Die Euro-Krise und die europäische Harmonie

Beziehungsstress in der Zone

Nicht die gemeinsame Währung ist seit der »Euro-Krise« in der Krise, sondern das Verhältnis der EU-Mitglieder untereinander. Einige, insbesondere Deutschland, diktieren den hochverschuldeten Staaten Maßnahmen, andere europäische Länder haben gar nichts mehr zu sagen. Sind bald alle wieder Singles?

Sehen so Sieger aus? Mit ernster Miene erläuterte der französische Präsident Nicolas Sarkozy Ende vergangener Woche zur besten Sendezeit seine Sicht der Lage. Mit »wichtigen Entscheidungen« auf den Krisengipfeln vergangene Woche in Brüssel sei »Unvorstellbares« verhindert worden. Wenn er und die deutsche Bundeskanzlerin An­gela Merkel nicht gemeinsam gehandelt hätten, hätte es eine globale Katastrophe gegeben.
Dabei war das deutsch-französische Verhältnis bis kurz vor den Treffen alles andere als harmonisch. Verbissen hatte Sarkozy versucht, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Insbesondere forderte die französische Regierung eine Bank­lizenz für den Rettungsfonds EFSF sowie höhere Finanzierungshilfen durch die Europäische Zentralbank (EZB) – was faktisch bedeuten würde, mehr Geld drucken zu lassen. Sarkozy verfolgte damit eine ähnliche Strategie wie die britische und die US-amerikanische Regierung, die mit dem Geld ihrer Zentralbanken die Schuldenkrise bekämpfen wollen. Die deutsche Regierung wiederum weist solche Bestrebungen vehement zurück. Eher würde sie wohl einen Zerfall der Euro-Zone akzeptieren, als dem Rettungsfonds eine Lizenz zum Gelddrucken zu gewähren.
Im Grunde besteht der Streit seit Beginn der Währungsunion. Frankreich wandte sich stets gegen die aus seiner Sicht zu strikten Maastrichter Stabilitätskriterien. Ein bisschen Inflation schadet nicht, lautete das Motto im Elysée-Palast, unabhängig davon, wer gerade die Regierung stellte. Um soziale Konflikte zu befrieden und die nationale Wirtschaft zu subventionieren, war man gerne bereit, im Zweifelsfall eine hohe Staatsverschuldung in Kauf zu nehmen. Die Bundesregierung setzte hingegen in den vergangenen Jahren auf rigide Sparmaßnahmen und nahm drastische Lohnkürzungen in Kauf, um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu erhöhen – ein Rezept, das sie nun auch anderen Eurostaaten verschreiben will.

Doch spätestens nachdem Rating-Agenturen angedroht hatten, die Kreditwürdigkeit Frankreichs herabzustufen, war klar, dass Sarkozy nicht mehr über viel Spielraum verfügt. Für ihn endete der Gipfel mit einer unausgesprochenen Niederlage – damit scheiterten vorerst auch alle Versuche, eine Alternative zur deutschen Agenda durchzusetzen. Ungewohnt freimütig räumte Sarkozy bei seiner Ansprache nach den Krisengipfeln ein, dass die französische Wirtschaft mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Sie wächst geringer als erwartet, das Staatsdefizit nimmt bedrohliche Ausmaße an.
Diese Umstände sind längst bekannt, doch was Sarkozy anschließend ausführte, war erstaunlich. Insbesondere die von den Sozialisten eingeführte 35-Stunden-Woche habe die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs ruiniert, während in Deutschland unter der damaligen rot-grünen Koalition harte Arbeitsmarktreformen durchgesetzt wurden. »Mein Job ist es, Frankreich näher an ein System heranzubringen, das funktioniert: dasjenige Deutschlands«, sagte Sarkozy.
Merkel als Vorbild, Deutschland als Maßstab? Kein französischer Präsident hat je ähnliches geäußert. Deutlicher lassen sich die neuen Machtverhältnisse nach den Gipfeln kaum beschreiben. Frankreich, das sich immer als gleichberechtigt mit der Regierung in Berlin fühlte, spielt nur noch die zweite Geige. Das Tempo und die Methoden der Rettung der Euro-Zone werden von Berlin diktiert. Nun muss die französische Regierung Maßnahmen ergreifen, die sie bislang zu vermeiden suchte. Für das kommende Jahr kündigte Sarkozy Einsparungen in Höhe von sechs bis acht Milliarden Euro an. Und dabei wird es wohl kaum bleiben. »Wir müssen unsere Schulden zurückzahlen und unser Defizit verringern«, betonte der Präsident. »Wir müssen mehr arbeiten. Wir geben zu viel aus.« Er habe die Franzosen bislang vor Schlimmerem bewahrt: »In Spanien, in Italien, in Portugal, überall sind die Gehälter reduziert worden.« Vermutlich wird dies auch bald in Frankreich geschehen.
Die französische Regierung sieht zerknirscht in die Zukunft. »Deutschland ist nicht mehr das, was es mal war. Seine moralische Schuld am Ende des Zweiten Weltkriegs zählt heute nicht mehr. Ab sofort wird Europa stärker den deutschen Prioritäten Rechnung tragen müssen – vor allem auch der Budgetdisziplin, die von Berlin aus gesehen seit der griechischen Krise in Europa aus dem Ruder gelaufen ist«, kommentierte die konservative Tageszeitung Le Figaro die Ergebnisse der Gipfel.
In Deutschland erfreut sich die Regierung indessen ungewohnten Lobs und Zuspruchs. Von der »eisernen Kanzlerin« ist in der Welt am Sonntag die Rede. »Tiefer ist ihre Stimme geworden, sonorer und voller«, heißt es huldvoll in der Zeitung. »Manchmal beginnt Angela Merkel nun Margaret Thatcher zu ähneln oder Hans-Dietrich Genscher – die Erfahrungsfalten unter der Haut, die stumme Unerbittlichkeit.« Tatsächlich hat Merkel unerbittlich die Agenda durchgesetzt, die neben Deutschland vor allem von Österreich, den Niederlanden und Finnland mitgetragen wird. Dieses »Kerneuropa« gibt den Schuldnerländern vor, welche Maßnahmen sie zu ergreifen haben.

