Die analytischen Defizite der »Occupy«-Bewegung

Lob der Avantgarde

Sollten die »Occupy«-Bewegungen ihre analytischen Defizite nicht überwinden und keine Vorstellung von einer Aufhebung der Klassengesellschaft entwickeln, werden sie sehr schnell im politischen Spektakel aufgehen.

Für die Strömungen eines antiautoritären Kommunismus – und über einen anderen zu reden, erübrigt sich an dieser Stelle sowohl aus historischen als auch politischen Gründen – standen selbstorganisierte Bewegungen stets als Erfahrungslabore derer im Vordergrund, die im Kapitalismus ansonsten lediglich als Objekte vorkamen. Dies war so, als Rosa Luxemburg den sozialdemokratischen Revisionismus und später die leninistische Unterordnung der Räte unter die Herrschaft der Partei kritisierte, bei den linken Dissidenten des Rätekommunismus und auch bei der Weiterentwicklung jener Kritik etwa durch die französische Gruppe »Socialisme ou Barbarie« oder die Situationisten. In diesen »Laboren« der Versammlungen und der sich bildenden Räte sah einer der Protagonisten der Situationistischen Internationale, Guy Debord, »die Verwirklichung der aktiven, direkten Kommunikation, wo Spe­zialisierung, Hierarchie und Trennung aufhören«. Diese Erfahrungen mit völlig veränderten Verkehrsformen stellen zweifellos als Antizipation der berühmten »freien Assoziation der Individuen« eine der zentralen Voraussetzungen jeglicher Emanzipation dar.

Daran gemessen, zeigen die diversen Occupy-Bewegungen, ebenso wie die in vielerlei Hinsicht von ihnen verschiedenen Bewegungen der »Indignados« in Spanien und Griechenland, Ansätze eines Projekts zur Überwindung des Kapitalismus. General assemblies, Vollversammlungen, auf denen Beschlüsse von allen Anwesenden gemeinsam gefasst werden, wie etwa der zum stadtweiten Generalstreik auf der Oaklander Versammlung, gehören ebenso dazu wie die »freien Mikrophone«, die jedem die Möglichkeit geben, seine, das sei zugestanden, manchmal auch abstrusen Analysen, Ideen oder Erfahrungen kundzutun. Wenn zudem Radiosendungen gemeinsam produziert, Publikationen erstellt und zur Abstimmung vorgelegt werden, wie dies im Zuccotti Park in New York mit dem Occupy Wall Street Journal geschah, oder Gesundheitsdienste, Kinderbetreuung und ähnliches gemeinsam organisiert werden, dann ist der Begriff der Selbstorganisation bestimmt nicht zu hoch gegriffen, auch wenn die zahlreichen Berichte über die Bildung von Hierar­chien und Spezialistentum insbesondere in den Arbeitsgruppen dem teilweise zu widersprechen scheinen.
Aber noch in anderer Hinsicht scheinen die »Bewegungen der 99 Prozent« eine radikale Kritik der Verhältnisse zu leisten, nämlich indem sie die traditionellen demokratischen Vermittlungsformen delegitimieren. Nicht nur in Berlin oder Athen sind die Demonstrationszüge zu den Parlamenten weniger Bittstellungsprozessionen mit konkreten Forderungen und der Hoffnung auf deren Erfüllung – mit einer solchen hatte 1905 immerhin die erste russische Revolution und vor allem die Geschichte der Rätebewegungen begonnen –, sondern sie sollen die Spaltung zwischen »euch da drinnen und uns hier draußen«, wie es auf einem bekannt gewordenen Transparent hieß, symbolisieren. In eine ähnliche Richtung geht die in den verschiedenen Städten mit unterschiedlicher Vehemenz betriebene Abgrenzung von und Ausgrenzung der Parteien des Establishments und anderer staatstragender Institutionen, zu denen in Deutschland vor allem auch die Mitgliedsgewerkschaften des DGB zählen. Auch gegenüber den in den Institutionen immer stärker präsenten NGO-Lobbyisten von Attac waren die Vorbehalte so groß, dass über deren geplante Teilnahme an den Demonstrationen in Frankfurt vorab immerhin diskutiert wurde.
Zudem sind sich die Besetzer, und das hat Werner Rätz in seinem Beitrag (Jungle World 43/2011) zu Recht hervorgehoben, der internationalen Dimension ihres Kampfes sehr wohl bewusst – während dies in Griechenland und Spanien noch nicht entschieden ist. »Der Internationalismus ist sowohl bei der globalisierungskritischen Bewegung einschließlich Attac wie bei der neuen Occupy-Bewegung notwenige Gründungsbedingung – anders als noch bei der Arbeiter- oder der Friedensbewegung, wo er über die Rolle einer selbstgestellten Aufgabe nie hinauskam«, schreibt Rätz. »The only solution is world revolution«, heißt es dazu passend auf der Website der New Yorker »Occupy Wall Street«-Bewegung.

