Island als queere Insel

Schwule Wikinger und queere Elfen

Die Männer zu weich, die Frauen zu hart: Was Reiseschriftsteller über die islän­dische Gesellschaft verbreiten und wie queer es wirklich auf der Insel zugeht.

Adrian Mohr, ein Weltenbummler aus Deutschland, macht sich 1923 auf den Weg nach Island. Hier, so weiß Dr. Mohr, fest verankert im national-kolonialen Geist, leben Menschen, die »zwar keine Chinesen oder Papuas, nicht einmal Eskimos sind, sondern ein durchaus zivilisiertes Völkchen; aber eine Sprache reden sie – – –!« In seinem 1925 erschienenen Buch »Was ich in Island sah!« möchte der Ethnologe seine Landsleute davor warnen, sich falsche Vorstellungen zu machen. Auf »den Deutschen«, weiß er, übe Island eine »unergründliche Anziehungskraft« aus.
Angekommen in Reykjavík, stellt er fest: »Das jetzt heranwachsende Geschlecht ist fast noch ›schlaksiger‹ als seine Väter.« Und: »Vor jedem männlichen Auftreten weichen sie zurück.« Zwar fühlten sich die Isländer als Wikinger, »aber nur solange die Sache hübsch theoretisch bleibt«. Verwundert notiert er, die Männer seien »entschieden zu weich«. Zwar schwärmten die Isländer einerseits von den Heldentaten ihrer Ahnen aus der Sagazeit, seien selber aber erklärte Pazifisten: »Sie können nicht begreifen, dass einem Deutschen das vierjährige Ringen für das Vaterland eine heilige Sache ist und nichts Verabscheuungswürdiges.« Tatsächlich haben die Isländer seit Besiedlung der menschenleeren Insel um 870 niemals Angriffskriege geführt und sich – bis auf eine Beteiligung an George W. Bushs »Koalition gegen den Terror« und einen Kabeljaukrieg um die 200-Meilenzone – jeder umfassenderen Kriegs­praxis strikt enthalten. Außerdem: Wie sollte denn eine dünn besiedelte Polarinsel verteidigt werden, die weder Soldaten noch eine eigene Armee kennt?
Ausführlich registriert der deutsche Reiseschriftsteller die »Schlappheit« der Männer und empfiehlt »brutale Zucht« nach Art deutscher Kasernen. Die isländischen Frauen sind ihm dagegen entschieden zu selbstbewusst: »Manche erinnert mich gar an den kämpferischen Brünhilde-Typus.« Einen »krankhaften Zug« entdeckt der Ethnologe auf den Gesichtern der Männer: Sie hätten sich ausnahmslos dem amerikanischen und englischen Ideal von »Männerschönheit« gebeugt. Dabei erwähnt er Jazzmusik, die ein stadtbekanntes deutsches Trio im Hotel Reykjavík dargeboten habe: »Das war einmal Musik nach dem Herzen – nein: nach den unempfindlichen Ohren der Isländer.« Und schließlich übersetzt er, als Beweis isländischer Naivität, die zärtliche Liebes­ode eines jungen isländischen Dichters, die dieser an den Geiger des Trios richtete: »Spiele Göttlicher, ja spiele!/Töne zaubre, hell und rein! –/beug’ mich preisend dem Gefühle,/Sklave deiner Kunst zu sein!«

Über die besondere Unmusikalität der bis 1750 sehr isoliert lebenden Isländer, die noch einige im Resteuropa längst ausgestorbene mittelalterliche Gesänge pflegten, berichtete der schwedische Bischof Uno von Troil 1772. Als Zeichen ihrer besonderen Primitivität sieht er die schrecklichen tvísöngur: »Ein Fremder findet hieran gleichwohl wenig Vergnügen, denn die Isländer singen überhaupt sehr schlecht ohne Takt und ohne Annehmlichkeit, besonders da sie von den neueren Annehmlichkeiten der Musik nicht die geringste Kenntnis haben.« Auch Konrad Keilhack, ein 1858 geborener deutscher Geologe, ist schnell überzeugt von der Unmusikalität, Unzivilisiertheit und Unsittlichkeit der Inselbewohner. Besonders aber schockiert ihn die Verabschiedung des Sängers, der seine Lippen auffordernd gegen ihn spitzt: »Die Verabschiedung durch Kuss ist nämlich auch unter den Männern, selbst wenn sie sich kaum kennen, außerordentlich verbreitet, und wir haben gesehen, wie Jünglinge und Männer einander wie Verliebte bei Begrüßung und Abschied abküssten, ein Anblick, der wahrlich nicht schön ist.«

