Ein Fußball-Derby im finnischen Tampere

Luchse gegen Luchskatzen

In der dritten finnischen Fußballliga spielen gleich drei Teams aus Tampere.

Es sind nicht gerade riesige Menschenmassen, die an diesem frühen Freitagabend in das Tammelan-Stadion in Tampere strömen. Dabei trifft heute das derzeit erfolgreichste Team der finnischen Stadt auf das dritterfolgreichste, was in der Praxis allerdings nur bedeutet, dass hier zwei Drittligateams aufeinandertreffen. Dabei ist Tampere die drittgrößte Stadt des Landes und so etwas wie eine Sportmetropole. Die beiden erfolgreichsten finnischen Eishockeyteams spielen hier, und auch fünf Meistertitel im Fußball gingen bereits in die Stadt zwischen den Seen. Jeweils einen davon konnten Ilves-Kissat und Ilves, die heute gegeneinander antreten werden, erringen.
Die sportliche Ausgangssituation ist dabei eindeutig. Ilves-Kissat kämpft gegen den Abstieg, Ilves hat beste Chancen auf die Aufstiegsrunde. Wie nicht anders zu erwarten, macht Ilves dann auch von Anfang an das Spiel, und es dauert keine zehn Minuten, bis Miki Sipiläinen die Gäste in Führung bringt. Der Begriff »Gäste« ist dabei jedoch eher formal, denn das Tammelan-Stadion ist Heimstätte beider Teams, und auch Tampereen Pallo-Veikot, das dritte Drittligateam der Stadt, trägt hier seine Heimspiele aus. Sipiläinen jedenfalls scheint sich hier trotzdem ganz wie zu Hause zu fühlen. Nur fünf Minuten nach seinem ersten Treffer steht er nach einem Abwehrfehler völlig frei vor Torwart Mikko Kruuti im neonpinken Tim-Wiese-Gedächtnistrikot und hat keine Probleme, aus sieben Metern per Heber das 2:0 zu erzielen.
Das Stadion hat sich in der Zwischenzeit etwas mehr gefüllt. Mit cirka 300 Zuschauern wirkt die 1931 erbaute Sportstätte mit ihrer Kapazität von gut 5 000 Plätzen allerdings noch immer ziemlich leer. Trotzdem, oder gerade deswegen, versprüht das Stadion auch an diesem Abend einen gewissen rustikalen Charme. Wer genug hat von modernen und multifunktionalen Arenen, kann hier leicht feuchte Augen bekommen. Die Haupttribüne mit ihrem neuen Dach und den Hartschalensitzen wirkt zwar leidlich zeitgemäß, die Holztribünen auf den anderen drei Seiten sind dagegen angenehm retro.
Als »retro« ließe sich auch die Fankultur bezeichnen, die hier auf den Rängen dargeboten wird. Keine Trommeln. Keine Megaphone. Keine Bengalos. Streng genommen gibt noch nicht einmal Anfeuerungsrufe. Nur einmal, irgendwann Mitte der zweiten Hälfte, versuchen sich zwei Jugendliche mit den grün-gelben Schals der Gäste an zaghaftem Rufen. Das Ganze wirkt jedoch eher halbherzig. Die anderen im Publikum beschränken sich nämlich auch weiterhin auf Applaus und Diskussionen über den Spielverlauf. Dazu wird – wie in finnischen Stadien üblich – Kaffee getrunken oder vielleicht auch das eine oder andere viel zu teure Bier.
In der Halbzeitpause – Ilves führt nach einem lupenreinen Hattrick von Sipiläinen mittlerweile 3:0 – trifft sich die versammelte Zuschauerschaft, abzüglich derer, die lieber in eine der vielen Kneipen des Bahnhofsviertels gehen, an den provisorischen Tresen unter der Haupttribüne. Eine Fantrennung scheint hier nicht nötig zu sein. Dafür wechseln die Anhänger in der Halbzeit nach altem Brauch die Kurve. In einer Ecke stehen zwei junge Punks, rauchen und trinken Kaffee. Auf die Frage, weshalb beide Teams fast den gleichen Namen haben, blicken sie etwas betreten drein. »Fußball in Tampere ist eine komplizierte Sache«, sagt einer von ihnen.
