Die Protestbewegung in den USA

»I want my fucking money back!«

Von »Occupy Wall Street« zu »Occupy Everything«. Spätestens nach dem globalen Aktionstag am 15. Oktober ist die Occupy-Bewegung zu einem internationalen Label geworden. Den überwiegend aus der Mittelschicht kommenden Anhängerinnen und Anhängern geht es allerdings vor allem um innenpolitische Fragen.

Sandy ist 67 Jahre alt und stinksauer. Sie hat ihr ganzes Leben im New Yorker Stadtteil Queens verbracht und war seit Jahrzehnten nicht mehr auf einer Demonstration. Doch nun ist ihre Geduld am Ende, und so steigt sie an diesem sonnigen Oktobersamstag mit ihrer Nachbarin in die U-Bahn nach Manhattan, zum Washington Square Park. Dort beginnt die Demonstration von »Occupy Wall Street«, kurz OWS. Viele Stunden später steht Sandy auf einer Getränkekiste, mitten auf dem Times Square, umringt von Demonstrierenden und Touristen. »Ich will Essensmarken, Krankenversorgung und öffentlichen Nahverkehr!« Hunderte Stimmen wiederholen ihre Sätze. Es ist das »People’s Mic«: Da keine Megaphone erlaubt sind, sprechen die Umstehenden einfach die Worte der Rednerinnen und Redner nach. »Ich habe diesem Staat mein Geld gegeben, und nun haben es die Banken. I want my fucking money back!«

Sandy erntet dafür nicht nur von den Umstehenden Zustimmung. Seit mehreren Wochen wird in den USA über den Zustand der Nation debattiert, in Zeitungen, Talkshows und sozialen Netzwerken. Während die Proteste in der Wall Street anfangs ignoriert und dann als »Neo-Hippie-Zeltlager« abgetan wurden, wird die innenpolitische Diskussion nun von der neuen Bewegung dominiert. Einer Umfrage des Time Magazine zufolge sympathisieren 54 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit der OWS-Bewegung, die eine umfassende Auseinandersetzung um Umverteilung und die politische Kontrolle der Finanzmärkte ausgelöst hat. In den Debatten geht es nicht um die Systemfrage oder den Kapitalismus an sich, sondern vor allem um den Finanzsektor, die Macht der Banken und deren Einfluss auf die Politik.
Nach dem Wahlsieg Barack Obamas blieb der von vielen erhoffte »Change« aus. Stattdessen wurden weitere »Rettungspakete« für die Banken geschnürt, die Staatsverschuldung steigt ebenso wie die Arbeitslosenquote. »Viele von uns haben Obama gewählt, aber wir haben nichts als Enttäuschungen erlebt. Selbst die staatliche Krankenversicherung konnte er nicht wirklich umsetzen«, sagt etwa Elissa Danley. Die 21jährige Studentin ist von der Westküste nach New York gereist, um an den Protesten teilzunehmen. Mit schwarzem Halstuch, Anarchie-Zeichen auf dem T-Shirt und einem Schild, das für die Solidarität mit dem griechischen Aufstand wirbt, sieht sie aus wie eine einsame Vertreterin des schwarzen Blocks. Doch Elissa lehnt militante Aktionen ab und weiß auch nicht, ob sie gegen den Kapitalismus insgesamt ist. »Ich bin wütend, weil die Banken gerettet wurden und für den kleinen Mann nichts übrig bleibt«, sagt sie an einem Dienstagabend am besetzten Zuccotti Square im Financial District New Yorks.
Die staatlichen Maßnahmen zur Rettung einiger größerer Banken waren auch entscheidend für die Formierung der konservativen Tea-Party-Bewegung. Doch die beiden Bewegungen eint lediglich die Ablehnung der staatlichen Finanzhilfen. Die Tea Party will möglichst wenig staatliche Eingriffe in das wirtschaftliche Geschehen. Um das zu erreichen, versuchen deren Anführerinnen und Anführer, an politische Ämter zu kommen. Die OWS-Bewegung formuliert dagegen klassisch sozialdemokratische Forderungen, scheint aber die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass diese im gegenwärtigen Parteiensystem durchgesetzt werden können. Die einen wollen regieren, um den Staat zu minimieren; die anderen wollen nicht in die Regierung, appellieren aber an sie.

