Wirtschaftskriminalität in Deutschland

Privilegierte Halunken

Deutsche Unternehmen gehen stärker als früher gegen Wirtschaftskriminalität in den eigenen Reihen vor. Tatsächlich ist die Zahl der entdeckten Fälle in den vergangenen Jahren zurückgegangen, doch gleichzeitig ist die Schadenssumme angestiegen. Ohnehin lassen sich legale und illegale Geschäftspraktiken immer schwerer unterscheiden.

In der Mehrheit der deutschen Großunternehmen – bei 52 Prozent – gab es im Jahr 2011 nachweislich Fälle von Wirtschaftskriminalität. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die die Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers (PwC) in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erstellt hat. Die Dunkelziffer dürfte zudem hoch sein, wie Kai Bussmann, Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität, bei der Vorstellung der Studie sagte. Wenn man über die entdeckten Straftaten hinaus jene Delikte einbeziehe, die von Unternehmen lediglich vermutet würden, ergebe sich für den Zeitraum von 2009 bis 2011 ein Anteil von 73 Prozent. Die Unternehmensberatung PwC selbst schätzt dagegen etwas zurückhaltender, dass insgesamt 62 Prozent der Unternehmen in Deutschland von Wirtschaftskriminalität betroffen seien.
Die Zahl der entdeckten Fälle stellt zwar, wie in der Studie betont wird, einen Rückgang gegenüber den für 2007 erhobenen Zahlen dar, als 61 Prozent der Firmen über Fälle von Wirtschaftskriminalität berichteten. Umfangreiche Programme zur Korruptionsvermeidung und zur Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien (»Compliance« genannt) seien seit der letzten Studie vor allem von großen Unternehmen initiiert worden. Die vermeintlich positive Entwicklung wird in der Studie ausschließlich auf diese Anstrengungen zurückgeführt. Externe Faktoren werden dabei nicht berücksichtigt. So wird der Frage, ob die ökonomische Krise der Jahre 2008/09 nicht womöglich auch Bedingungen geschaffen hat, die sich auf die Fallzahlen solch illegaler Praktiken auswirken, gar nicht nachgegangen.
Doch während die Zahl der Einzelfälle seit 2007 gesunken ist, ist die Schadenssumme im gleichen Zeitraum auf 8,4 Millionen Euro pro Delikt angestiegen. In der vorangegangenen Studie wurde der mittlere Verlust der Unternehmen pro Delikt mit 5,6 Millionen Euro beziffert. Immerhin drei Prozent der befragten Unternehmen berichten von Schäden in Höhe von mehr als 100 Millionen Euro.
Mit einem Anteil von 32 Prozent an allen Wirtschaftsstraftaten im Jahr 2011 sind Vermögensdelikte besonders verbreitet. Relativ oft kommen auch Verstöße gegen Patent- und Markenrechte (17 Prozent), Korruption und Bestechung (12 Prozent) sowie Diebstahl vertraulicher Kunden- und Unternehmensdaten (12 Prozent) vor. Rund 25 Prozent der Unternehmen seien davon überzeugt, wegen illegaler Einflussnahme von Wettbewerbern mindestens einmal bei einer Ausschreibung in Deutschland nicht zum Zuge gekommen zu sein, heißt es weiter. Der Anteil der Befragten, die sich bei Vergabeverhandlungen mit der Forderung nach Bestechungsgeld oder ähnlichen Gegenleistungen konfrontiert sahen, sei seit 2007 von 15 Prozent auf 17 Prozent gestiegen.
Jede zweite Wirtschaftsstraftat wird der Studie zufolge von einem Mitarbeiter des geschädigten Unternehmens begangen. Dabei stamme ein großer Teil der Täter aus dem führenden Management. Die andere Hälfte der Delikte geht demnach auf das Konto externer Täter. Dabei handelt es sich in der Regel um Mitarbeiter anderer Unternehmen. Aufschlussreich sind die von PwC aufgelisteten Tatgründe jener externen Täter. Hoher Wettbewerbsdruck spielte für 48 Prozent von ihnen eine Rolle, von immerhin 43 Prozent wird die kriminelle Handlung als Teil der Unternehmenspraxis ihrer Firma gewertet. 64 Prozent gaben an, ihre Tat sei von ihrem jeweiligen Vorgesetzen gebilligt worden.

