Die Studentenproteste in Italien

Der Protest wird generalisiert

Nicht nur in Deutschland beziehen sich die Aufrufe für den International Student’s Day am 17. November auf die internationale Bewegung für »echte Demokratie«. In Italien, wo es bei der Demonstration in Rom am globalen Aktionstag am 15. Oktober zu heftigen Krawallen kam, wollen die Studierenden wieder auf die Barrikaden gehen. Viele rechnen erneut mit militanten Protesten.

Bis zum 17. November ist es noch lange hin. Für die italienische Schüler- und Studentenbewegung ist der International Student’s Day nur einer von vielen Protesttagen dieses Herbstes. Seit sich die Eurokrise in den vergangenen Wochen für Italien dramatisch verschärft hat, rufen die Studentinnen und Studenten im ganzen Land permanent zu Demonstrationen auf. Auf Drängen der EU-Partner war die italienische Regierung Ende Oktober gezwungen worden, binnen weniger Tage ein »glaubwürdiges« Konzept für den Abbau der Staatsverschuldung vorzulegen. Die von Ministerpräsident Silvio Berlusconi pflichtschuldig vorgetragene Absichtserklärung enthielt neben dem Versprechen einer umstrittenen Renten- und Arbeitsmarktreform auch die Ankündigung einer Erhöhung der Studiengebühren.

Verschiedene Studentenvereinigungen haben deshalb bereits für Freitag dieser Woche in mehreren Städten zu Demonstrationen aufgerufen. Dieses Datum ist von doppelter Bedeutung: Es ist zum einen der Nationalfeiertag für die italienischen Streitkräfte. Einer der Slogans des Aufrufs lautet deshalb: »Mehr Geld für die Studenten, weniger Militärausgaben!« Da zum anderen an diesem Freitag in Cannes der G20-Gipfel stattfindet, auf dem auch die Euro-Schuldenkrise auf der Tagesordnung steht, möchte die Bewegung gleichzeitig gegen die dort verhandelte Politik der Einsparungen und Privatisierungen protestieren. »Wir müssen deutlich machen, dass heute mehr als je zuvor eine andere Welt möglich und notwendig ist«, heißt es in einem Text des Universitätsnetzwerks »Link«. Und an die Adresse der Europäischen Zentralbank richtet sich die Warnung: »Mit uns müsst ihr rechnen!«
Zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 hatte die italienische Schüler- und Studentenbewegung, die sich »Onda Anomala« nannte (Jungle World, 47/08), mit dem Slogan »Wir zahlen nicht für eure Krise!« gegen die neoliberale Umstrukturierung des italienischen Bildungssektors mobilisiert. Unter diesem Motto gingen in den vergangenen zwei Jahren Tausende von Menschen in verschiedenen europäischen Ländern auf die Straße, um gegen die Krisenpolitik der EU und der nationalen Regierungen zu protestieren.
Im Dezember 2010 erreichte der Protest der italienischen Studentenbewegung seinen vorläufigen Höhepunkt. Der Zusammenschluss von Schülern, Studenten und prekären Akademikern hatte sich gefestigt, es kam zu teilweise spektakulären Widerstandsaktionen und einer imposanten Demonstration am 14. Dezember in Rom.
Mit Einführung der Hochschulreform wurde das staatliches Budget für die Universitäten um 30 Prozent gekürzt. Das Gesetz besteht aus einer Reihe von Dekreten, die seit Anfang 2008 erlassen wurden, und sieht für das bereits chronisch unterfinanzierte italienische Bildungssystem weitere Kürzungen sowie eine Umorgani­sation des Universitätspersonals vor. Die Reform ziele darauf ab, sagte die Bildungsministerin Mariastella Gelmini, »akademische Exzellenz« zu belohnen und defizitäre Hochschulen zu bestrafen. Mit der Einführung eines Finanzverwalters sollen Universitäten für den internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig gemacht werden.
Die Verabschiedung der nach der Ministerin benannten Gelmini-Reform konnte aber nicht verhindert werden. Allein der Etat der Universitäten soll bis zum Jahr 2013 um 1,5 Milliarden Euro gekürzt werden. Die staatliche Studienförderung reicht mittlerweile kaum noch für diejenigen, denen laut Gesetz eine Unterstützung zusteht, sodass die von der Regierung propagierten »leistungsbezogenen« Stipendien überhaupt nicht vergeben werden können.
Die vermeintliche Niederlage hat die Bewegung jedoch nicht demoralisiert. Im Gegenteil: »Vielleicht haben wir die Reform nicht gestoppt«, heißt es in einem gemeinsamen Aufruf verschiedener Schulen in Triest, »aber wir haben in diesen Kämpfen etwas viel Wichtigeres erreicht: ein neues kollektives Bewusstsein.« Nachdem vergangene Woche an zwölf Schulen der norditalienischen Hafenstadt selbstverwaltete Räume mit Polizeigewalt aufgelöst worden waren, schlugen die Schüler auf der zentralen Piazza der Stadt mehrere Dutzend Zelte auf. »Die Privatisierung des Wissens ist Teil eines Systems und dieses System ist in der Krise. Wir tragen unsere Anliegen aus der Schule in die Stadt, um den Protest zu generalisieren«, verkündeten sie.
Die Entwicklung der Schülerproteste zu einer Bewegung nach dem Vorbild der »Occupy«-Proteste ist symptomatisch. Längst bilden die klassischen Bildungsthemen wie die Wiederaufstockung des Bildungsetats, die Renovierung der maroden Schulgebäude oder die soziale Absicherung des prekären Lehrpersonals nur noch den Ausgangspunkt für die Mobilisierung. Schüler und Studenten verstehen ihre Lage als Teil einer größeren Krisensituation: Der Abbau des öffent­lichen Bildungssektors korrespondiert mit der fortgesetzten Deregulierung des Arbeitsmarktes, auf dem die Beschäftigungsverhältnisse immer prekärer werden und viele Schul- und Studienabgänger erst gar keinen Platz finden. Nach Angaben der OECD lag die Jugendarbeitslosigkeit in Italien 2010 bei 27 Prozent.

