Italien nach dem Rücktritt Berlusconis

Bankrott der Opposition

Die EU hat offensichtlich direkten Einfluss darauf genommen, dass es in Italien nicht zu Neuwahlen gekommen ist. Einen wirklichen Systemwechsel soll es nämlich gar nicht geben.

Der Ausgang der italienischen Regierungskrise belegt den Bankrott der parlamentarischen Opposition und den Verlust der politischen Handlungsfähigkeit der Linken. Deshalb reagierte die Bevölkerung vergangene Woche weniger mit ausgelassener Freude als vielmehr mit Verbitterung und Hass: Als Silvio Berlusconi bei Staatspräsident Giorgio Napolitano vorfuhr, um seinen Rücktritt einzureichen, wurde er von wütenden Sprechchören begleitet. Das Bewusstsein einer bitteren Niederlage ließ sich nicht verdrängen: Der »Medienmogul« musste nicht wegen seiner zahlreichen Interessenkonflikte abtreten, der »Bunga-Bunga-König« wurde nicht wegen seiner Sex­geschäfte gestürzt, und auch seine Amtskollegen hätten die peinlichen Späße des »Clowns« bei internationalen Konferenzen wohl noch lange Zeit weiter erduldet.
Nein, Italiens Ministerpräsident musste zurücktreten, weil seine Rechtskoalition infolge interner Zerwürfnisse seit über einem Jahr keine sicheren Mehrheitsverhältnisse garantieren und die von der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfond (IWF) geforderte Haushalts- und Strukturpolitik nicht durchsetzen konnte. Ebenso stand für die internationalen Partner zu befürchten, Berlusconis Regierung könnte die soziale Ordnung nicht aufrechterhalten, jedenfalls nicht ohne den aufsehenerregenden Einsatz von staat­licher Gewalt.
Als Berlusconi auf die Aufforderungen und Handlungsanweisungen der europäischen Institutionen nur noch mit vagen Versprechungen und Absichtserklärungen antworten konnte, wurde ein Regierungswechsel unumgänglich. Doch um sicher zu sein, dass die Sparprogramme rigoros umgesetzt werden, galt es, Neuwahlen zu vermeiden. Denn erst im Frühjahr hatten die Kommunalwahlen in Mailand und Neapel gezeigt, dass parteiunabhängige, linke Kandidaten mit alternativen Programmen Mehrheiten gewinnen konnten.

Mit der Nominierung Mario Montis zum neuen Ministerpräsidenten Italiens haben EU, EZB und IWF ihren Wunschkandidaten durchgesetzt. Man kennt und schätzt sich: Von 1995 bis 2004 war Monti EU-Kommissar, zunächst für den Binnenmarkt, später für den Wettbewerb. Er verfügt über hervorragende internationale Verbindungen, war bis zu seiner Nominierung zum Regierungschef als Berater für die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs tätig und Präsident der privaten Wirtschaftsuniversität Bocconi in Mailand.
Bei Redaktionsschluss stand die Zusammensetzung seines Kabinetts noch nicht fest. Erwartet wird, dass eine »technische Regierung« zustande kommt, in der die Schlüsselpositionen weniger von Politikern als vielmehr von Männern aus dem Umfeld der Universität Bocconi besetzt werden. Die neue Regierung wird das vorige Woche in aller Eile und ohne parlamentarische Diskussion verabschiedete »Stabilitätsgesetz« umsetzen. Mit Kürzungen in der öffentlichen Verwaltung, dem Verkauf öffentlichen Eigentums, der Privatisierung von Staatsbeteiligungen und der Erhöhung des Renteneintrittsalters sollen die Staatschulden abgebaut werden, während durch eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes und die fortgesetzte Umstrukturierung des Bildungssektors die wirtschaftliche Stagnation überwunden werden soll.
Dass Berlusconi seinen Rücktritt zunächst nur ankündigte und an die Verabschiedung des »Stabilitätsgesetzes« knüpfte, war ungewöhnlich. Ungewöhnlich aber war das gesamte italienische Krisenmanagement. Staatspräsident Napolitano ließ sich auf die Extravaganz Berlusconis ein, weil er längst selbst außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen hatte. Schon Tage vor dem angekündigten Rücktritt hatte er »informelle« Gespräche mit den verschiedenen Fraktionsvorsitzenden eingeleitet. Noch bevor Berlusconi sein Mandat niederlegte, war klar, dass er die Auflösung der Kammern und die Ausschreibung von Neuwahlen verhindern und stattdessen eine Übergangsregierung einsetzen wollte. An ihrer Spitze sollte ein Technokrat stehen, der die Gunst der internationalen Politik und Wirtschaft genießt.

Nicht umsonst war Napolitano in den vergangenen Wochen von der internationalen Diplomatie als »Garant« Italiens gepriesen worden. Als er Monti inmitten dieser turbulenten Tage zum Senator auf Lebenszeit ernannte, war das keine launige »Überraschung«, sondern ein klug kalkulierter Schachzug des 86jährigen Politikers. Napolitanos Auszeichnung nahm Montis Nominierung zum Leiter einer Übergangsregierung vorweg. Erwartungsgemäß beruhigten sich »die Märkte«. Die Renditen für italienische Staatsanleihen, die tagelang in prohibitive Höhen gestiegen waren und die Angst vor einem Bankrott der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Euro-Zone geschürt hatten, sanken auf den noch immer hohen Durchschnittswert der vergangenen Monate. Damit war die Diskussion um vorgezogene Neuwahlen beendet, entsprechende Forderungen galten fortan als »unverantwortlich«.
Anders als Berlusconis treueste Anhänger kolportieren, handelt es sich jedoch keineswegs um eine Verschwörung von »Finanzoligarchien«, und es gibt auch kein jüdisch-freimaurerisches Komplott des ehemaligen Kommunisten Napolitano. Berlusconis Sturz wurde ganz offen und ohne jede Heimlichkeit vorbereitet. Schon vor zwei Wochen hatten die EU-Wirtschaftskommission, die EZB und der IWF Kontrolleure nach Rom geschickt. Noch am Tag des Rücktritts reiste EU-Ratspräsident Herman van Rompuy an, um ohne diplomatische Umschweife zu erklären: »Das Land braucht Reformen, keine Wahlen.«