Das aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammende isländische Gesetzbuch Grágás forderte für Männer, die Frauenkleidung tragen, sowie für Frauen, die Männerkleidung tragen, eine milde Form der Verbannung, konkret: ein eingeschränktes Aufenthaltsrecht für die Dauer von drei Jahren. Im 17. Jahrhundert stellt der niederländische Pastor Diethmar Blefken jedoch fest, dass es schwierig sei, Männer und Frauen auf Island voneinander zu unterscheiden, da beide Geschlechter nur über eine Tracht verfügten. In seinem nach »eigener Anschauung« verfassten Reisebericht aus Island ersinnt er ein barockes Panoptikum, welches mitsamt der darin geschilderten Absurditäten und Übertreibungen lange Zeit das Bild des Landes auf dem europäischen Kontinent prägen sollte. So unterstreicht Blefken die besondere Unkultiviertheit und Unzivilisiertheit der Bevölkerung. Insbesondere die Isländerinnen würden sich lüstern und schamlos jedem fremden Seefahrer in die Arme werfen.
Armut und Not prägten das Land über viele Jahrhunderte. Verärgert bildet der isländische Humanist Arngrímur Jónsson in einer Gegenschrift Diethmar Blefken als Affenmutter ab: der Affe und die Äfferei als Bild der Primitivität und Gegenstück zur Zivilisation. Allmählich unterscheidet der fremde Blick die Geschlechter durch ihre Kleidung, nur die Schuhe bleiben unisex. Der französische Seefahrer Yves Joseph de Kerguelen de Tremarec stellt 1772 fest: »Die Mannspersonen sind beynahe wie unsre Matrosen gekleidet. (…) Die Frauenzimmer tragen Röcke, Wämsser und Schürzen von einem wollenen Zeuge (…). So wohl Männer als Weiber tragen Schuhe von Rindsleder oder von Schaffellen.«
Sechzig Jahre später taucht vor dem britischen Geschichtsschreiber John Barrow in Island ein Wesen auf, dessen Geschlecht ihm so unbestimmbar erscheint, dass er es in die Nähe eines »Hottentotten« und des hybriden, im Wasser und auf dem Land lebenden Amphibiums rückt: »Das einzige menschliche Wesen, welches außer dem Geistlichen und seiner Frau noch zum Vorscheine kam, war zweifelhaften Geschlechts, ein Geschöpf amphibischer Natur. Anfänglich hielt ich es für einen Mann, doch bald wurde mir aus dem Bau der oberen Hälfte des Körpers klar, dass ich ein Weib vor mir habe. Der untere Teil ihres Anzuges bestand aus einem Paar knapp anliegenden Beinkleidern von ganz lichtbrauner, der Menschenhaut fast ähnlicher Farbe. Dieses vierschrötige Wesen von ganz hottentottischen Formen, in solcher Kleidung, entlockte mir den fast unwillkürlichen Ausruf: Monstrum horrendum, informe, ingens – ein lumen ademptum war jedoch nicht vorhanden. Dieß war das einzige behoste weibliche Geschöpf, welches ich sah, und ich will gern glauben, daß sie in der Eil den Unterrock überzuwerfen vergaß.«
Es heißt, dass Homosexualität in Island selten sei, schreibt mit deutlich ironischem Unterton der schwule englische Autor W. H. Auden in seinem 1936 erschienenen Buch »Letters from Iceland«, während der straighte isländische Nationalschriftsteller Halldór Laxness Homosexualität damals noch für eine typisch zivilisatorische Erscheinung im Land hält. Große Aufregung registriert Auden während seines Island-Aufenthaltes im Juli 1936. Görings Bruder und Alfred Rosenberg werden am Abend erwartet: »Die Nazis haben die Theorie, dass Island die Wiege der germanischen Kultur sei. Gut, wenn sie eine Gesellschaft haben möchten, wie die der Sagas, dann sind sie dazu herzlich eingeladen. Ich liebe die Sagas, aber was für eine verkommene Gesellschaft beschreiben sie, eine Gesellschaft, wo ausschließlich die Tugenden von Gangstern gelten.« Auch die älteste altnordische Transvestitenkomödie, die mittelalterliche »Thrymskvida«, endet brutal: Der als Braut Freyja mit Schleier und Schmuck getarnte Macho-Donnergott Thor schlägt am Ende den Bräutigam und das ganze Riesengeschlecht tot, Blut fließt in Strömen. Im isländischen Originaltext hat Thor zunächst große Angst davor, für argr gehalten zu werden. Alle deutschen Übersetzungen vereinfachen hier auf »weibisch«, argr umfasst dabei wohl eher die heute verwendeten Begriffe »schwul«, »unmännlich«, »passiv« und »homosexuell«.