In einem sind sich die meisten US-Amerikanerinnen und -Amerikaner immerhin einig: »Das Land geht in die falsche Richtung«. Dieser Aussage stimmen einer Umfrage des Wall Street Journal zufolge 84 Prozent der Befragten zu. Es sind vor allem Angehörige der Mittelschicht, die nun feststellen, dass die Sicherheit, an die sie geglaubt haben, langsam erodiert. Existentielle Unsicherheit ist für Millionen US-Amerikaner und Hunderttausende Einwanderer ohne Papiere keine neue Erfahrung. Während die ersten hundert Studentinnen und Studenten Mitte September den Zuccotti Square besetzten, fand in der Lower East Side eine Veranstaltung zum zehnten Jahrestag des Erscheinens des Buchs » Nickel and Dimed: On (Not) Getting by in America« (auf deutsch erschienen als: »Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft«) statt, in dem Barbara Ehrenreich den Alltag der Verliererinnen und Verlierer des amerikanischen Traums beschreibt: unsichere Arbeitsbedingungen, mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen, und die Unmöglichkeit, Alters- und Krankenversicherung oder eine gute Ausbildung für die eigenen Kinder zu finanzieren. In den vergangenen zehn Jahren sind die Einkommensunterschiede größer geworden. Etwa 84 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums sind im Besitz der vermögenden 20 Prozent. Damit ist die Lage zwar nicht ganz so extrem, wie die »99 Prozent«-Rhetorik suggeriert, aber dennoch nimmt ein Großteil der Bevölkerung diese Verteilungsunterschiede als ungerecht wahr.
Und die Grenzen verlaufen nicht nur zwischen Oben und Unten. Laut einer Umfrage des Pew Research Center ist das durchschnittliche Vermögen einer weißen US-amerikanischen Familie 18 Mal höher als das einer hispanoamerkianischen und 20 Mal höher als einer afroamerikanischen Familie. Doch bisher beteiligen sich vor allem Angehörigen der weißen Mittelschicht an den OWS-Protesten in New York. Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal, Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter und Studierende hielten die meisten Redebeiträge bei der Demonstration am vergangenen Samstag am Times Square. Und auch viele der hundert Dauerbesetzerinnen und -besetzer am Zuccotti Square kommen nicht aus den ärmsten Schichten.