Mit den Demonstrationen am 4. November sollen die Proteste über den Bildungsbereich hinaus politisch wirksam werden. »Wir müssen Aktionen organisieren, die tatsächlich 99 Prozent der Bevölkerung mobilisieren«, heißt es in einem Aufruf.
Mit dieser Parole ist der Anschluss an die internationale Protestbewegung gegen die Banken- und Finanzwelt vollzogen. In einem mehrsprachigen, offenen Brief fordern die italienischen Studierenden deshalb dazu auf, am 17. November nicht nur »Bildungsstreiks« zu organisieren, sondern gegen das Wirtschafts- und Sozialsystems zu protestieren. Damit soll im Anschluss an den 15. Oktober die Existenz einer weltweiten Bewegung für eine »echte Demokratie« untermauert werden.
Da es anlässlich des von den spanischen Indignados initiierten internationalen Protesttags Mitte Oktober nur in Rom zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen ist, liegt der italienischen Bewegung sehr daran, nicht in die Isolation zu geraten. Sie will sich weder durch staatliche Repression zurückdrängen lassen, noch in internen Diskussionen über die Gewaltfrage aufreiben.
Die Demonstrationen am 4. November dienen deshalb einerseits der kollektiven Selbstverstän­digung. »Keinen Schritt zurück! Permanente Mobilisierung!« fordert das Aktionsbündnis »ateneinrivolta.org«. Andererseits soll durch Aktionen in vielen verschiedenen Städten den lokalen Kämpfen wieder größere Bedeutung beigemessen werden. Schließlich unterstützen viele Schüler- und Studentengruppen den Aufruf der Besetzer des New Yorker Zuccotti-Parks für den 11. November unter dem Motto: »Occupy the streets! Occupy the world!« Durch die dezentrale Ausrichtung der Proteste umgeht die Bewegung aber auch die Auseinandersetzung mit der Stadtverwaltung in Rom um das zeitweilig verhängte Demonstrationsverbot in der Hauptstadt.