren jedes Jahr darum, wer am Ende der Braderie den größten Muschelberg vor seinem Lokal aufgetürmt hat«, erklärt Benoît Gardes, Besitzer des Restaurants »Aux Moules«. »Deshalb muss in der Nacht von Samstag zu Sonntag einer meiner Kellner den Muschelberg bewachen, natürlich erst einmal aus Gründen der Sicherheit, damit keiner reinfällt und sich womöglich verletzt, aber auch, weil ja jemand auf die Idee kommen könnte, uns die Muscheln zu klauen.« Sein Loblied auf die glitschigen Meeresfrüchte nimmt ungeahnte Dimensionen an, wenn er in ihrem Verzehr die universellen Menschrechte verwirklicht sieht: »Die Muscheln haben eine ganz besondere Bedeutung für uns, denn man isst sie ja mit den Händen, und das ist eine Geste sozialer Gleichheit. Wir sind alle gleich, wenn wir Muscheln essen.«
Auch Dilettanten, die in der Pariser Kunstszene kaum eine Chance haben dürften, stellen hier auf der Straße ihre Arbeiten aus. Der »Anarchokünstler« Jean Rumain verwandelt Kleiderpuppen in Punks, indem er ihre Körper mit Zeitungsauschnitten, linken Parolen und Porträtaufnahmen unterschiedlichster Personen, darunter natürlich auch das unvermeidliche Konterfei Che Guevaras, beklebt. Einer stehenden Figur, deren Irokesenschnitt aus einer pinken Besenbürste besteht und die den Mittelfinger austreckt, prangt das Wort »Contestation« (Protest) auf der Stirn. Der Brustkorb ist mit einem Sticker überklebt, der das freie Plakatieren fordert, der rechte Oberschenkel verlangt die Legalisierung illegaler Einwanderer, und auf dem Fuß steht »Vive la grève« (Es lebe der Steik). »Mit meiner Arbeit zeige ich, was ich von unserer kapitalistischen Gesellschaft halte – nämlich absolut gar nichts«, sagt Rumain, der aber, sobald er mitbekommt, dass man für die Punkerin keine 600 Euro ausgeben will, kein unnötiges Wort mehr verliert und sich dem nächsten Inter­essenten zuwendet. Weit Seltsameres findet sich ein paar Straßen weiter, wo ein ungeheuerlicher Tisch mit passendem Stuhl steht. Aus Schraubenschlüsseln und Getriebeteile wie Zahnrädern, Stoßdämpfern und Ketten zusammengeschweißt, erinnern beide Gestelle an das unheimliche Wesen aus Ridley Scotts Film »Alien«, bloß ohne Sabber und Schleim. Wer in den Armen des einen Alien sitzend seine Leibspeise verzehren würde, während der andere unter der Glasplatte lauert, den überkäme unweigerlich das Gefühl, bald selbst verschlungen zu werden. Viele der Passanten finden Gefallen an dem Schauer, den das Stahl-Duo auslöst, die übrigen finden das »echt widerlich und monströs«, gleichgültig lässt es niemanden.

Deutsche, die sich hierhin verirren, stoßen nach einer Weile auch auf unheimlich Heimisches. Anders als die Schatulle, auf der in goldenen Lettern »Münzen« steht, bedürfen der Gartenzwerg und das bayerische Dirndl keines Schriftzugs – woher der schlechte Geschmack in Kleidungs- und Ausstattungsfragen stammt, ist jedermann bekannt, allzu weit weg von der deutschen Grenze ist man hier nicht. Allerdings muss man solch folkloristischen Schund schon länger suchen. Häufiger jedoch stößt man auf Stände, die deutsches Militärgut aus den beiden Weltkriegen anbieten. Mit vernehmlich deutschem Akzent danach gefragt, wo die verbeulten Helme und zerschlissenen Uniformen aufgelesen wurden und wer daran welches Interesse hat, geben sich die Händler bedeckt: »Wissen Sie, man muss halt irgendwo ­suchen, dann wird man auch fündig«, lautet die nichtssagende Antwort, gefolgt von dem weit beängstigenderen Vorschlag: »Machen Sie mal ein Foto von dieser Uniform, bei der ist das Hakenkreuz gut zu sehen.«
Doch möglicherweise sprechen solche Objekte nicht nur obskure Militärfreaks an, denn es sind zugleich Erinnerungsstücke aus der von der deutschen Besatzung geprägten Geschichte der Region, die im Alltagsgedächtnis der nordfranzösischen Bevölkerung einen festen Platz hat. Historische Ereignisse wie der Stellungskrieg an der Somme, der die verlustreichste Einzelschlacht des Ersten Weltkriegs war, oder der Kessel von Dunkerque, der erst am 9. Mai 1945 von den Alliierten wieder eingenommen werden konnte, weshalb die Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs zu 80 Prozent zerstört war, haben die Region verwüstet und auch langfristig der Armut ausge­liefert.
In den beiden Nachkriegszeiten hatte die Braderie existentielle Bedeutung für die ausgeplünderte Bevölkerung. In dieser Zeit glich sie einer riesigen Tauschbörse, bot sie doch der Bevölkerung ein Forum, um die materielle Lebensgrundlage zu erschwinglichen Preisen sichern zu können. Obwohl man hier mittlerweile auch die nutzlosesten Dinge erwerben kann, hat sie diesen Charakter bis heute nicht verloren. Die 60jährige ­Lillerin Françoise etwa trödelt jedes Jahr allein deshalb auf der Braderie, um ihre mickrige Rente von 890 Euro pro Monat aufzubessern und sich kleine Träume zu erfüllen: Für nächstes Jahr plant sie ein Wochenende in Paris.