Wichtig für die neue Bewegung waren daher auch die Solidaritätserklärung der großen New Yorker Gewerkschaften und die gemeinsame Demonstration im Finanzbezirk Anfang Oktober. Zuvor debattierten die Anhängerinnen und Anhänger der OWS-Bewegung, ob sie sich dem Umzug der Gewerkschaften überhaupt anschließen sollten. Viele hatten Bedenken, die Bewegung könne vereinnahmt werden. Unbegründet sind solche Überlegungen nicht: Da weder Occupy Wall Street noch andere Ableger der Bewegung sich bisher auf Forderungen einigen konnten, besteht ein großer Bedarf an inhaltlicher Konkretion. So hat man in die Bewegung bisher viel hineininterpretiert, was man gerne sehen möchte. Das gilt für die etablierten Medien ebenso wie für die Aktivistinnen und Aktivisten selbst. Ein breiter Konsens scheint jedoch in der Wahl der Mittel zu bestehen. »Gewalt lehnen hier alle ab«, sagt etwa Glean Rehn. Der Endzwanziger ist in New York aufgewachsen und war bereits am ersten Tag der Besetzung dabei. Er und andere berichten zwar von immer wiederkehrenden Diskussionen über die Taktik bei Demonstrationen, doch dabei geht es eher um Fragen wie die, ob man besser auf der Straße und nicht nur auf dem Bürgersteig laufen solle. Anhängerinnen und Anhänger militanter Politik scheint es in der Bewegung nicht viele zu geben.
Die Offenheit der Protestierenden gegenüber den Medien und die friedlich verlaufenden De­mons­trationen werden in der Presse immer wieder als Hauptgründe für deren Popularität genannt. Gerade in den ersten Wochen konzentrierten sich die Beiträge sehr auf die einzelnen Protestierenden, auf deren Biographien und auf die Organisation des Zusammenlebens auf dem Zuccotti Square. Auch den Demonstrierenden scheinen Organisationsfragen mitunter wichtiger zu sein als Auseinandersetzungen über die Inhalte des Protests. Tagtäglich treffen sich etliche Komitees, um den Platzes sauberzuhalten. Viele Beteiligte konzentrieren sich auf die Organisation des Besetzeralltags. Dass von dieser Form des Zusammenlebens ein Impuls in die Gesellschaft ausgehen wird, ist eher nicht zu erwarten.
Viele sind angetan von der Aufbruchsstimmung und der Offenheit des Protests. Alle können an den täglichen Vollversammlungen teilnehmen, bei denen die Anwesenden oft mit: »Hi beautiful people!« begrüßt werden und viele Rednerinnen und Redner sich mit dem Satz »I love you!« verabschieden. Doch das inklusive Konsens­prinzip ist zeitaufwendig und angesichts der großen Fluktuation der Teilnehmenden zeigen sich einige der Vollzeitaktivistinnen und -aktivisten langsam frustriert. »Manchmal denke ich, dass wir uns vielleicht zu sehr auf uns selbst konzentrieren und deshalb mit anderen Gruppen nicht ins Gespräch kommen«, sagt etwa Emily. Sie hat die Human Rights Working Group gegründet, »um sicherzustellen, dass alle hier über die Menschenrechte Bescheid wissen und diese gegenüber dem Staat einklagen können.« Solche und andere Fragen werden in Arbeitsgruppen diskutiert und auch online finden Debatten über verschiedene politische und soziale Fragen statt. Trotzdem vermag es die OWS-Bewegung nicht, auf andere Organisationen zuzugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zwar besuchen verschiedene Initiativen den Park und werden freundlich aufgenommen. Jenseits von zufälligen Bekanntschaften einzelner Aktivistinnen und Aktivisten findet aber keine Vernetzung mit den bestehenden Gruppen statt. Vor allem den jüngeren Anhängerinnen und Anhängern der Bewegung, die sich hier zum ersten Mal politisch engagieren, kommt es auch gar nicht in den Sinn, aktiv nach Bündnispartnerinnen und -partnern zu suchen. Sie glauben tatsächlich, für 99 Prozent der US- amerikanischen Bevölkerung zu sprechen. Bestärkt werden sie darin durch die virtuelle Selbstbespiegelung. Die sozialen Netzwerke sind die Multiplikatoren für die Aktionen der Bewegung, doch bisher werden die Möglichkeiten der Online-Plattformen für inhaltliche Diskussionen und Bündnisarbeit kaum genutzt. Umso effizienter sind sie aber bei der Mobilisierung. Als am Freitag vergangener Woche eine Räumung des Platzes befürchtet wurde, wurde via Twitter, Facebook und andere Netzwerke zur friedlichen Verteidigung des Platzes aufgerufen. Nun scheint diese Gefahr vorerst gebannt, doch eine andere Bedrohung rückt unaufhaltsam näher: der harte New Yorker Winter.
Im Gegensatz zu ihren Vorbildern am ägyptischen Tahrir-Platz haben die Protestierenden an der Wall Street die Dauer der Besetzung nicht von der Erfüllung bestimmter Forderungen abhängig gemacht. So besteht die Möglichkeit, dass die kalten Temperaturen das Problem für den New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg allmählich lösen. Welche praktischen Auswirkungen die Besetzung des Zuccotti Square aber auf die US-amerikanische Innenpolitik und den Präsidentschaftswahlkampf haben werden, wird sich noch zeigen. Vorerst werden Sandy aus Queens und Millionen anderer US-Amerikanerinnen und -Amerikaner ihr Geld wohl nicht wieder zurückbekommen.