Zur Debatte um Intersexualität

Das x-te Geschlecht

Ist die Geschlechtsregistrierung überholt?

Schätzungsweise 10.000 Menschen leben in Deutschland, die medizinisch als »intersexuell« bezeichnet werden, weil ihre Genitalien oder ihre Geschlechts-Chromosomen nicht der Norm entsprechen. Seit zwei Jahrzehnten organisieren sie sich in Selbsthilfegruppen und politischen Netzwerken und verfolgen zum Teil ganz unterschiedliche Ziele. Zur ersten Berliner Inter-Tagung, die Anfang Oktober stattfand, reisten Menschen aus ganz Deutschland an. Der Kongress diente vor allem dem Austausch sowie der Verständigung über gemeinsame Forderungen. Diskutiert wurden aber auch juristische Strategien, um die rechtliche Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen zu erreichen.
Eine kürzlich verabschiedetete Gesetzesreform in Australien etwa ermöglicht es, dass in australischen Pässen anstelle von »M« (male) oder »F« (female) ein »X« eingetragen wird, das für »indeterminate/unspecified/intersex« steht. Nach deutschem Personenstandsgesetz wäre eine ähnliche Regelung denkbar: Das Gesetz verlangt zwar, dass das Geschlecht eines Neugeborenen standesamtlich registriert werden muss, definiert jedoch nicht, was als Geschlechtsangabe zulässig ist. 2010 erging allerdings eine neue Verwaltungsvorschrift, die festlegt: »Das Geschlecht eines Kindes ist mit ›weiblich‹ oder ›männlich‹ einzutragen.«
Die Bremer Juraprofessorin Konstanze Plett hält die neue Vorschrift für verfassungswidrig: »Sie verhindert, dass intersexuell Geborene ihre eigene Geschlechtsidentität entwickeln können. Öffentliche Belange, dass jeder Mensch nur Frau oder Mann werden darf, vermag ich nicht zu erkennen, denn Männern und Frauen wird ihre Identität ja nicht dadurch bestritten, dass auch andere Identitäten möglich sind.« Die Juristin, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt für die Rechte intergeschlechtlicher Menschen einsetzt, möchte erreichen, dass auch andere Eintragungen möglich sind, etwa »›beides‹, ›keins von beiden‹, etwas anderes oder gar nichts.«
Dieser und weitere Vorschläge sind bei einer Anhörung des Deutschen Ethikrats im Sommer dieses Jahres kontrovers diskutiert worden. Der Ethikrat soll der Bundesregierung bis zum Ende des Jahres Empfehlungen vorlegen, wie die rechtliche Situation intersexueller Menschen verbessert werden kann. Manche Intersexuelle befürchten allerdings, dass die Diskussion um die Geschlechtsregistrierung von einem viel dringlicheren Problem ablenkt: den chirurgischen und hormonellen Eingriffen an Kindern mit dem Ziel, ihre Genitalien und Körper der männlichen oder weiblichen Norm anzupassen.
Die zu einer Stellungnahme vom Ethikrat eingeladenen Organisationen intergeschlechtlicher Menschen haben sich gegen Operationen und Hormonvergabe ausgesprochen, sofern sie nicht auf Verlangen der Betroffenen erfolgen. »Seit bald 20 Jahren klagen Überlebende die verheerenden Folgen dieser Praktiken öffentlich an, darunter den Verlust der sexuellen Empfindsamkeit, schmerzende Narben im Genitalbereich, gesundheitliche Schäden infolge Kastration, Traumatisierung durch die aufgezwungenen Behandlungen, und fordern ihre Beendigung«, heißt es in einer Stellungnahme der Vorsitzenden der Schweizer Organisation zwischengeschlecht.org, Daniela Truffer. Die Organisation zeigt sich empört darüber, dass die Eingriffe weiterhin medizinischer Standard sind. Inzwischen raten allerdings auch Fachleute bei Operationen zur Zurückhaltung. Dem Verein Intersexuelle Menschen liegen jedoch Berichte vor, wonach auch in jüngster Zeit irreversible kosmetische Genitaloperationen und Hodenentfernungen an Kleinkindern erfolgt sind. »In allen Fällen«, so die Vereinsvorsitzende Lucie Veith, »lag kein medizinischer Notfall vor. Zudem waren die Eltern nicht umfassend über die Eingriffe aufgeklärt. Wir haben darüber mit Zustimmung der Eltern vor kurzem dem Ausschuss zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter berichtet. Es handelt sich um nicht hinnehmbare Menschenrechtsverletzungen.«