Trotz alldem besteht wenig Grund zur Euphorie. Zwar könnte man ganz allgemein Rätz zustimmen, dass ohne Bewegungsdynamiken gar nichts laufen werde, damit ist aber noch nichts über die Perspektiven der aktuellen Bewegungen gesagt. Die linken Dissidenten haben, sieht man vom zahnlosen Spontaneismus des späten Rätekommunismus und einiger Restbestände des italienischen Operaismus ab, immer auch betont, dass sich das Proletariat – nennen wir es mal »die 99 Prozent« – zu seiner Selbstaufhebung auch zur »Klasse des Bewusstseins« erheben müsse. Davon ist leider in den derzeitigen Bewegungen wenig bis nichts zu erkennen.
Es ist vor allem die oberflächliche Kritik am »Finanzmarktkapitalismus«, dessen Ursachen gerade nicht in den Verwertungsschwierigkeiten des akkumulierten Kapitals – die Aufblähung des Finanzsektors hat nicht etwa der Industrie Investitionen entzogen, sondern ist das Ergebnis der strukturellen Überakkumulation im verarbeitenden Gewerbe –, sondern in der »falschen« Politik ausgemacht werden, die das langsame Abgleiten der Proteste in den Rahmen traditioneller Politik befördern. In diversen US-amerikanischen Foren kann man geradezu eine Renaissance der Demokraten beobachten, seit Barack Obama sich explizit auf die Demonstranten als Unterstützer gegen die »republikanische Blockade« im US-Kongress bezieht. Und in die Forderungen der Frankfurter Besetzer fließen immer weitere konkrete Gesetzesvorschläge für eine »Bändigung der Finanzindustrie« ein, die auch Rätz in seinem Beitrag thematisiert. So wird die Form des demokratischen Miteinanders immer mehr zum letzten dynamischen Moment der Bewegung. Die Gruppe Research & Destroy aus Oakland hat dies auf die Formel gebracht, die Form der Entscheidung werde zum einzigen Inhalt der Bewegung werden: »We democratically decide to be democratic!«
Dieser von Rätz als »Offenheit« gefeierte Formalismus resultiert daraus, dass die Verbindung zur Tradition sozialer Kämpfe weitgehend abgerissen ist. Insbesondere in den USA beschränken sich die Erfahrungen der Blockierer diesbezüglich auf die Gipfel-Proteste der globalisierungskritischen Bewegung. Deren Stärken und Defizite finden sich fast vollständig in den »Occupy«-Bewegungen wieder – vor allem in der Unfähigkeit, sich selbst als Avantgarde einer erst noch kommenden Bewegung statt als diese selbst zu begreifen. Während am vorvergangenen Samstag die 99 Prozent der auf dem Alexanderplatz befindlichen Menschen brav die ersten Weihnachtseinkäufe erledigten, suggerierten die kapp 1 000 Demons­tranten, sie seien eine gesellschaftliche Bewegung der überwiegenden Mehrheit. Daran wird auch der Unterschied zu den beiden Weltrevolutionen nach dem Ersten Weltkrieg und um 1968 besonders deutlich, als die Militanten sich auch als Avantgarde grundsätzlicher Veränderungen begriffen und kontinuierliche Debatten zu organisieren begannen – nicht immer zum Vorteil der Menschen, wie etwa der Siegeszug des Maoismus Ende der sechziger Jahre bewies.

Hier könnte sich durch die Organisierung kontinuierlicher Debatten und politischer Interventionen immerhin eine Dynamik innerhalb der Restbestände einer radikalen Linken entwickeln. Ausgangspunkt dafür müsste eine Analyse der gegenwärtig deutlich werdenden erheblichen Probleme der Reorganisation der Akkumulation sein, ebenso eine Auswertung vergangener sozialer Kämpfe und ihrer Niederlagen.
Nicht etwa die seit Jahren zu beobachtende Spaltung zwischen theoretizistischer Avantgarde und Bewegungslinken und schon gar nicht die Öffnung gegenüber dem Politikantenstadl der diversen zumeist trotzkistischen Parteien und Gruppen und ihren Forderungen nach »organisierter Führung« von Politikentwicklung wären der Ausweg, sondern die solidarische Trennung von den Bewegungen, die die Teilnahme an ihnen einschließt. Guy Debord hat dies in der »Gesellschaft des Spektakels« als »Trennung von der Welt der Trennungen« folgendermaßen formuliert: »Die revolutionäre Organisation ist der kohärente Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nicht-einseitige Kommunikation mit den praktischen Kämpfen tritt, so zur praktischen Theorie werdend. Ihre eigene Praxis ist die Generalisierung der Kommunikation und der Kohärenz in diesen Kämpfen. In dem revolutionären Augenblick der Auflösung der gesellschaftlichen Trennung muss diese Organisation ihre eigene Auflösung als getrennte Organisa­tion anerkennen.« So weit ist es aber noch nicht, und man sollte auch nicht so tun, als wäre es so.