Über den Film »Die Höhle der vergessenen Träume« von Werner Herzog

Wir sind die Krokodile, die in einen Abgrund der Zeit blicken

Werner Herzog erkundet die Höhlenmalereien von Chauvet.

Die 1994 in Südfankreich entdeckte Höhle von Chauvet, Fundort der ältesten bekannten Bildschöpfungen der Menschheit, passt geradezu perfekt in Werner Herzogs Sammlung extraordinärer Filmsujets. Seit nunmehr rund fünfzig Jahren kultiviert der Filmemacher seine Obsession für extreme Landschaften (Wüste, Antarktis) sowie Abweichler und Grenzgänger (Bärenliebhaber, Überlebende von Naturkatastrophen, geniale Exzentriker oder verwirrte Pinguine). Herzog selbst hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »poetischen, ekstatischen Wahrheit« geprägt, die er in jedem seiner Filme aufzuspüren sucht. Wobei er den raunenden Unterton dieser Pathosformel am liebsten selbst unterläuft. Schon die erste Szene der Dokumentation »Höhle der vergessenen Träume« ist eines seiner typischen Erhabenheitsmanöver. Nach einer Kamerafahrt über ein Feld mit noch kargen Weinstöcken fällt der Blick auf einen massiven Steinbogen, der sich über einen Fluss wölbt – ein beeindruckendes Landschaftspanorama, das Herzog an Wagner und Caspar David Friedrich denken lässt. Die Dramatik dieser Kulisse lädt den Ort mit einem zusätzlichen Thrill auf. Der Regisseur und sein kleines Team aus Wissenschaftlern erhielten lediglich für paar Wochen im Frühjahr und Herbst die Genehmigung, die Höhle zu erkunden. Es ist diese Exklusivität, die Herzog liebt. So üben die strengen Auflagen, unter denen die Höhlenbegehung stattfindet, ganz offensichtlich einen großen Reiz auf ihn aus. Der schmale Eisensteg durch die Grotte darf nicht verlassen werden, nichts darf berührt werden, Equipment und Drehzeit sind äußerst begrenzt. Man kennt diese mit Superlativen behafteten Ausnahmemomente aus seinen anderen Filmen, etwa »The White Diamond« (2004), worin der Regisseur einen Bergsteiger animiert, in einer waghalsigen Aktion Filmaufnahmen einer unzugänglichen Höhle zu machen, die von Mauerseglern bewohnt wird, und er die Bilder dem Zuschauer, kaum hat er ihn neugierig gemacht, schlussendlich vorenthält – um das Geheimnis zu wahren, wie er sagt. Die für den US-History-Channel entstandene Höhlenbegehung, von Herzogs gewohnt bajuwarisch-feierlicher Erzählerstimme geführt, setzt hingegen auf Teilhabe. Herzog, der für einige Tage mit einer kleinen Crew in der Höhle filmen durfte, zeigt auf diese Weise der Öffentlichkeit erstmals etwas, das ihr andernfalls vorenthalten bliebe. Das Forschungsprojekt ist dabei Teil des Films. Hin und wieder sieht man eine Kamera im Bild, Scheinwerfer, die blenden; dieses technische Setting verhindert nicht zuletzt ein ästhetizistisches Schwelgen in den Abbildungen aus der Frühzeit, eine Reduktion auf visuelle Effekte. Um den Eindruck der Begehung möglichst naturgetreu, das heißt ­in diesem Falle auch: physisch, wiedergeben zu können, hat Herzog erstmals in 3D gedreht. Und es ist in diesem Fall auch plausibel. Hat man erst einmal mit dem Forscherteam die Grotte betreten, nimmt man sie mit jedem Schritt räumlich wahr, den engen, klaustrophobisch wirkenden Durchgang, die durch die Scheinwerfer nur teilweise beleuchteten Räume, die labyrinthischen Gänge, die Ausbuchtungen und Gewölbe, die mal den Blick versperren, ihn dann aber wieder eröffnen auf Darstellungen verschiedener Tierarten der Eiszeit. Von Wollnashörnern über Mammuts bis hin zu Höhlenlöwen, Panthern und Hyänen – es sind Malereien, die so frisch und unverbraucht wirken, als seien sie vor nicht allzu langer Zeit entstanden. Ein Felssturz hatte die Höhle für mehr als 20 000 Jahre wie in einer »Zeitkapsel« versiegelt.