Nicht wenige Mediziner und Medizinerinnen meinen nach wie vor, dass die Operationen im Kindesalter aus psychologischen Gründen notwendig seien. Sie dienten der Korrektur einer »Störung der Geschlechtsentwicklung«, wie der Fachterminus lautet. Curtis Hinkle, Begründer des weltweiten Netzwerks Organisation Intersex International (OII), kritisiert den Begriff als stigmatisierend: »Intersexualität ist nicht gleichbedeutend mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Sie ist keine Krankheit oder Störung, sondern eine biologische Variation – ebenso wie Männlichkeit und Weiblichkeit!«
Wenn Intersexualität eine natürliche Varia­tion ist, ist es nur konsequent, einen dritten Geschlechtseintrag einzuführen. Das würde die Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit in der Gesellschaft befördern und zugleich Schutz vor Diskriminierung bieten. Der Verein Intersexuelle Menschen fordert daher, bei inter­sexuellen Neugeborenen nur eine vorläufige Geschlechtsregistrierung vorzunehmen. Jugend­lichen und Erwachsenen soll gestattet werden, ihren Eintrag zu ändern – und auch die Bezeichnung »zwischengeschlechtlich/intersexuell/zwittrig/andere« zu verwenden. »Das Selbstbestimmungsrecht über die Geschlechtsidentität«, sagt Lucie Veith, »ist ein hohes Gut, das wir für alle Menschen anstreben.« Veith betont, dass der Vorschlag eines vorläufigen Geschlechtseintrags und einer dritten Kategorie darauf zielt, den Bedürfnissen intergeschlechtlicher Menschen gerecht zu werden. Es gehe nicht darum, eine allgemeingültige Regelung zu formulieren.
Die Diskussion muss also noch geführt werden: Wer soll von dem dritten Geschlechtseintrag Gebrauch machen dürfen? Alle Menschen oder nur intersexuelle? Und: Sollte ausschließlich für intersexuelle Neugeborene eine vorläufige Geschlechtsregistrierung möglich sein? Wenn eine Sonderregelung ausschließlich für Intersexu­elle geschaffen würde, dann wäre wohl für die Feststellung der Intersexualität ein medizinisches Gutachten erforderlich. So wird es auch in Australien gehandhabt. Für die Änderung der Geschlechtsangabe im Pass in »M«, »F« oder »X« ist eine medizinische Bestätigung erforderlich. Immerhin ist der Geschlechtseintrag »X« auch Menschen gestattet, die, medizinisch begleitet, einen Geschlechtsrollenwechsel vollziehen – und das kann auch ohne chirurgisch-hormonelle Eingriffe geschehen.
Mit dem Vorschlag, ein drittes Geschlecht registrieren zu lassen, sind nicht alle intergeschlechtlichen Menschen einverstanden. Die Gefahr der gesellschaftlichen Stigmatisierung der als Zwitter registrierten Personen sei zu groß, gab ein Kommentar im Online-Forum des Ethikrats zu Bedenken. Zudem würden die »demütigenden Gutachtereien« durch die Medizin fortgeführt werden. Dem kann ­Ins A Kromminga, SprecherIn der Internationalen Ver­einigung Intergeschlechtlicher Menschen, nur zustimmen: »Zuallererst muss es darum gehen, der Medizin die Definitionshoheit zu nehmen. Die Geschlechtervielfalt wirft Fragen auf, die nicht medizinisch zu beantworten sind, sondern gesellschaftlich. Dazu gehört, intergeschlecht­liche Menschen als ExpertInnen in eigener Sache anzuerkennen.« Die Geschlechtsregistrierung möchte Kromminga am liebsten abgeschafft sehen. »Parallel muss die Gesellschaft das Denken in Geschlechterdichotomien verlernen. Damit würde der medizinischen Begründung ›geschlechtsanpassender‹ Eingriffe die Basis entzogen.«
In diesem Sinne forderte 2005 eine Postkartenkampagne im Kontext der Berliner Ausstellung »1-0-1 intersex: Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung« die Regierung dazu auf, den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde zu streichen. Im Berliner Wahlkampf hatte sich die Piratenpartei diese Forderung zueigen gemacht. Die Partei muss sich nun allerdings die Frage gefallen lassen, ob damit auch Gender Mainstreaming- und Antidiskriminierungsprogramme entfallen sollen. In dieser Frage könnten die Piraten – und nicht nur sie – von Juristinnen lernen, die sich für die rechtliche Verbesserung der Situation inter- und transgeschlechtlicher Menschen engagieren. So hält die Juristin Juana Remus die medizinisch-biologische Definition des Geschlechts im Antidiskriminierungsrecht für verzichtbar. Sie schlägt vor, stattdessen die aktu­elle und strukturell geprägte Lebenssituation heranzuziehen, um Ungleichheitslagen und Diskriminierungsgründe festzustellen und so deren Kompensation zu ermöglichen und einklagbar zu machen. Damit würde die Kategorie Geschlecht nicht einfach entfallen. Sie könnte allerdings nicht mehr biologisch begründet werden.