Real, irreal, scheißegal

Dass im kapitalistischen Wirtschaftsleben nicht immer die Klügsten und Besten in den Chefetagen sitzen, war bereits bekannt. Dennoch hätte man erwartet, dass Banker und Finanzminister wenigstens Gewinn und Verlust auseinanderhalten können. Die Hypo Real Estate (HRE) und Wolfgang Schäuble haben nun auch diese Illusion zerstört. 55 Milliarden Euro hat die FMS Wertmanagement, als »Bad Bank« der HRE zuständig für den Verkauf überwiegend wertloser Wertpapiere und zu 100 Prozent in staatlichem Besitz, fälschlich als Verlust verbucht. Lange Zeit haben das weder die Banker noch das Finanzministerium gemerkt. Auch den Wirtschaftsprüfern von Pricewaterhouse Coopers ist nichts aufgefallen, vielleicht waren sie zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Honorar von 1,3 Millionen Euro zu zählen. Umgehend sank die deutsche Staatsverschuldung, sie beträgt nun nur noch 81,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vermutlich, denn man weiß nicht, wer sich noch alles verrechnet hat.
Man sollte sich bei Schäuble und der HRE bedanken. Dass 55 Milliarden mehr oder weniger eigentlich keine Rolle spielen, hat nicht nur verdeutlicht, dass es beim Streit um Hartz IV nicht um Geld, sondern um die Umerziehung der Armen geht. Es wird auch veranschaulicht, was unter Überakkumulation zu verstehen ist. So wächst die Versuchung, den Verantwortlichen zuzurufen: »Hier Bodenkontrolle. Eure Distanz zur Realität ist gefährlich groß geworden. Sofort zurück in den Orbit!« Marxistischer ausgedrückt: Es ist längst offensichtlich geworden, dass nur eine neokeynesianische Politik – staatliche Regulierung der Finanzmärkte und Steigerung der globalen Nachfrage – das kapitalistische System stabilisieren kann. Selbst beim Internationalen Währungsfonds hat sich diese Erkenntnis verbreitet, fast könnte man Spuren der Einsicht sogar dort vermuten, wo man sie am wenigsten erwartet hätte: in den Reihen der Bundesregierung. Auf einmal gilt ein Mindestlohn als diskutabel. Eine »verbindliche Lohnuntergrenze« fordert die CDU, die FDP widerspricht nicht mehr grundsätzlich. Allerdings soll alles »freiwillig« zwischen den Tarifpartnern vereinbart werden, so dass es dem Mindestlohn ähnlich ergehen dürfte wie der Frauenquote für Vorstandsposten. Auch die Maßnahmen zur Lösung der Euro-Krise (siehe Seiten 12 und 13) sprechen dafür, dass es so kommen wird wie nach der Krise im Jahr 1929 in den USA. Jahrelang wurde getrödelt und lamentiert, erst als es richtig krachte, an der Börse wie auf der Straße, kam Franklin D. Roosevelt mit seinem New Deal daher. Wenn man den Kapitalisten auch mal die Ohren langzieht, um sie von selbstzerstörerischen Aktivitäten abzuhalten, hat das mit linker Politik an sich nichts zu tun. Aber immerhin haben die Lohnabhängigen hinterher mehr Geld in der Tasche. Bis zur nächsten Krise.