Über den Kapitalismus-Begriff der Bewegung

Occupy the Movement!

Es ist nicht antisemitisch, vom Finanzkapital zu reden, und es ist derzeit sogar notwendig. Keinsfalls darf man es den Rechten überlassen, auf die Krise zu reagieren.

Alle reden vom Finanzkapital, aber kaum jemand scheint eine Ahnung zu haben, was damit gemeint ist. In den Augen von manchen, unter anderem auch manchen Aktivisten der diffusen sozialen Bewegungen der vergangenen Wochen – »Occupy«, »Empörte«, Platzbesetzer –, steht das Wort für das ultimativ Böse. Der Grund dafür ist oft, dass sie keinen Begriff vom Kapitalismus haben. Aber woher sollte das kritische Bewusstsein auch kommen, wenn über Marxismus lange Zeit geschwiegen wurde und soziale Kämpfe weitgehend ausblieben, wie gerade in Deutschland und den USA?
Andere wiederum meinen, den Begriff »Finanzkapital« überhaupt nur in den Mund zu nehmen, zeuge schon von antisemitischen Projektionen und impliziere eine Unterscheidung zwischen »schaffendem« und »raffendem Kapital«, ein begriffliches Gegensatzpaar, das der NSDAP-Ideologe Gottfried Feder einst schuf. Beide Ansätze sind verkehrt. Selbstverständlich ist es Unfug, einen Sektor des weltweit dominierenden ökonomischen Systems herauszugreifen und zum Grundübel der Welt zu erklären, ohne auch nur ansatzweise eine fundierte Kritik am Kapitalverhältnis als solchem zu üben. Ebenso ist es aber auch Unsinn, immer wenn der Begriff »Finanzkapital« irgendwo auftaucht, sofort »Antisemitismus« zu rufen und den braunen Mob am Werk zu sehen. Dieser Standard-Vorwurf ist absolut voraussehbar. Beim Artikel von Manfred Dahlmann (Jungle World 45/2011) etwa verwundert es eigentlich nur, dass diese Pointe so spät kommt.

Auch Karl Marx, dem man nur mit viel Phantasie mangelnde Einsicht in die Logik des Kapitalverhältnisses und eine antisemitische Ideologie wird unterstellen können, benutzte den Begriff vom Finanzkapital und beschrieb dessen spezifische Funktionsmechanismen ausführlich: Jede wirtschaftliche Aktivität benötigt bisweilen einen Vorschuss an Finanzen, da sie ihre »geldwerten« Erträge erst im Nachhinein einbringt. Auch in einer komplexen nichtkapitalistischen Ökonomie wird in Zukunft eine solche Kredit-, also Vorschussfunktion wohl in irgendeiner Weise nötig sein. Jene Kapitalfraktionen, die darüber entscheiden, wer die nötigen Vorschüsse erhält – sei es nach betriebswirtschaftlichen, sei es nach politischen und strategischen Kriterien – verfügen heute über ein Instrument der Macht.
Zu den Besonderheiten der Entwicklung des globalen Kapitalismus der letzten Periode und seinen seit 2007 evidenten Krisenerscheinungen gehört die explosionsartige Ausweitung und die nachfolgende krisenhafte Kontraktion des Kreditsektors. Dessen Bedeutungsgewinn war zunächst eine direkte Konsequenz der immer schlechteren Lohn­entwicklung in den reichsten Staaten, die den Konsum verringert hat. Üblicherweise herrscht in einer kapitalistischen Ökonomie ein Widerspruch zwischen der Funktion des Lohns als »Kosten­variable« für das Kapitel einerseits und als Voraussetzung für den Konsum – und damit Quelle späterer Einkünfte der Kapitalinhaber – auf der anderen Seite. Die Spannung zwischen beiden, zwischen der Tendenz zur Absenkung der Lohnkosten und der Notwendigkeit ihres Anwachsens zum Unterhalt des Systems, war eine stete Quelle von Krisenphänomenen.
Doch die Umbrüche von 1989 und der Zusammenbruch staatssozialistischer Ökonomien im früheren sowjetischen Block sowie die »Öffnung« der ehemals staatssozialistischen Ordnung in China führten zur Entstehung eines in dieser Form bis dahin nie dagewesenen Weltmarkts. Auf diesem weitgehend vereinheitlichten und »offenen« Weltmarkt glaubten viele Unternehmen, dem oben geschilderten Widerspruch entgehen zu können. Indem lohnabhängige Produzenten und Konsumenten nicht mehr in denselben Ländern gesucht wurden, glaubte man, den Grundwiderspruch aufgelöst zu haben. Es schien egal zu sein, wenn die Löhne und Einkommen in einem Land unter das für Konsum notwendige Mindestmaß sinken, denn Konsumenten findet man auch anderswo. Allerdings konnte diese Flucht nach vorne auf Dauer die Krise nicht verhindern, sondern reproduzierte sie im Weltmaßstab – und potenzierte dadurch ihre Wirkung. Auftretende Widersprüche wurden vorläufig durch die Ausweitung des Kreditsektors überbrückt, so lange, bis es nicht mehr ging. Die dann erforderliche, irrsinnig teure »Rettung« des Sektors sollte einen Zusammenbruch des Systems verhindern.