Am 27. Juni 1996 brachte Justizminister Thorsteinn Pálsson von der konservativen Regierungspartei ein Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare ins isländische Parlament ein. 24 Abgeordnete stimmten dafür, nur Árni Johnsen, ein christlicher Fundamentalist, war dagegen. Die heutige Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardottir nutzte die Einführung des Gesetzes damals, um umgehend ihre langjährige Freundin zu ehelichen – später wird sie deshalb die erste offen homosexuelle Ministerpräsidentin der Neuzeit werden. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes tritt Popstar Páll Oskar als erster offen schwuler Sänger im Grand Prix Eurovision 1997 für Island an. »Gerade weil der Eurovision Song Contest am musikalischen Tiefpunkt angelangt war, ein Treffpunkt spießiger, verklemmter Schwuler mit unglaublich schlechtem Geschmack – denk nur an Cliff Richard –, war es mir besonders wichtig, im internationalen Pressetext darauf hinzuweisen, dass auch ich schwul bin«, schreibt er. Zwei Jahre darauf diskutieren Mitglieder der isländischen Lesben- und Schwulenorganisation Samtökin 78, ob das Land nicht endlich auch so etwas wie einen Christopher Street Day feiern sollte. Im Jahr 1999 bietet sich mit dem 30. Jubiläum von Stonewall, dem legendären Aufstand gegen polizeiliche Übergriffe in der New Yorker Subkultur, der historische Anlass. Zunächst sind es etwa 1 000 Menschen, die sich bei den »Hinsegin dagar«, den queeren Tagen, zu einem Konzert der Band Sigur Rós versammeln.
Der CSD wächst in rasantem Tempo, ist bereits im Jahr 2002 die größte Veranstaltung Islands. Mit über 40 000 Teilnehmern können es die »Queeren Tage« zahlenmäßig sogar mit dem 17. Juni, dem isländischen Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag, aufnehmen. »Wegen des enormen Erfolgs des Ereignisses waren wir dringend darauf angewiesen, finanzielle Unterstützung zu bekommen«, sagt der Veranstaltungsmanager Heimir Már. Das funktionierte in Zeiten der Finanzblase problemlos. Von Beginn an stellten Hotels Zimmer zu Verfügung, und Iceland Air sponsorte Flüge für Künstler vom europäischen und amerikanischen Kontinent.
Isländische Lesben und Schwule sind sich bewusst, dass ihr Freiheitskampf keinesfalls von dem Generalstreik der Frauen im Sommer 1975 in Island zu trennen ist. Die Mehrheit der Frauen, nämlich 95 Prozent, forderte damals die völlige rechtliche Gleichstellung, sie legten einen Tag lang die Arbeit nieder. Arbeiterinnen, Hausfrauen, Angestellte, Bäuerinnen – keine Frau tat ihre alltägliche Arbeit. Mit durchschlagendem Erfolg: Die Gesetze wurden umgehend geändert.
Während sich eine schwullesbische oder homonationale Identität in der Millionenstadt Berlin entwerfen lässt und entsprechende Aus- und Abgrenzungen hervorbringt, kann es sich im »kleinen« Island niemand leisten, ausschließlich lesbisch, schwul, männlich oder weiblich zu denken. Bei nur 320 000 Einwohnern ist eben eine gewisse Interdisziplinarität, bzw. ein »hinsegin« – queeres Denken – überlebenswichtig.

Die »Queeren Tage« in Island werden allmählich zu einem Familienfest. Auch die straighten Isländer solidarisieren sich zu über 90 Prozent mit den Forderungen ihrer lesbischen, schwulen oder transsexuellen Mitbürger. Tatsächlich existiert wohl kein CSD auf der Welt, an dem so viele Menschen ungeachtet ihrer eigenen sexuellen Orientierung zusammenkommen. Im Verkleidungswettbewerb konkurrieren Drag-Queens und Drag-Kings mit Kindern, die hier Prinzessin und Prinz spielen können. Islands Kinder nennen den Gay Pride erwartungsfroh den »Prinsessingöngu«, den Marsch der Prinzessinnen. Karneval, Bürgerrechtsmarsch, Love Parade, Party – es ist alles in einem. Nach dem Zusammenbruch der privatisierten isländischen Banken und dem Platzen der Finanzblase verschwindet allerdings die Großzügigkeit der Sponsoren. Zwar ist Island nach wie vor insgesamt sehr »gay friendly«, aber die Krise lässt, wie überall anders auch, unangenehm nationalistische Töne laut werden. Und da Flüge für Popstars aus dem Ausland nicht mehr von Iceland-Air gesponsort werden, wimmelt es nun auf der Bühne beim isländischen CSD von lokalen Bands und Sängern, die unterschiedlichste Varianten lokaler Popmusik darbieten. Angesichts der ökonomischen Härten wird das Partyfeiern zwar nicht aufgegeben. Aber ob die Isländer sich nun eher den altbekannten vermeintlichen Eindeutigkeiten zuwenden oder Probleme »queer« angehen, ist noch unentschieden.