Der Verein Ilves-Kissat wurde ursprünglich 1932 in Viipuri (Wyborg) gegründet und spielte dort bis 1940. Als der Landstrich Ostkarelien, in dem Viipuri liegt, dann aber nach dem Winterkrieg von der Sowjetunion annektiert wurde, siedelte das Team nach Tampere über. Da dort jedoch bereits ein Verein mit dem Namen Ilves (Luchse) existierte, wurde der Name kurzerhand in Ilves-Kissat (Luchskatzen) geändert. Seine große Zeit hatte der Club in den Nachkriegsjahren, 1950 wurde er sogar finnischer Meister. Die anderen Ilves, die es damals bereits gab, waren in erster Linie ein Eishockeyclub und ein sehr erfolgreicher dazu. Das Fußballteam Ilves enstand dagegen erst 1975 durch eine Fusion von Tampereen Palloilijat und eben jenen Ilves-Kissat. Ein Schritt, der sich sportlich gesehen durchaus lohnte, denn Ilves setzte sich in der ersten finnischen Liga fest und holte 1983 seinen ersten und einzigen Meistertitel. Drei Jahre später gründeten ehemalige Spieler und Fans Ilves-Kissat neu, seither gibt es zwei Luchs-Sportvereine.
Die nächste Fusion stand 1998 ins Haus. Ilves war mittlerweile nur noch zweitklassig, und um die sportliche Misere zu beenden, sollte der Verein diesmal mit Tampereen Pallo-Veikot, dem ehemaligen Arbeitersportverein der Stadt, zusammengehen. Letztere entschieden sich jedoch in letzter Sekunde um und behielten ihre Eigenständigkeit. Ilves hingegen trat sein Startrecht in der zweiten Liga an den neuen Verein Tampere United ab und ließ sein eigenes Team in einer der unteren Ligen antreten.
Der neue Verein, dessen Name vor diesem Hintergrund irgendwie ironisch wirkt, konnte zwar in der Folge drei Meistertitel gewinnen, ist aber derzeit auf unbestimmte Zeit vom Spielbetrieb suspendiert. Die Verantwortlichen des Clubs hatten gegenüber dubiosen Geschäftsleuten aus Singapur allzu offensichtlich die Hand aufgehalten. Da in Finnland aus wettertechnischen Gründen den Sommer über gespielt wird, wenn in den meisten wichtigeren Ligen spielfrei ist, wurde das Land in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Operationsgebiet der Wettmafia. Tampere United ist da nur einer von vielen Fällen, wenn auch wahrscheinlich der prominenteste. Von dem unfreiwilligen Ausscheiden des Teams profitiert nun vor allem HJK Helsinki, das die Liga derzeit nach Belieben dominiert.
Dominieren ist auch das richtige Wort für das, was sich auf dem Spielfeld des Tammelan-Stadions in der zweiten Hälfte abspielt. War Ilves in der ersten Hälfte bereits überlegen gewesen, so hatte Ilves-Kissat jetzt überhaupt keine Chance mehr. Es vergehen kaum einmal fünf Minuten ohne hochkarätige Tormöglichkeit. Spannend an der Partie ist eigentlich nur noch die Frage, ob und wann Matti Jokinen, der Spielmacher der Gäste, endlich ein Tor machen wird. Eine Chance nach der anderen vergibt er – mal geht der Schuss knapp vorbei, mal ans Aluminium, und hin und wieder hält der völlig überforderte Keeper einen Ball. In der 78. Minute ist es dann endlich so weit, und obwohl es bereits das 7:0 ist, freut Jokinen sich wie ein kleines Kind. Kurz vor dem Abpfiff haben dann auch die Gastgeber noch mal eine brauchbare Chance, doch selbst der Ehrentreffer bleibt ihnen an diesem Abend verwehrt.
Kari, der kräftig gebaute Skinhead mit den grob gestochenen West-Ham- und Ilves-Tattoos auf dem Unterarm, ist da schon nicht mehr im Stadion. Er muss heute noch arbeiten, und zwar als Türsteher bei einem Punkkonzert in der selbstverwalteten Kneipe Vastavirta in Pispala, einem Viertel am anderen Ende der Stadt. Als er später das Ergebnis hört, lacht er nur. Zum einen, weil sein Team damit weiterhin beste Chancen auf den Aufstieg hat. Zum anderen, weil Fußball in Tampere einfach nicht ganz so bierernst genommen wird. Und das ist auch gut so.