Krise und Alltag in Griechenland

Selbstorganisiert gegen die Krise

Während sich in Griechenland Kommunisten und andere linksradikale Gruppen bei Demonstrationen auf offener Straße bekämpfen, organisieren sich viele Bürgerinnen und Bürger, um konkrete Antworten auf den härter werdenden Alltag zu finden. Ansätze für selbstorganisierte Formen der Krisenbewältigung gibt es viele, eine Koordination und ein gemeinsames politisches Projekt fehlen allerdings noch.

Für den Mann, der uns den Weg in die Athener Innenstadt beschreiben soll, sind die Verhältnisse klar: »Ihr müsst in diese Richtung gehen, aber bleibt auf der großen Straße, denn in den Seitenstrassen hört die Zivilisation auf. Da sind die Mi­granten.« Es ist Mitte Oktober, eine Woche vor dem Generalstreik, zu dem die beiden großen Gewerkschaften des öffentlichen und privaten Sektors, Adedy und GSEE, auf Druck ihrer Basis hin und als Reaktion auf die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung aufgerufen haben. In Deutschland wäre das undenkbar, ebenso wie die zum Teil militanten Proteste, zuletzt anlässlich der Räumung des wochenlang besetzten Syntagma-Platzes am 29. Juni. Jetzt weht uns anstelle eines Hauchs von Klassenkampf aber überraschend zuerst einmal Rassismus entgegen, unverblümt formuliert.
In Athen erscheint zunächst nichts besonders ungewöhnlich. Nur die Berge von Müll, die sich seit dem Beginn des Streiks bei der Athener Mülldeponie Anfang Oktober überall anhäufen, zeugen unmittelbar von den Konflikten. Um im Stadtbild etwas auszumachen, das offensichtlich auf »die Krise« hinweist, muss man schon ein wenig genauer hinschauen. Im leichten Erstaunen über diese Tatsache schlägt sich wohl die Wirkung der monatelangen antigriechischen Propaganda nieder, die in den Medien, vor allem den deutschen, betrieben wird. Unwillkürlich tragen auch wir die Vorstellung eines apokalyptischen Szenarios in uns, insbesondere die von den personifizierten »Pleite-Griechen«, die entweder deprimiert und schuldbewusst durch die Gegend schlurfen oder aber aufgebracht vor dem Parlament demonstrieren. Die Realität liegt in den meisten Fällen irgendwo dazwischen, und wenn nicht gerade gestreikt oder protestiert wird, gehen die Leute eben ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Eine Sache aber ist klar: Das in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und dem IWF erstellte Sparprogramm der griechischen Regierung trifft große Teile der Bevölkerung mit einer Härte, die den kapitalistischen Normalzustand in Griechenland immens zuspitzt, und entzieht immer mehr Menschen auch aus der Mittelschicht buchstäblich die Existenzgrundlage.

Peter Alifragis etwa, der mit seiner Familie am 15. Oktober – dem globalen Aktionstag im Rahmen der Occupy-Proteste – auf dem Syntagma-Platz demonstriert, wurde das Gehalt an einer staatlichen Schule im Rahmen der Ausgabenkürzungen für Staatsbedienstete von 1500 Euro auf 1000 Euro gekürzt. Hinzu kommen die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 13 auf 23 Prozent und die Einführung einer Immobiliensteuer, die zusammen mit der Stromrechnung eingezogen werden soll, ganz zu schweigen von den Preisen, die in den vergangenen Jahren gestiegen sind. »Wenn sich an der Situation nichts ändert, werden wir in einigen Monaten nicht mehr in der Lage sein, unsere Rechnungen zu bezahlen, und dann unser Haus verlieren«, sagt er. Die Zustände in Griechenland erklärt er so: »Es geht hier nicht darum, andere Politiker zu wählen. Es geht um den Kapitalismus. Innerhalb des kapitalistischen Systems lassen sich unsere Probleme nicht lösen.« Auch die Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe »Den-Plirono!« (Wir zahlen nicht!) berichten von der Schwierigkeit, die einfachsten Reproduktionskosten aufzubringen. Sie wollen unter anderem den Boykott von gestiegenen Nahverkehrstarifen, Mautgebühren und der neuen Immobiliensteuer organisieren. Auch für sie sind die Ursachen der Krise und die Ziele des Protests klar: »Wir weigern uns, für die Krise des kapitalistischen Systems zu bezahlen.«
In der heterogenen Masse der Leute, die sich am globalen Aktionstag auf dem Syntagma-Platz versammelt haben, ist dies womöglich keine Mehrheitsposition. Direkt nebenan zum Beispiel stehen die »Greek Youtubers«, eine der wenigen Organisationen, die sich überhaupt als solche zu erkennen geben. Der nicht gerade politische Name der Gruppe bezieht sich einzig darauf, dass ihre Anhängerinnen und Anhänger sich auf Youtube zusammengefunden haben und die griechische Staatsbürgerschaft haben. Ganz folgerichtig tragen sie die griechische Flagge auf einem Transparent und erklären, »gegen die Reichen zu sein, die die Fäden der internationalen Finanzwirtschaft ziehen«. Sie wollen eine nationale »Lösung«, nämlich die Rückkehr zur Drachme, und eine nicht näher bestimmte »Volksregierung«. Unter griechischen Fahnen und Trommelwirbeln wird auch diesmal wieder der Galgen vor das Parlament getragen. Einige tragen hier die griechische Fahne bewusst als nationales Symbol, für viele andere scheint sie eher die einzige übriggebliebene kollektive Identität zu symbolisieren, nachdem die frustrierten Besetzerinnen und Besetzer des Syntagma-Platzes den gesamten politischen Betrieb zum Teufel gewünscht haben. So erklärt zumindest Kostas von der Nachbarschaftsversammlung im Athener Stadtteil Petralona das Phänomen.