Diese offene Einmischung in inneritalienische Angelegenheiten ist auch der Handlungsunwilligkeit der größten Oppositionspartei geschuldet. Seit über einem Jahr vermied es der Partito Democratico (PD) konsequent, auf Neuwahlen zu drängen. Denn sein Vorsitzender, Pier Luigi Bersani, hätte seine Spitzenkandidatur nicht nur gegen parteiinterne Konkurrenz durchsetzen müssen, sondern überdies riskiert, in koalitionsinternen Vorwahlen des Mitte-Links-Bündnisses eine Niederlage zu erleiden. Mit Apuliens Ministerpräsident Nichi Vendola hätte ein Kandidat der Linkspartei Sinistra Ecologia Libertà (SEL) Aussichten auf den Sieg gehabt. Er spricht sich seit Monaten gegen die deutsch-französische Sparpolitik des »karolingischen Europa« aus und fordert stattdessen den Aufbau eines »mediterranen« Eu­ropa.
Nun markiert die Regierung Monti für beide politischen Lager eine Zäsur: Berlusconis Popolo della Libertà (PdL) ist bereits in Auflösung begriffen. Nachdem zunächst einige Abgeordnete zur Union des christdemokratischen Zentrums übertraten, hat sich inzwischen eine ganze Gruppe »Liberaler für Italien« von der PdL-Fraktion abgespalten. Allerdings ist längst nicht ausgemacht, ob damit die politische Ära Berlusconis tatsächlich beendet ist. In seiner vorerst letzten Videobotschaft versprach er seinem Publikum, zukünftig »sein Engagement für Italien zu verdoppeln«. Das Versprechen sollte als Drohung ernst genommen werden. Sein bisheriger Koalitionspartner, die Lega Nord, hat sich dagegen eindeutig für die Oppositionsrolle entschieden. Sie wird sich vorerst wieder auf ihre territorialen Wurzeln besinnen und mit ihrer europafeindlichen, regionalistischen Propaganda ihre angestammte Wählerklientel zu befriedigen suchen.
Für die Demokraten könnte Montis Übergangsregierung zur Zerreißprobe werden. Während der rechte Parteiflügel zufrieden ist und hofft, im Verein mit dem christlichen Zentrum Italien endlich zu »modernisieren«, indem die EU-Direktiven konsequent umgesetzt werden, hat der linke Parteiflügel, der zusammen mit den italienischen Indignados und der Partei »Italien der Werte« (IdV) eine andere Politik forderte, nahezu jede Einflussmöglichkeit verloren. Nur wenn die Linken es geschafft hätten, Neuwahlen zu organisieren und zu gewinnen, hätte mit einer neuen Mitte-Links-Koalition der angestrebte »Systemwandel« eingeleitet werden können.
Auch ihre letzte Hoffnung, Montis Regierung möge »zweckgebunden« und von kurzer Dauer sein, wird sich kaum erfüllen. Vendolas Forderung, sie solle sich auf die Einführung einer hohen Vermögenssteuer beschränken, den Verteidigungsetat kürzen und bereits im Frühjahr 2012 Neuwahlen ansetzen, ist unrealistisch. Die Re­gierung wird sich vielmehr auf den »nationalen Notstand« berufen, um die Verwaltung der Amtsgeschäfte bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 zu rechtfertigen.
Ob Montis Kabinett nicht nur die parlamentarische Opposition, sondern auch die sozialen Bewegungen zurückdrängen kann, ist dagegen noch offen. Die Bewegungen sind entschlossen, gegen die »kommissarische Übernahme« der Politik durch Wirtschaftsexperten zu mobilisieren. Das Bündnis »Vereint für die Alternative«, in dem sich Schüler und Studierende, Prekäre und Metallarbeiter zusammengeschlossen haben, will der »Diktatur des Finanzkapitals« Widerstand entgegensetzen und damit gleichzeitig »eine neue Gesellschaft, ein neues Entwicklungsmodell vorstellen«. Dieses »Entwicklungsmodell« basiert auf der Idee vom »Gemeingut« (Jungle World, 19/2010). In der Commons-Bewegung finden sich nun verschiedenste systemkritische Strömungen zusammen, nicht zuletzt, um sich gegen die bevorstehende Privatisierungs- und Sparpolitik zu wehren. Die geplanten Privatisierungen drohen auch den Volksentscheid vom Juni außer Kraft zu setzen, wonach die Wasserversorgung in öffentlicher Hand verbleiben muss. Für Ende November ist eine landesweite Demonstration geplant, dann wird sich zeigen, wie viel Unterstützung die außerparlamentarische Opposition für ihren radikalen Widerstand gegen die Notstandsregierung tatsächlich hat.