Abschied vom letzten linken Studenten

Von wegen dagegen

Der letzte linke Student geht von der Uni. Wir verabschieden uns von ihm.

Einmal hatten Jörg Sundermeier und ich ein langes Gespräch über das mutwillige Herstellen von Unterschieden aus Angst davor, vielleicht doch nicht einzigartig zu sein; über die Abstiegspanik, die im Snobismus steckt, über die ökonomisch begründete Furcht, die manche Medienmenschen in politische Vorbehalte gegen andere ummünzen, damit sie nicht ganz so vulgär aussieht, wie sie ist. Irgendwann in diesem Gespräch bezeichnete ich einen im Raum befindlichen Wellensittich als Säugetier, weil ich veranschaulichen wollte, dass man mit den Kategorien ja manchmal auch machen kann, was man will, und trotzdem verstanden wird. Jörg wiederum nahm einen Topf aus der Spüle, hielt ihn hoch und sprach: »Das ist kein Topf, das ist gebogenes Metall.« Ein paar Minuten später, wir hatten unseren Hauptgesprächsfaden weniger verloren als vielmehr mit den Zähnen zerbissen, gefiel ihm dieser Einfall schon wieder nicht mehr, und er setzte einen noch viel besseren drauf: »Das ist kein Topf, das ist ein Topf.« Es war, als wäre Heidegger plötzlich vernünftig geworden und hätte Mittel und Wege gefunden, aus seinem komischen Verfahren der philosophisch verbrämten Sprachbefummlung einen für akzeptable menschliche Zwecke einsetzbaren Nutzen zu melken.
Jörgs Kolumnen über den letzten linken Studenten leisten etwas ähnliches: Manchmal ist mir, wenn ich sie lese, als wären diverse deutsche Satiriker der vergangenen 30 Jahre – von der Neuen Frankfurter Schule abwärts, außerdem sämtliche Verfasserinnen und Verfasser aller seither erschienenen Uni-Romane und alle Leute, die noch einmal ausholen, um mit umfassender Bewegung des kritischen Tennisarms alles vom Tisch zu wischen, was seit der situa­tionistischen Analyse des Elends im Studentenleben an neuen Formen der juniorakademischen Selbstverdummung dazugekommen ist – mit einem Schlag gemeinsam vernünftig geworden. Jörg hat, das ist allein schon eine schriftstelle­rische Tat, von der man in den trostlosen Niederungen der Literaturbeilagen und der Buchpreisjurys nie etwas wissen wird, die Verwertbarkeit des Doppelpunkts für die sprachliche Verhinderung des Stillstellens politisch-psychologischer Widersprüche entdeckt, erprobt und bis zu einer musikalischen Reife verbessert, die Sätze hervorbringt der Güteklasse: »Nun weiß jedes Kind: Bücher machen schlau. Und Bücher aus Frankreich: oft ganz besonders.«
Manchmal ist Jörg komplett anderer Meinung als ich; das sehe ich daran, dass dieselbe Haltung mehrere Meinungen zulässt, und über diese unangestrengte Belehrung über den Unterschied zwischen Meinung und Haltung bin ich glücklicher als über alles, was ich während meiner sehr, sehr kurzen Zeit an der Universität Anfang der neunziger Jahre des jüngstversunkenen Jahrhunderts habe lernen können. Mir sind, das ist die erste Pointe, Studentinnen und Studenten wie die, die Jörg beschreibt, wenn er nicht nur den letzten linken Studenten, sondern auch diejenigen schildert, an denen er seine Ausreden aufhängt, damit sie wie ein Mobile über seinem dicken Kopf zittern und sich drehen, weil ihn das von etwas ablenkt, das er ums Verrecken nicht sehen kann und für dessen Benennung sich in der Sprache, die Jörg und ich beide sprechen, und die eben auch eine Intellektuellen- und Literatursprache ist, so sehr sie sich danach sehnt, eines Tages etwas anderes, Wahrhaftigeres zu werden – also, mir sind solche Studentinnen in ihrem natürlichen Habitat eigentlich nie begegnet. Ich hatte es in meiner wie gesagt kurzen – aus Unlust an den dabei aufkommenden Problemen und Appetit auf ganz andere Probleme –, abgebrochenen Studienzeit eher mit Studierenden zu tun, wie sie damals noch gar nicht gefordert waren, inzwischen aber eine Norm darstellen, gegen die sich Jörgs verkrachte Hauptfigur immerhin mit dumpfer Neunmalklugheit (doch, sowas gibt es. Ich weiß es auch erst, seit ich Jörgs Kolumne kenne, aber das gibt es wirklich) sperrt: mit Leuten, die wirklich nur Scheine wollen und dir sogar schon, warst du denn unvorsichtig genug, sie danach zu fragen, mitteilen konnten, was sie »später mal machen« wollten. Gebloggt hätten sie bestimmt auch gerne. An dieser Stelle würde ich jetzt am liebsten einen längeren Exkurs darüber riskieren, was eigentlich eine Kolumne, die ihre formale Bürde mit dem nötigen Ernst auf sich nimmt und deren Autorschaft von großer Verantwortlichkeit auch für die klebrigen und unerfreulichen Attribute des Kolumnenwesens geprägt ist, von einem Blog unterscheidet. Aber wenn ich das täte, geriete ich rasch in eine Form des Argumentierens, die hinter all das zurückfällt, was Jörg seinen Leserinnen und Lesern eben nicht argumentierend, sondern auf ganz besondere, entschieden antinaturalistische Weise erzählend beigebracht hat. Sachen wie: dass ein Argument, wenn man es tatsächlich zu leben versucht, sehr schnell keines mehr ist und anders behandelt zu werden verlangt als eine richtige Beobachtung oder eine zutreffende Folgerung; dass ein Mensch kein Flugblatt ist; dass eine These kein Befehl ist; dass eine Wahrheit keine Rechtfertigung für das Abschneiden einer anderen, scheinbar entgegengesetzten Wahrheit sein darf; dass man mit der Instrumentalisierung von Gefühlen der Abneigung gegen andere Lösungen als die selbst gefundenen nicht erst im Umgang mit anderen, sondern schon sich selbst gegenüber die äußerste Vorsicht walten lassen muss.
Lange Jahre warf ich jeden Text sofort weg, in dem die Rede davon war, irgendetwas sei irgendetwas anderem »eingeschrieben« oder »einbeschrieben«. Die Verbindung zum »sich einschreiben« an der Uni fiel mir erst heute morgen auf, und da wusste ich erst nicht, was ich mit dieser Verbindung machen soll, außer sie lustig finden. Natürlich ist Jörgs Kolumne kein Fernstudium und sein Kopf keine Uni.
Aber wären die das, ich würde mich dort ­sofort für ein sogenanntes Grundstudium einschreiben.