Die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Uruguay und Argentinien

Die zwei Seiten des Rio de la Plata

In Uruguay stimmten Kongress und Senat Ende Oktober dafür, dass bestimmte Straftaten aus der Zeit der Militärdiktatur nicht verjähren. In Argentinien fanden bereits Prozesse gegen Angehörige der Militärdiktatur statt. Die Mitte-Links-Regierungen der beiden Länder arbeiten die Vergangenheit unterschiedlich auf. Das liegt vor allem an der unterschiedlichen Stärke der jeweiligen Menschenrechtsbewegung.

Uruguay ist die Schweiz Lateinamerikas. Erst Ende Oktober wurde es vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf dem G20-Gipfel in Cannes neben Brunei, Botswana und acht weiteren Staaten öffentlich als Steuerparadies gerügt. Bis heute ist das kleine Land am Rio de la Plata Zufluchtsort für Reiche und Neureiche aus den angrenzenden Staaten Argentinien und Brasilien. Die Ursache dafür, dass Uruguay zu einem Umschlagplatz und zur Waschanlage für ausländisches Geld wurde, fällt in die Zeit der Militärdiktatur von 1973 bis 1985. 1982 führten die Junta ein strenges Bankgeheimnis ein. Es zu verletzen, zieht drei Jahre Gefängnis nach sich. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.
Doch nicht nur die Fiskalpolitik blieb nach Uruguays Rückkehr zur Demokratie so gut wie unangetastet. Auch über die Menschenrechtsverletzungen während jener Zeit herrschte lange Stillschweigen. Eine 1986 eingesetzte Wahrheitskommission wurde von der demokratischen Regierung nicht unterstützt und auch beim zweiten Versuch im Jahr 2000 bewirkte sie wenig. Hinzu kommt die Straflosigkeit: Bis heute gilt das 1986 erlassene Amnestiegesetz, das 1989 per Plebiszit bestätigt wurde. Ende 2009, im Zuge der letzten Präsidentschaftswahl, sprach sich die uruguayische Bevölkerung bei einem gleichzeitig stattfindenden Volksentscheid zum zweiten Mal für die Beibehaltung der Amnestiegesetze aus.
Als die Regierung des amtierenden Präsidenten José Mujica im Mai trotzdem ein Gesetzesvorhaben einbrachte, um die Amnestie für während der Militärdiktatur begangene Verbrechen wieder aufzuheben, scheiterte dies an der fehlenden Zustimmung im Kongress. Víctor Semproni, Abgeordneter der Mitte-Links-Partei Frente Amplio, verließ vor der Abstimmung den Saal, es kam zum Stimmenpatt. Der ehemalige Stadtguerillero Mujica, der selbst während der Diktatur eingesperrt und gefoltert wurde, hatte mit seiner Haltung, dass auch der »Willen des Volkes« zu respektieren sei, das ja gegen eine Aufhebung der Amnestiegesetze gestimmt hatte, nicht gerade Anlass zu Fraktionsdisziplin gegeben.

Nur in diesem Kontext ist das zu verstehen, was in dem kleinen südamerikanischen Land Ende Oktober geschah. Der uruguayische Senat und der Kongress stimmten nach stundenlanger Debatte einer Vorlage des Frente Amplio zu, mit der verhindert werden sollte, dass als gewöhnliche Straftaten deklarierte Diktaturverbrechen zum 1. November diesen Jahres verjähren. Dieses Datum hatte der Oberste Gerichtshof des Landes vergangenen Mai als Frist festgelegt. Außerdem sollen mit dieser Gesetzesnovelle die Vorgaben des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden, der Uruguay im März dazu verpflichtet hatte, Verbrechen der Diktatur zu verurteilen. »Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und gewaltsames Verschwindenlassen sind Verbrechen gegen die Menschheit und verjähren nicht«, heißt es in der nun beschlossenen Novelle. Laufende Verfahren gegen Armeeangehörige und Polizisten können weitergeführt, neue Prozesse, wenn die Justiz im Einzelfall zustimmt, eröffnet werden. Faktisch ist die Straflosigkeit abgeschafft, symbolisch bleibt sie als Gesetz erhalten. »Viele Menschen waren im Mai einfach sehr wütend, nachdem der Frente Amplio im Parlament kurzfristig einen Rückzieher gemacht hatte«, sagt der uruguayische Soziologe und Journalist Raúl Zibechi. »Mujica musste einen Ausweg finden, der die punktuelle Verfolgung der Verbrechen ermöglicht, ohne Erinnerung zum Staatsprojekt zu machen.«

