Die Spaltungen in der islamistischen Bewegung

Demokratisch zum Islamismus

Der Erfolg der Partei al-Nahda in Tunesien illustriert die Spaltung der islamistischen Bewegung in Konservative und Jihadisten.

Verordneten sich nach 1945 in Europa faschistische Parteien neue Programme, so pflegte man sie hinterher Neofaschisten zu nennen; distanzieren sich Islamisten dagegen ein wenig von ihrer radikalen Vergangenheit, feiert man sie umgehend als »moderat«. Dabei ist es nicht besonders lange her, dass Rachid al-Ghannouchi, der Führer des tunesischen Zweigs der Muslimbrüder – und nichts anderes ist die Partei al-Nahda –, sich äußerst positiv über das iranische Staatsmodell äußerte, Selbstmordattentäter pries und der Hamas in ihrem Kampf gegen das »zionistische Krebsgeschwür« seine Unterstützung versicherte.
Dem um »Dialog« bemühten westlichen Establishment, Medien ebenso wie Politikern, reicht es offenbar aus, dass die tunesischen Islamisten im Wahlkampf erklärten, sie wollten es mit der Demokratie halten und die Sharia nicht umgehend einführen. Schon gelten sie als Modell für die Region. Ob al-Nahda diese Versprechen halten wird, ist bislang bestenfalls ungewiss.
Während sich westliche Regierungen zur Kooperation mit einer neuen Regierung in Tunis rüsten – von Flüchtlingsabwehr bis hin zu vorteilhaften Vertragsabschlüssen dürfte diese sich durchaus als guter Partner erweisen –, warnen Pessimisten, der »arabische Frühling« ende nun in einem islamischen Winter. Freie Wahlen brächten in der Region eben nur Islamisten an die Macht, einzig die harte Hand von Diktatoren wie Ben Ali habe dies bislang verhindern können.
Dabei haben weit mehr als die Hälfte aller Tunesierinnen und Tunesier dezidiert säkulare Parteien mit linkem oder linksliberalem Programm gewählt, während Nasseristen und Baathisten, also arabische Nationalisten mit einer Vorliebe für totalitäre Einparteiensysteme, eine klägliche Niederlage einstecken mussten.
Neben den Islamisten trat allerdings keine andere Partei im konservativen Lager an. Zur entsprechend heterogenen Wählerschaft von al-Nahda gehören orthodoxe Islamisten ebenso wie jene, die glaubten, die Partei werde eine Politik wie die türkische AKP vertreten. Al-Nahda wurde gleichermaßen in traditionsverhafteten ländlichen Gebieten wie von Teilen der urbanen Mittelschicht gewählt, die sich von ihrer wirtschaftsliberalen Ausrichtung angesprochen fühlten.
Ihren Wahlerfolg hat sie vor allem der Strategie zu verdanken, als konservative Partei der Ordnung und Stabilität aufzutreten, indem sie auf eine putschistisch-revolutionäre Rhetorik verzichtete. Damit verstärkt sich ein seit längerem zu beobachtender Trend: Die islamistische Bewegung spaltet sich in einen konservativen und einen revolutionär-jihadistischen Flügel. Ersterer befürwortet zwar demokratische Wahlen und Parlamentarismus, ob er in Zukunft Wahlniederlagen akzeptieren würde, bleibt aber die Frage.
Al-Nahda hat weder die Mehrheit der unzufriedenen städtischen Jugend auf ihrer Seite, noch sehnt sich das Gros ihrer Unterstützer offenbar nach einer zweiten, radikalislamistischen Phase der Revolution. Der Wandel in einen islamisch geprägten Staat soll vielmehr langsam und institutionell abgesichert vor sich gehen. Einen solchen Wandel wiederum lehnen mehr als die Hälfte aller Tunesierinnen und Tunesier ab. So deutlich verliefen die Frontlinien in keinem ara­bischen Land in den vergangenen 50 Jahren.