Über Mikrokredite

Innere Landnahme

Gerhard Klas entzaubert in seiner Studie zur Mikrofinanzindustrie den Mythos der Mikrokredite und zeigt, welche Rolle dieses neue Lieblingsinstrument der »Entwicklungshilfe« für die ursprüngliche Akkumulation in den Ländern des Südens spielt.

Bei Mikrokrediten handelt es sich um Kleinstkredite in Höhe von umgerechnet 40 bis unter 1 000 Euro, die von Mikrofinanzinstitutionen (MFI) vor allem in Entwicklungsländern an Menschen vergeben werden, die wegen ihrer Besitzlosigkeit keinen Zugang zum herkömmlichen Bankensystem haben. Erklärtes Ziel ist es, den Armen Startkapital zu geben, das ihnen ermöglichen soll, sich eine eigenständige ökonomische Existenz aufzubauen. Das gute Image der Mikrokredite als Mittel der Armutsbekämpfung hält sich bis heute. Die dahinterstehende Utopie einer Welt von Kleinunternehmern, die ihres eigenen Glückes Schmied sind, wenn sie nur die nötige Handvoll Euro Startkapital zur Verfügung haben, erweist sich jedoch als Ausdruck einer Neoliberalisierung der Entwicklungspolitik, die sich als herrschendes Prinzip der Nord-Süd-Beziehungen international durchgesetzt hat. Gerhard Klas, freier Journalist aus Köln, beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema. Sein Buch »Die Mikrofinanz-Industrie« ist die erste umfassende Studie in deutscher Sprache, die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzt.
Mikrokredite sind seit einigen Jahren als Instrument der »Entwicklungshilfe« stark im Kommen und lösen andere Formen ökonomischer Zusammenarbeit zwischen den Industrieländern und der sogenannten Dritten Welt ab. Gerade die derzeitige Bundesregierung und ihr Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel (FDP), zeigen sich von dieser Variante »nachhaltiger« und kostenneutraler Förderung ökonomischer Entwicklung begeistert, verspricht sie doch Armutsbekämpfung mit marktwirtschaftlichen Mitteln. Und dies auch noch im wirtschaftlichen Interesse deutscher Banken wie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).

Längst hat sich der Markt für Mikrokredite zu einem Subsystem der internationalen Finanzmärkte entwickelt, inzwischen sind in diesem Segment 60 Milliarden US-Dollar weltweit im Spiel, die Deutsche Bank schätzt das Potential auf mindestens 250 Milliarden. Eigens geschaffene Rating-Agenturen bewerten die im größeren Stil tätigen MFI nach betriebswirtschaftlichen Kriterien. Eingespielte Allianzen von Investoren, Banken und NGO organisieren den Zugang zu den Kapitalmärkten. MFI, die, wie die Grameen Bank in Bangladesh, Millionen Kreditnehmer haben, leihen sich das nötige Kapital von internationalen Großbanken, Staatsfonds westlicher Länder oder suprastaatlichen Entwicklungsbanken und verleihen es an die Kreditnehmer vor Ort zu effektiven Zinssätzen von durchschnittlich 38 Prozent. Diese Konditionen machen oft schon bald einen Folgekredit erforderlich, nicht selten bei einer anderen MFI, um den ersten Kredit abbezahlen zu können. Die staatliche Aufsichtsbehörde der Mikrofinanzins­titute in Bangladesh beziffert den Anteil der mehrfach verschuldeten Kreditnehmer auf mittlerweile 70 Prozent. Auf diese Weise sind in den vergangenen 20 Jahren Millionen Kleinbauern und pauperisierte Kleinsthändler in den Entwicklungsländern nicht etwa aus der Armut geholt worden, sondern in der Schuldenfalle gelandet. Aber deren sozialen Bedürfnisse und Interessen spielen – entgegen der Rhetorik von Mikrokreditlobbyisten, Entwicklungspolitikern, Kirchenvertretern sowie der Bankvorstände – gemessen an den Rendite­erwartungen der MFI und der mit ihnen verbundenen Investoren schon lange keine Rolle mehr.
Gerhard Klas stellt in seinem Buch die Geschichte des Mikrokredits, seiner Profiteure und Opfer dar. Er dokumentiert den Aufstieg des bengalischen Bankers Mohammed Yunus zum Guru der internationalen Mikrofinanz und zum Friedensnobelpreisträger 2006. Die Entscheidung des Osloer Komitees wirkt angesichts der bereits seit einigen Jahren kursierenden Berichte über die dunklen Seiten von Yunus’ Grameen Bank (massenhafte Überschuldung, systematische Übertölpelung von Analphabeten, Pfändungen und Landraub, Selbstmord von Schuldnern) ähnlich plausibel wie die Auszeichnung Barack Obamas 2009 oder der Präsidentin von Liberia, Ellen Johnson-Sirleaf, in diesem Jahr, die wegen ihrer Verwicklung in den liberianischen Bürgerkrieg auf Empfehlung einer Wahrheitskommission eigentlich gar kein politisches Amt innehaben dürfte.
Bangladesh, die Wirkungsstätte von Mohammed Yunus, über den Dirk Niebel sagt, er habe »mit der Grameen Bank vorgemacht, dass man auch mit ganz armen Menschen nachhaltige Bankgeschäfte tätigen kann«, ist das »Herzland der Mikrofinanz«. In manchen ostbengalischen Dörfern kommen heute auf 30 Familien zehn MFI. Mehr als 30 Millionen der knapp 160 Millionen Einwohner des bitterarmen Agrarlandes sind bei einem oder mehreren MFI verschuldet, darunter 8 Millionen bei der Grameen Bank, dicht gefolgt von den beiden anderen großen MFI im Land: ASA, einem Partner der Deutschen Bank, und der BRAC, beides ehemaligen NGO, die exemplarisch für den Wandel der Entwicklungsprojekte stehen. Kaum eine NGO gibt es heute in Bangladesh, die nicht versucht, im Geschäft mit den Mikrokrediten mitzumischen, viele haben sich komplett zu Finanzinstitutionen umstrukturiert. Weg von der Partizipation der Betroffenen und der Infragestellung von Machtstrukturen, hin zu Dienstleistungsorientierung und Professionalisierung, so lässt sich die Entwicklung der NGO nicht nur in Bangladesh beschreiben.