Den Straßenhändlern wiederum, die im Gedränge ihre auf Decken ausgebreiteten Waren verkaufen und wohl zumeist illegalisierte Einwanderer sind, ist kein Kommentar zu dem sie umgebenden Protestgeschehen zu entlocken: »Keine Zeit.« Sie protestieren nicht, sondern arbeiten hier. Neben dem geschäftsfördernden Aspekt der Menschenansammlung auf dem Syntagma-Platz bedeuten derartige politische Veranstaltungen für sie wohl vor allem auch eine verschärfte Gefahr polizeilicher Repression. An anderer Stelle wird uns eine Szene von der Räumung des Syntagma-Platzes im Juni beschrieben, die die ökonomische Zwangslage der Migranten kaum besser verdeutlichen könnte: Inmitten der Wolken von dreieinhalb Tonnen Tränengas, mit denen die Polizei an jenem Tag die Demonstranten beschossen hatte, verkaufte ein Straßenhändler Gasmasken – ohne selbst eine zu tragen. »Die Luft war wirklich unerträglich und dem Mann ging es offensichtlich sehr schlecht, er musste sich übergeben und war leichenblass«, erzählt ein Aktivist. »Die Leute um ihn herum versuchten, ihn dazu zu überreden, eine von seinen Gasmasken aufzusetzten, aber er wollte alle verkaufen.«
Die Frage nach der Radikalisierung der Protestbewegung stellt sich nicht nur an politisch symbolischen Orten wie dem Syntagma-Platz. Für die griechische Linke ist diese Frage derzeit besonders wichtig. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Ansätze zur konkreten Selbstorganisation des Lebens. Kostas berichtet zum Beispiel von der Nachbarschaftsversammlung in Petralona und ihrem Versuch, Teile der gesellschaftlichen Versorgungsstrukturen, die von Regierung derzeit systematisch zerstört werden, eigenständig aufzubauen. Konkret geht es dabei etwa um die gebührenfreie Benutzung des Nahverkehrs, um bezahlbare Lebensmittel oder um die medizinische Erstversorgung. »Unser Ziel ist es, die verschiedenen Kämpfe in den Stadtteilen effektiv miteinander zu verbinden«, sagt Kostas.
Weitergehende Beispiele wie das aus der nordgriechischen Stadt Veria bleiben bisher noch Ausnahmen. Dort hat die Gruppe »Bürger von Veria« die Stromversorgung für mehrere Haushalte, die vom Netz getrennt worden waren, eigenständig wiederhergestellt. Deren Bewohner konnten die jüngst eingeführte Grundsteuer, die mit der Stromrechnung eingezogen wird, nicht bezahlen. Eine technische Anleitung zu dieser konkreten Form der Krisenbewältigung findet man inzwischen auch im Internat.

Diese und andere Formen des Widerstands in der Dynamik einer Gesellschaft, die staatlichen Angriffen ausgesetzt ist, bleiben allerdings bruchstückhaft, eine politische Koordination und ein übergeordnetes gemeinsames Projekt sind bislang nicht zu erkennen. Die griechische »Bewegung« führt derzeit zwar zahlreiche, aber eben versprengte und vereinzelte Abwehrkämpfe um die Erhaltung der Reste des Sozialstaats. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen auf den Straßen, die sich nicht nur zwischen Demonstrierenden und der Polizei abspielen, sondern zwischen den Teilnehmenden an den Demonstrationen selbst.
So geschah es am 20. Oktober, dem zweiten Tag des Generalstreiks, als Tausende Mitglieder der kommunistischen Partei KKE und ihrer Gewerkschaft, der Pame, sich vor dem Parlamentsgebäude postierten und andere linksradikale Gruppen daran hinderten, dieses zu erreichen und wie geplant zu blockieren, um eine Abstimmung über weitere Sparmaßnahmen zu verhindern. Daraufhin entwickelten sich Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden. Am Ende des Tages gab es mehrere Verletzte und einen Toten, Dimitris Kotsaridis, einen Gewerkschaftler der Pame, der vermutlich an Herzversagen starb (Jungle World, 43/11). Obwohl der Ablauf der Ereignisse an diesem Tag noch umstritten ist und die verschiedenen linken Gruppen sich darüber streiten, wer angefangen habe, zeigten die Straßenschlachten vom 20. Oktober, dass die radikale Linke in Griechenland nun einen nicht neuen, aber erneut ausgebrochenen Konflikt zu bewältigen hat, der vergangene Woche in Form von Angriffen auf Büros der KKE auch direkt weitergeführt wurde.

