Roberto Mendez im Gespräch über die Präsidentschaftswahl in Guatemala

»Die Öffnung für den Weltmarkt hat zu Landraub geführt«

Nach einem ersten Wahlgang Anfang September wird an diesem Sonntag eine Stichwahl über den nächsten Präsidenten von Guatemala entscheiden. Zu einem Boykott der Wahlen hat als einzige Organisation im Land Hijos (Kinder) aufgerufen. Angehörige der Überlebenden des Genozids gegen die Maya sowie von Oppositionellen, die während des 36 Jahre andauernden bewaffneten Konflikts »verschwanden«, treten mit Hijos dafür ein, dass die Erinnerung an den Krieg und die Verbrechen wachgehalten wird. Alle Regierungen seit der Unterzeichung des Friedensabkommen vor 15 Jahren vernachlässigten die Aufarbeitung, ebenso wie die juristische Verfolgung der Täter. Die Jungle World sprach mit Roberto Mendez von Hijos, der bei öffentlichen Auftritten aus Angst vor Repressionen den Namen seines ermordeten Onkels benutzt, mit bürgerlichem Namen jedoch anders heißt.

Warum hat Hijos zu einem Boykott der diesjährigen Präsidentschaftswahlen aufgerufen?
Es gibt keine Partei, die ein Programm vorgestellt hat, das die ökonomische und politische Unabhängigkeit Guatemalas anstrebt. Alle Parteien unterstützen die Einbindung Guatemalas in den Weltmarkt und wollen die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung des Landes weiter vorantreiben, die die Mehrheit der Gesellschaft in extremer Armut belässt. Die Wahlkampagnen der großen Parteien wurden vom Drogenhandel finanziert und proklamieren Hardlinerparolen: Maßnahmen zur Inneren Sicherheit, Zero Tolerance und die Einführung der Todesstrafe wurden zur Diskussion gestellt. Die große soziale Ungleichheit, der Ausschluss der Bevölkerungsmehrheit vom gesellschaftlichen Reichtum und von politischer Partizipation finden dabei keine Erwähnung.
Neben den rechtspopulistischen Parteien und den schon vor den Wahlen gescheiterten Sozialdemokraten trat auch das linke indigene Bündnis Breite Front mit Rigoberta Menchú als Präsidentschaftskandidatin an. War das für Hijos keine Alternative?
Rigoberta Menchús indigene Partei Winaq ist sehr weit entfernt von den Nöten der Bevölkerung. Sie taucht alle vier Jahre zu den Wahlen auf und hat kaum Verbindungen zu sozialen Bewegungen. Rigoberta Menchú selbst ist für uns eine politisch wenig vertrauenswürdige Person. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Guatemala war sie Friedensbotschafterin der Regierung unter Óscar Berger. Die trieb nach dem Ende des bewaffneten Konflikts die neoliberale Umstrukturierung des Landes voran.
Aber war der Friedensschluss nicht zunächst eine wichtige Bedingung für eine politische und gesellschaftliche Transformation?
Der bewaffnete Konflikt war letztendlich ein Instrument der Ressourcensicherung. Militarisierung und Repression schlossen Diskussionen um die bitter nötige Umverteilung des Landes 36 Jahre lang kategorisch aus. Nach der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit den USA gab es in der kriegsgeplagten Region Quiché dann jedoch mehr Vertreibungen als zu Zeiten des bewaffneten Konflikts selbst. Die Öffnung für den Weltmarkt hat in Guatemala zu Landraub geführt. Gleichzeitig kam es zu einer ganzen Reihe von Privatisierungen staatlicher Dienstleistungen und der Infrastruktur, von deren Nutzung heute die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Das steht für uns im Widerspruch zur Vertretung indigener Interessen. Daher waren wir auch enttäuscht, als Menchú den populistischen Kandidaten der Partei LIDER, Manuel Baldizón, unterstützte.
Die ehemalige Guerillagruppe und heutige Partei UNRG hat sich als einzige des Bündnisses gegen eine Unterstützung Baldizóns ausgesprochen. Wie schätzt Hijos diese Partei ein?
Die UNRG sucht ihre Koalitionspartner in einem linksdogmatischen Spektrum, anstatt sich progressiven Kräften zuzuwenden, die sich politisch nicht klar einordnen, aber beispielsweise sehr aktiv bei der Verteidigung von Land sind. Wir sind jedoch überzeugt, dass politische Bewegungen ihre Qualität dadurch erhalten, dass sie aus einer breiten Basis entstehen und mit dieser verbunden bleiben. In diesem Sinne kritisieren wir an der UNRG auch ihre Kandidatenaufstellung nach Familienbanden. Viele Kandidaten sind Söhne oder Schwiegertöchter ehemaliger Guerillakommandanten. Im Gegensatz zu ihren Eltern haben sie jedoch niemals an sozialen Kämpfen teilgenommen. Das ist keine gute Basis für eine Demokratisierung.
Die letzten Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass wohl Otto Pérez Molina von der Patriotischen Partei in der Stichwahl siegen wird. Der ehemalige General soll für zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung während des bewaffneten Konflikts verantwortlich sein. Wie bewerten Sie diese »Rückkehr der Vergangenheit«?