Aber auch in den Ländern der nördlichen Hemisphäre gibt es inzwischen Versuche, Mikrokreditprogramme zu implementieren, um diejenigen, die keinen Zugang zu geregelten Bankkrediten haben, mit einem Startkapital für prekäre Arbeitskraftunternehmerexistenzen auszustatten. In Deutschland gibt es seit 2010 einen Mikrokreditfonds, der mit Geldern des Europäischen Sozialfonds und diversen staatlichen Absicherungen Mikrokredite an Menschen vergibt, die durch eine Existenz als Kleinselbständige der Schikane der Jobcenter entgehen wollen. Ob das Modell hier Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Welche Absicht dahintersteht ist jedenfalls offensichtlich.
Neben Bangladesh ist Indien der zweite Schwerpunkt des Autors. Vor allem im südlichen Bundesstaat Andhra Pradesh ist die Überschuldung von Kleinbauern zum Massenphänomen geworden, in den vergangenen zehn Jahren sahen Zehntausende Kleinbauern aus dieser Situation keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord. Auch hier wird deutlich, dass MFI keine Alternative zu privaten Geldverleihern sind und sich vielfach, wie etwa SKS, durch Kreditverbriefungen und Börsengang längst als normale Finanzdienstleister entpuppt haben, deren Sachbearbeiter vor Pfändungen und Gewaltandrohungen gegenüber ihren Schuldnern nicht zurückschrecken. Klas hat mehrmals sowohl Indien als auch Bangladesh bereist, um Betroffene und Akteure zu interviewen und in den Dörfern die Leidensgeschichten der betroffenen Menschen zu dokumentieren. Seine Augenzeugenberichte sind eine wichtige Ergänzung zu den recherchierten Fakten. An manchen Stellen etwas störend wirkt lediglich der journalistische Schreibstil mit seinen Überblenden und mitunter abrupten Szenenwechseln, was den Band zwar angenehm lesbar macht, sich aber nicht immer mit den theoretischen Abschnitten des Buches verträgt.

Unabhängig von solchen Detailfragen ist »Die Mikro-Finanzindustrie« eine lohnende Lektüre, die Entwicklungen im Zusammenhang aufzeigt und weitergehende Diskussionen ermöglicht. So kann mit dem Autor durchaus argumentiert werden, dass das Mikrokreditwesen eigentlich Teil einer strukturell gewaltförmigen inneren Landnahme des Kapitals in bisher dem Kapitalverhältnis nicht vollständig unterworfenen Regionen und Sektoren ist, bei der viele Millionen Menschen von der kapitalistischen Geld- und Warenzirkulation absorbiert und dabei weitgehend ihrer Ressourcen beraubt werden, ein Prozess, der mit Formen der Kommodifizierung einhergeht und von Marx mit dem Begriff der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« charakterisiert wurde. Brachial destruktive Modernisierungsprozesse dieser Art spielen sich heute in Ländern wie Indien in zugespitzter Weise ab und bilden den Hintergrund für das Wachstum der Mikrokreditblase.

Gerhard Klas: Die Mikrofinanz-Industrie. Die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut. Assoziation A, Berlin 2011, 320 Seiten, 19,80 Euro