Das aber ist nur ein Teil der Probleme der griechischen Gesellschaft und der Bewegung. Eine weitere Reaktion auf die allgemeine Verschlechterung der Lebensverhältnisse ist die Akzeptanz von reaktionären und rechtspopulistischen Lösungsvorschlägen. So erhielt die faschistische Liste Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung), die bis zum jüngsten Zerwürfnis über nationalistisch motivierte Differenzen im derzeitigen Krisenszenario gute Kontakte zur NPD unterhielt, bei der vergangenen Kommunalwahl in Athen fünf Prozent der Wählerstimmen. Damit ist zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur eine rechtsextreme Partei in einem griechischen Parlament vertreten.
Zu einem Schauplatz ihrer ressentimentgeladenen Politik wurde in den vergangenen Monaten das Athener Viertel Agios Pandeleimon, in dem viele Einwanderer und Illegalisierte leben. Hier rief Chrysi Avgi im Mai dieses Jahres eine Nachbarschaftsversammlung ins Leben, die gegen »mi­grantische« Menschen hetzte, bis es zu einem Pogrom kam.
Als Vorwand diente den Faschisten der Tod eines Griechen, der beim Versuch, sich gegen den Diebstahl seiner Kamera zu wehren, von Migranten erstochen worden war. Zwar beteiligte sich die Bevölkerung des Viertels offenbar nicht unmittelbar am Pogrom, fest steht aber auch, dass die zahlreichen Teilnehmenden bei der Nachbarschaftsversammlung anwesend waren und die Hetzjagd keineswegs zu verhindern suchten. Wie auch andernorts sind es hier die Migranten, die von Neonazis wie von Normalbürgern zur Projektionsfläche für die Ursache der gesellschaftlichen Misere gemacht werden.
In den vergangenen Monaten versuchten linke Gruppen, in Agios Pandeleimon Präsenz zu zeigen und dem Rassismus etwas entgegenzusetzen. Es wurden antirassistische Nachbarschaftsversammlungen veranstaltet, auch durch kulturelle Aktionen wird Rassismus thematisiert und versucht, die Betroffenen selbst, also die Migranten, einzubeziehen. Beim »Agit-Prop-Theater« stellen drei Männer, zwei davon in Uniformen, Szenen dar, in denen laut gestritten wird. Es geht um eine Festnahmesituation. Das Theater kommt gut beim Publikum an, das zu 90 Prozent aus Männern um die Zwanzig besteht. »Die meisten sind illegalisierte Einwanderer, viele von ihnen kommen aus Pakistan, Afghanistan und aus afrikanischen Ländern«, erzählt einer der Aktivisten der »Victoria Square Assembly«, die die Veranstaltung organisiert. Auf die Frage nach der Zusammenarbeit mit Migranten des Viertels räumt er ein: »Das ist ein schwieriges Thema. Es ist schwer, an die Leute heranzukommen, weil viele von ihnen Griechenland als Zwischenstation auf dem Weg in andere europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich betrachten. Eine längerfristige Vernetzung passt wenig zu dieser Lebensrealität.« Die Lebensbedingungen der Illegalisierten seien hier sehr hart, »und das wird verstärkt durch die Konkurrenz untereinander um die wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Politische Organisierung ist für sie meistens keine Option.«

Im Flugblatt der »Victoria Square Assembly«, das auf dem Platz verteilt wird, wird eine Verbindung zwischen der Lebenssituation der Migranten, dem Rassismus der griechischen Mehrheitsgesellschaft und den kapitalistischen Strategien der Krisenbewältigung hergestellt. Das Ineinandergreifen etwa von städtebaulichen Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen, staatlicher Migrationspolitik und der immer weitergehenden Kürzung von Sozialleistungen wird dabei treffend auf den Punkt gebracht: »Social Cannibalism is not the Answer to the Crisis«, ist hier zu lesen, Staat und Kapital gelte es stattdessen anzugreifen.
Einige Tage später stellt die marxistische »Group for the Circulation of Movements« auf einer Veranstaltung im linksradikalen Kellerraum »Autonomo Steki« in Exarchia bei kostenlos ausgeschenktem Orangensaft ihre Analyse der Krise vor. Sie bezeichnen ebenfalls die Wirtschaftspolitik der Regierung als gezielten Angriff von griechischem Staat und Kapital auf die Sozialstruktur des Landes und als »bürgerliche Konterrevolution«. Die Krisenpolitik wird hier als Restrukturierung bestehender kapitalistischer Verhältnisse mit dem Ziel einer optimierten Verwertung analysiert und nicht als Fehlverhalten der politischen Klasse oder Resultat der »Gier« einzelner Banker.
Das sei, so hören wir von dem Soziologen Pavlos, bislang zwar immer noch eine eher seltene Analyse. Doch er hofft, dass eine derartige Kritik der Verhältnisse in Zukunft nicht mehr ganz so sehr auf verlorenem Posten steht.