Das ist im Nachbarland Argentinien der Fall, wo 2003 zunächst Nestór Kirchner und 2007 seine Frau Cristina Fernández ins Präsidentenamt gewählt wurden. 2003 wurden zwei seit den achtziger Jahren geltende Amnestiegesetze medienwirksam per Parlamentsbeschluss aufgehoben. Im Juni 2005 bestätigte der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung und machte damit den Weg für die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen frei. Nach Angaben der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS liefen bis Frühjahr 2011 363 Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren, 429 Angeklagte befanden sich in Untersuchungshaft. 167 Angeklagte wurden bereits zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt, darunter auch die früheren Führer der Militärjunta Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone.
Erst kürzlich endete der erste Teil des Verfahrens gegen Angehörige der Militärdikatur von 1976 bis 1983, die damals im größten Folterzen­trum, ESMA, einer Mechanikerschule der Marine, mehr als 5000 Menschen folterten und ermordeten, mit zwölf Mal lebenslänglich für die Täter. Das Verfahren firmiert unter dem Namen »Megacausa ESMA«. Unter den Verurteilten ist auch der als »blonder Todesengel« bekannte Alfredo Astíz, der die Ermordung zweier französischer Nonnen sowie einer der Gründerinnen der »Madres de la Plaza de Mayo« zu verantworten hat.
In Uruguay gibt es dagegen bis heute erst zwei Schuldsprüche – bedingt auch durch die Entscheidung, im Einzelfall vorzugehen, und nicht, wie in Argentinien, in Form von Sammelklagen, die sich auf die Straftaten in einem ganzen Folterzentrum konzentrieren.

Die Diktatur in Argentinien währte kürzer, war aber wesentlich verheerender als in Uruguay. Vom Jugendaktivisten bis zum Lehrer, vom Gewerkschaftler bis zum Guerillero wurden praktisch alle in Argentinien als »subversiv« eingestuft. Schätzungsweise 30 000 Menschen verschwanden gewaltsam und wurden in geheimen Folterzentren ermordet. Die Leichen der meist sehr jungen Opfer wurden aus Helikoptern in den Rio de la Plata geworfen. Die Risse in den Familien und das Verschwinden einer ganzen Generation engagierter Menschen wirken bis heute weiter. Nicht zufällig war die erste und erfolgreichste der Menschenrechtsbewegungen Argentiniens die Organisation »Madres de la Plaza de Mayo«, in der sich Mütter verschwundener Frauen und Männer engagierten. »Hier gibt es einen hegemonialen gesellschaftlichen Konsens für Wahrheit und Gerechtigkeit, der sich nicht auf die Linke reduzieren lässt«, beschreibt der argentinische Historiker Fernando López Trujillo die Situation in seinem Land. »Die Menschenrechtsbewegung hat jahrelang Druck gemacht – bis der Staat es kapiert hat.«
In Uruguay wurden Oppositionelle während der Diktatur jahrelang eingesperrt und viele gefoltert. Die meisten von ihnen überlebten jedoch. Einer Schätzung von Amnesty International zufolge befanden sich 1976 – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von drei Millionen Menschen – mehr politische Häftlinge in den Gefängnissen als irgendwo sonst auf der Welt. Insgesamt wurden etwa 40 000 Menschen verhaftet. Über den Verbleib von etwa 200 Personen gibt es bis heute keine Gewissheit.
»Wenige erinnern sich an die Opfer, und viele ehemalige Verfolgte haben immer noch Angst vor den Militärs oder wollen einfach ihre Ruhe haben«, sagt Trujillo, der während der argentinischen Diktatur lange im Exil in Uruguay lebte und bis heute oft dort ist. Der Uruguayer Zibechi verweist auf das späte Entstehen der Menschenrechtsbewegung in seinem Land: »Es sind am Ende wenige, sehr aktive Personen und Gruppen, aber der Mehrheit der Bevölkerung ist das Thema egal. Für sie gibt es wichtigere Probleme.« Beide bezweifeln, dass die Gesetzesnovelle zu vielen neuen Verfahren oder gar einer gesellschaftlichen Debatte in Uruguay führen wird.