Vor diesem Hintergrund begann die zweite Phase der aktuellen Krise, die Krise der Staatsfinanzen. Nachdem die Staaten ihre Verschuldung rasant gesteigert haben, um die Banken zu »retten«, werden sie nun selbst von den Organen des Finanzkapitals bedrängt. Dessen Vertreter erklären den Staaten nun, dass sie ihnen nur bedingt zutrauten, auch zurückzuzahlen. Die großen Rating-Agenturen wie Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratchings – die selbst Ausschüsse der Finanzbranche sind – erlauben sich nunmehr, die bürgerlichen Staaten selbst unter Aufsicht zu nehmen. Die Drohung, ihre Note als Abbild ihrer »Kreditwürdigkeit« zu verschlechtern und dadurch ihre Kredite schlagartig zu verteuern, wirkt wie ein Peitschenhieb auf die bürgerlichen Politiker.
In der innenpolitischen Debatte vieler Staaten ersetzen solche Drohungen nunmehr das politische Argument. Der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat François Hollande will in Frankreich jene Teile des staatlichen Schulwesens, die durch die heutige Regierung zerstört wurden, durch Wiedereinrichtung verschwundener Lehrerposten wiederherstellen. Die Regierung antwortet darauf mit einer Angstkampagne: Mit den Sozialisten werde Frankreich seine Bestnote (AAA) sofort verlieren. Zugleich erklärt Moody’s, Frankreichs »triple A«-Note für drei Monate »unter Beobachtung zu stellen«.
Finanzkapital und allgemeines Kapitalverhältnis hängen selbstverständlich miteinander zusammen. Dennoch ist es denkbar, Schritte einzuleiten, die sinnvoll wären, ohne sofort das grundsätzlich richtige Maximalziel einer revolutionären Abschaffung des Kapitalismus zu verwirklichen. Etwa die Schaffung eines unter öffentlicher Kontrolle stehenden Kreditsektors mit alleiniger Verfügungsgewalt über die Kreditvergabe, gegebenenfalls nach einem kontrollierten Bankrott der bestehenden Banken. Denn bis dahin droht fast jegliche soziale Forderung mit dem Verweis auf Rating-Agenturen und Staatsschulden abgeblockt zu werden. Wollte man zynisch sein, könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dies sei wunderbar, weil es reformistische Illusionen zerstöre und die Revolution beschleunige – nur hat dies noch nie funktioniert. Historisch mussten Linke, die sich von einer drastischen Verschlechterung der sozialen Verhältnisse politisch bessere Perspektiven erhofften, konstatieren, dass die SA-Aufmärsche dann doch schneller organisiert waren als die soziale Revolution.

Derzeit erheben viele der Bewegungen, die das Unbehagen wachsender Bevölkerungsteile artikulieren, weder »revolutionäre« noch »reformistische« Forderungen. Dies ist kritikwürdig, da die Äußerung von Unbehagen selbstverständlich noch keinerlei Perspektiven eröffnet. Es ist aber nachvollziehbar, dass es sich bei dieser Weigerung, Forderungen zu konkretisieren, um eine historische Erbschaft früherer Epochen von Kämpfen handelt. Die russischen Kommunisten 1917, aber auch Leninisten unterschiedlicher – unter anderem maoistischer – Couleur um und nach 1968 setzten auf eine vermeintlich einfache Übernahme der Staatsmacht, um diese als Instrument des historischen Fortschritts einzusetzen. Doch dem steht heute eine Negativbilanz der staatssozialistischen Regime entgegen. Andere Bewegungen setzten auf den »Marsch durch die Institutionen«, auf Reformen innerhalb des bestehenden Systems und eine schrittweise Veränderung des Kapitalismus von innen heraus. Auch solche Ansätze sind schmählich gescheitert und die Regierungsbilanz der französischen Sozialisten unter François Mitterrand zuzüglich der KP ab 1981 ist aus linker Sicht ebenso negativ wie die von Rot-Grün in Deutschland.
Nicht erst seit heute setzen deswegen spontan entstehende Bewegungen auf das Diffuse, Gefühlige, um sich weder auf den einen noch den anderen Weg begeben zu müssen. Ein Teil der in den siebziger Jahren entstandenen sozialen Bewegungen driftete, angesichts des Wettrüsten und der Umweltkatastrophen, in den frühen achtziger Jahren in Endzeitstimmung und in eine wenig revolutionäre Haltung ab, nach dem Motto »Hauptsache überleben«. Wolfgang Pohrt nannte dies damals in Konkret »die Untergangsvision als Stahlbad«, welche die Anpassung der früheren Systemkritiker an das Bestehende – wenn sie einmal ihr biologisches Überleben konstatiert hätten – vorbereite. In den nuller Jahren schuf der Autor John Holloway für die globalisierungskritische oder »altermondialistische«, für »eine andere Welt« eintretende Bewegung das Konzept: »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«. Dieses bewusste Ausweichen vor der Machtfrage ist, an längerfristigen historischen Perspektiven gemessen, ein Fehler: Wollen wir nun die Machtverhältnisse im bestehenden System brechen oder nicht? Dennoch taucht dieser Ansatz immer wieder auf, nämlich als Resultat aus dem Scheitern des Stalinismus und der Sozialdemokratie gleichermaßen.
Emanzipatorische Linke können und müssen daher in bestehenden Bewegungen Spielräume austesten, und – wie Peter Jonas (44/2011) richtig fordert – sich unabhängig davon organisieren. Sie müssen nach Kräften versuchen, irrationale und rein gefühlsbetonte Ansätze zurückzudrängen. Rechte oder braune Verschwörungstheoretiker, die die neuen Bewegungsansätze ebenfalls als Spielfeld entdeckt haben, müssen wiederum kompromisslos bekämpft werden. Das schlechteste Rezept wäre dagegen, ihnen das Feld zu überlassen und ihnen faktisch zuzustimmen, wenn sie versuchen, sich als alleinige Alternative zum Bestehenden zu profilieren.