Das Licht ist spärlich, beleuchtet die Zeichnungen nie gleichmäßig, was ihnen umso mehr den Charakter einer »Live«-Entdeckung verleiht. Ein Wandbild mit Pferden kommt zum Vor­schein, teilweise in riesigen Bildwänden von bis zu zwölf Metern Breite, ebenso ein achtbei­niges Bison, dessen Beine Bewegungen simulieren. Herzog deutet diese Zeichung als eine Art »Urkino«, als eine Vorform zu Eadweard Muybridges Bewegungsbildern. Einige Teile der Grotte sind nur teilweise zugänglich. So gibt es etwa auf einem herabhängenden Felsenzahn die einzige Darstellung eines menschlichen (weiblichen) Körpers, der offenbar gerade von einem Bison begattet wird. Genaueres entzieht sich dem Kamerablick, die Rückseite nämlich darf nicht gefilmt werden, zu fragil ist der Untergrund. »Es gibt noch eine visuelle Konvention, die weit über Baywatch hinausgeht«, heißt es da – es sind diese Art von leicht irrsinnigen Beob­achtungen, die den Film immer wieder den Konventionen eines Wissenschaftsberichts ent­rücken – Assoziationen wie die zwischen einem Schattenspiel, das Herzog aus der Vergangenheit rekonstruiert, und Fred Astaires Tanz mit und gegen seinen Schatten in »Swing Time«. Einmal bittet der Leiter der Forschungsgruppe um absolute Ruhe. Jetzt ist auch der Film ganz still, nur irgendwann wird der Klang eines schlagenden Herzens hörbar. »Ist es das eigene Herz oder das Herz der Höhle«, fragt der Filmemacher aus dem Off.
Herzog geht es nicht ausschließlich um das ästhetische Erlebnis, vielmehr versucht er sich eine Vorstellung davon zu machen, wie das Le­ben vor über 20 000 Jahre ausgesehen hat, als die Darstellungen entstanden sind. Der Film erforscht sukzessive die Bedeutung dieser Kulturproduktion. So befragt der Regisseur Archäo­logen und Paläontologen, die Fußspuren, Knochenfunde oder Brandspuren in der Höhle zu interpretieren versuchen oder sich mit der Kultur dieser Zeit befassen. Ein im Inuit-Gewand gekleideter Archäologe hat nach einem Fundstück aus der Zeit eine Flöte rekonstruiert, auf der er die amerikanische Nationalhymne spielt. Ein anderer Wissenschaftler erforscht frühzeit­liche Jagdmethoden und unternimmt einen etwas kläglichen Versuch, einen Speer mit einer Knochenspitze zu werfen. Nach einer längeren, kommentarlosen Sequenz, die die Schönheit und Pracht der Höhle offenlegt und zelebriert, wechselt Herzog zu einem völlig schrulligen Postskript, der zur bizarren Science-Fiction-Vision gerät. Unweit der Chauvet-Höhlen ist eine tropische Sphäre entstanden, die durch den Dampf des nahegelegenen Atomkraftwerks prächtig gedeiht. In den Tümpeln und Seen haben sich die Krokodile schnell vermehrt, hier sind auch Albinomutationen entstanden. Sobald die hellweißen, unter der Wasseroberfläche herausglotzenden Dinger vor die Kamera geraten, geht sein Faible für Tiere (insbesondere für Archosaurier) mit Herzog durch. Die herrlichen Höh­lenmalereien sind ihm nun herzlich egal. Herzog fragt sich, was wohl die Tiere von den Male­reien halten würden. Und: »Sind wir die Kro­kodile, die in einen Abgrund der Zeit blicken?« Durch die Glubschaugen der Albino­krokodile gesehen, erscheint das erhabene Gewese um die Chauvet-Höhlen plötzlich reich­lich absurd.

Die Höhle der vergessenen Träume (USA/F/D/Kanada 2010). Regie: Werner Herzog. Start: 3. November