Die Studie hinterlässt zahlreiche Fragen. So beschreibt sie Unternehmen im Wesentlichen als Opfer krimineller Handlungen. Eher überraschend wirkt hingegen die Aussage, dass 41 Prozent der Befragten 2011 einen gravierenden oder mittelschweren Ansehensverlust als Folge wirtschaftskrimineller Handlungen genannt hätten, im Jahr 2007 jedoch nur 27 Prozent. Zu Beginn der Studienreihe im Jahr 2001 hätten sogar nur zehn Prozent der befragten Unternehmen über solche Reputationsschäden geklagt. Als reputationsschädigend gelten aber offenbar hauptsächlich die Täter, nicht die Strukturen, welche die Taten ermöglichten. Deutlich wird dies daran, welche Unternehmen die befragten Personen als besonders vorbildlich im Hinblick auf Korruptionsbekämpfung und Compliance-Programme ansehen. Die Antworten auf diese Frage ergeben eine erstaunliche Rangliste. Sie wird angeführt von Siemens, gefolgt von Daimler, Volkswagen, der Deutschen Bank und BMW. Es handelt sich hierbei also ausnahmslos um Konzerne, bei denen in den vergangenen Jahren in einem erheblichen Ausmaß Fälle von Korruption und andere wirtschaftskriminelle Handlungen öffentlich geworden sind, darunter die Bestechung von Betriebsräten und der Aufbau gelber Scheingewerkschaften.

Beispielhaft sei auf den Daimler-Konzern verwiesen, dessen langjähriger US-Geschäftsführer Ernst Lieb vor drei Wochen ohne Angabe von Gründen entlassen wurde, was nahelegt, dass es sich um eine Konsequenz nicht mehr zu vertuschender illegaler Geschäfte handeln könnte. Wegen solcher Geschäfte wurde gegen Daimler vor nicht langer Zeit schon einmal in den USA juristisch vorgegangen, in einem Land, in dem sich die Gerichtsbarkeit vorbehält, auch Verbrechen anzuklagen, die außerhalb des Geltungsbereichs der US-Gesetze verübt werden. So hatte das US-Justizministerium den Autokonzern beschuldigt, zwischen 1998 und 2008 in mindestens 22 Ländern Amtsträger bestochen zu haben, um an Aufträge zu kommen. Erst Anfang vergangenen Jahres stimmte das Unternehmen einem Vergleich zu und zahlte 185 Millionen Dollar. Wiederholungen solcher Verfahren will der Konzern wohl nun verhindern, von der Wirksamkeit unternehmensinterner Antikorruptionsprogramme zeugt das aber nicht unbedingt.
Auch Siemens hat es Mitte Oktober für nötig befunden, in seinem Management aufzuräumen, bevor es andere tun. Der Konzern entließ den Chef seiner Landesgesellschaft in Brasilien mit sofortiger Wirkung. Dem Vernehmen nach ging es um Schwarzkonten, über die Millionenbeträge transferiert wurden. Zuletzt setzte Siemens in Brasilien 1,8 Milliarden Euro um. Der Drittplatzierte der Beliebtheitsskala der von PwC befragten Unternehmen, VW, ist gerade wieder im Zusammenhang mit einem Korruptionsskandal im Sport-Sponsoring in die Schlagzeilen geraten.
All dies weist darauf hin, dass die kapitalistische Ökonomie als solche eine Tendenz zur Kriminalität in sich trägt, die umso offenbarer wird, je schärfer sich der Konkurrenzkampf um Marktanteile und Profite gestaltet und je mehr Einzelkapitale in der Krise vernichtet werden. Die deutschen Konzerne haben es bisher verstanden, die Krise nicht nur relativ gut zu überstehen, sondern die Schwäche ihrer Konkurrenten auf den Weltmärkten zu nutzen, gestützt von einer Regierung, die sich so offen wie keine zuvor ihren Interessen verschrieben hat. Die gigantischen Geschäftsoperationen, mit denen internationale Nahrungsmittelkonzerne und Finanzinvestoren Millionen Menschen vor allem in Asien und Afrika von ihrem Land verdrängen und Anbauflächen für die Weltmarktproduktion von Ethanol oder Getreide okkupieren, mögen durch Korruption erleichtert werden, sind jedoch für sich genommen meist legal, was nicht bedeutet, dass sie sich nicht als kriminell werten lassen. Vielmehr lassen sich legale und illegale Geschäftsoperationen auf dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes sachlich kaum mehr sinnvoll voneinander trennen.