Der Aufstieg Pérez Molinas zum chancenreichsten Präsidentschaftskandidaten vermittelt ein schlechtes Bild zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen, die seit den Friedensverträgen die verschiedenen Regierungen unterstützt und sich in das politische Spiel haben einbinden lassen. Eine Versöhnung ohne juristische Belangung der Täter befürworteten sogar Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich damit am Verschweigen der Verbrechen beteiligt haben. Wir lassen uns nicht als NGO registrieren, denn wir kritisieren die Bürokratisierung der sozialen Bewegungen.
Pérez Molina genießt seit seiner Aufstellung zum Präsidentschaftskandidaten Immunität. Im Moment steht allerdings der ehemalige General Hector Fuentes López als Verantwortlicher des Genozids an den Maya vor einem guatemaltekischen Gericht. Wie schätzen Sie den Erfolg der juristischen Verfahren ein?
Diese ersten Gerichtsverfahren gegen ranghohe Militärs der achtziger Jahre brechen hoffentlich das Eis für eine gründliche juristische Aufklärung der Verbrechen während des bewaffneten Konflikts. Sie sind grundlegend für weitere Verfahren und spielen eine wichtige Rolle im Transformationsprozess. Die Gesellschaft muss sich ihrer Vergangenheit bewusst werden, um die Probleme von heute angehen zu können. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die einen Massenmörder zum Präsidenten wählt, die sich angstvoll in Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit hüllt und in der die Menschen in Vereinzelung verharren. Die Verfahren gegen die Greise des Krieges bergen jedoch unserer Meinung nach die Gefahr, das Machtgefälle der Gegenwart zu verdecken. Die indigenen Gemeinden leben nach wie vor in extremer Armut und sind von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.
Der ehemalige Präsident Álvaro Colom hatte bei seinem Amtsantritt eine »Sozialdemokratie mit Maya-Antlitz« versprochen. Was ist daraus geworden?
Den von ihm angekündigten sozialen Wandel hat es nie gegeben. Stattdessen hat er die neoliberale Ausrichtung des Wirtschaftssystems nahtlos fortgesetzt. Der Ressourcenabbau wird vorangetrieben, die Gewinne fließen jedoch an multinationale Unternehmen. So hat Colom dem Erdölprojekt der Firma Perenco im Department Petén eine Verlängerung der Konzessionen um 25 Jahre zugestanden. Daneben werden auch Goldschürfprojekte mit einer großzügigen Konzessionsvergabe weiter vorangetrieben. Das steht im Widerspruch zu den Interessen der Menschen auf dem Land.
Ganz Mittelamerika wird derzeit mit Monokulturen für die Biospritproduktion überzogen. Welche Auswirkungen haben diese Projekte auf die Bevölkerung in Guatemala?
Die Schaffung von Palmöl- und Zuckerrohrplantagen für die Biodieselgewinnung hat die nach dem Ende des bewaffneten Konflikts unbeantwortet gebliebene Landfrage in Guatemala erheblich verschärft. Im Polochic-Tal ist es dieses Jahr zu zahlreichen Vertreibungen gekommen. Das dortige Projekt geht noch auf die Regierung des Präsidenten Berger zurück, der versucht hatte, Alternativen im Zuge der weltweiten Kaffeekrise zu finden und auf Zuckerrohranbau für Biotreibstoffe auswich. Dabei wurden die Arbeitskräfte, die dort in halbfeudalen Verhältnissen lebten, vertrieben. Die derzeitige Regierung hat die Umstellung von Kaffee auf Zucker im Polochic-Tal mit der millionenschweren Unterstützung der Inter­amerikanischen Entwicklungsbank weiterverfolgt. Colom ließ dafür die letzten noch verbliebenen indigenen Gemeinden durch das Militär vertreiben. Die Tatsache, dass sich die fruchtbaren Böden in Guatemala in der Hand einer immer kleiner werdenden Anzahl von Besitzern befinden, wird sich in den nächsten Jahren noch gravierend auf die Ernährungssouveränität der Bevölkerung auswirken.
Die Präsidentschaftswahlen werden keinen positiven Wandel bringen, eher ist mit einer verstärkten politischen Repression zu rechnen. Wo kann in Guatemala eine politische Veränderung entstehen?
Wenn es eine Veränderung geben wird, dann wird sie von den Dörfern ausgehen. Im Falle Guatemalas zeigt die Kosmovision der Mayas, für die ein nachhaltiges Lebenskonzept und eine kollektive politische und gesellschaftliche Organisationsform grundlegend sind, dass es Alternativen gibt. Für die Überlebenden des Genozids ist der Kampf um Land heute zumeist von größerer Bedeutung, sprich überlebenswichtig, als Gerechtigkeit für die Vergangenheit zu erfahren. Hijos versucht sich deshalb auch in diesem Bereich zu engagieren und die Erinnerung an die Vergangenheit als ein Instrument zu begreifen, mit dem sich heute indigene dörfliche Gemeinschaften organisieren können, um Hunger und Ungerechtigkeit hinter sich zu lassen.