Was dies zu bedeuten hat, durfte als Erster Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi erfahren. Nachdem er auf dem Gipfel wegen seiner schleppenden Reformbemühungen heftig kritisiert worden war, verbat er sich »Lektionen« und erklärte, niemand sei »in der Position, seinen Partnern Lehren zu erteilen« oder habe das Recht, »im Namen gewählter Regierungen zu sprechen«. Seine beleidigte Reaktion nutzte ihm indes nicht viel. Schon kurz darauf kündigte er umfangreiche Maßnahmen an, um den italienischen Staatshaushalt zu sanieren. Die konservative Tageszeitung Corriere della Sera aus Mailand bezeichnete die Pläne gar als das »größte Wirtschaftsreform-Programm, das in Italien je zu Papier gebracht wurde.« Unter anderem soll das Rentensystem reformiert werden. An der weiteren Entwicklung in Italien wird sich messen lassen, ob die Brüsseler Beschlüsse dauerhafte Änderungen bewirken – oder ob sich die Regierungen wieder einmal mit viel Geld nur etwas Zeit erkauft haben.
Die ersten Reaktionen auf den Finanzmärkten sahen nicht besonders vielversprechend aus. Nur einen Tag nach dem Gipfel stiegen die Zinsen für italienische Staatsanleihen auf über sechs Prozent und damit auf das höchste Niveau seit Einführung des Euro. Dabei war es das erklärte Ziel des Gipfels, die italienische Staatverschuldung zu reduzieren. Für Italien, ähnlich wie für Spanien, wird es immer schwieriger, sich weiter zu refinanzieren. Die Verbindlichkeiten der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone entsprechen mittlerweile rund 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Auf diese Quote soll Griechenland mit Hilfe des in Brüssel beschlossenen Schuldenschnitts um 50 Prozent erst noch kommen. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob selbst dieses bescheidene Ziel in den nächsten acht Jahren zu erreichen ist, setzt es doch ein kontinuierliches Wachstum voraus. Tatsächlich schrumpft die Wirtschaft des Landes jedoch stärker als erwartet. Für 2012 rechnet die griechische Regierung mit einem Minus von fünf Prozent, womit die schlechten Zahlen aus diesem Jahr noch einmal übertroffen werden. Ähnlich wie Portugal wird das Land auf unbestimmte Zeit auf die Zahlungen der Geldgeber angewiesen sein – und damit auch ihren Auflagen unterliegen.
Völlig außen vor in dieser Hierarchie sind jene EU-Länder, die nicht zur Euro-Zone gehören. Die osteuropäischen Beitrittsstaaten dürfen die Beschlüsse aus Brüssel gerade einmal zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie mehr oder weniger direkt davon betroffen sind. Sie haben ihre Währungen an den Euro gekoppelt und bemühen sich nun, die Beitrittskriterien zu erfüllen.
Auch die britische Regierung ist von einem Kerneuropa unter deutscher Führung alles andere als begeistert. Sie kann zwar formal bei den Entscheidungen ein Veto einlegen, aber dies hat faktisch immer weniger Bedeutung. So erwägen die Euro-Regierungen seit geraumer Zeit, eine Transaktionssteuer einzuführen, was die britische Regierung entschieden ablehnt. Finanzminister Wolfgang Schäuble will notfalls die Steuer alleine in der Euro-Zone einführen.
Einen deutlichen Hinweis, wohin die Reise künftig führen wird, erhielt der britische Premierminister David Cameron bereits auf dem Brüsseler Gipfel. Als er die Beschlüsse kritisierte, blaffte Sarkozy ihn vor versammelter Runde an, er solle endlich den Mund halten, seine Meinung zum Euro sei nicht gefragt. Zumindest in diesem Moment dürfte sich Sarkozy wie ein Sieger gefühlt haben.