Über die Nazi-Terroristen

Schlapphüte im Herbst

Eine neonazistische Terrorzelle soll über Jahre eine Reihe von Morden an Migranten verübt haben. Das Ausmaß ihrer Taten ist momentan noch genauso unklar wie die Rolle des Verfassungsschutzes.

»Wir müssen jetzt trocknen, katalogisieren und auswerten. Und das kann dauern«, erklärte der südwestsächsische Polizeipräsident Jürgen Georgie auf einer Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche in Zwickau. »Rechtsextremistisches Propagandamaterial« sei noch nicht gefunden worden, »aber das kann sich sekündlich ändern«. Danach überschlugen sich die Ereignisse, so dass die Ticker der Agenturen nicht mehr stillstanden. Mehr als eine Woche nach der Pressekonferenz, die von zwei Fernsehsendern live übertragen wurde, gibt es immer noch mehr Fragen als Antworten zum Fall des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU), einer rechtsextremen Terrorzelle. Doch allein die wenigen gesicherten Erkenntnisse sind bereits haarsträubend. Die Geschichte, die sich zu einem Geheimdienstskandal zu entwickeln scheint, wurde nach einem Bankraub und dem Doppelselbstmord der Täter bekannt. Doch sie beginnt bereits im Thüringen der neunziger Jahre.
1994 war die Neonaziszene in Thüringen in etliche Kameradschaften zersplittert, die bestenfalls bei einzelnen Aktionen kooperierten. Der Landesverband der NPD war mit knapp 50 Mitgliedern faktisch nicht existent. In diesem Jahr wechselte der Ministerialrat Helmut Roewer aus dem Bundesinnenministerium nach Erfurt und übernahm dort die Leitung des Landesamts für Verfassungsschutz. Zur gleichen Zeit machte auch ein gewisser Tino Brandt als Organisator von Nazikonzerten in Ostthüringen von sich reden. Heute weiß man, dass Brandt seit jenem Jahr als V-Mann des Verfassungsschutzes gearbeitet hatte. Bekannt ist auch, dass unmittelbar nach dem Amtsantritt von Roewer die Zersplitterung der Neonaziszene mit der Gründung des Thüringer Heimatschutzes (THS) beendet wurde. Der harte Kern dieser Organisation zählte bald rund 150 Personen, darunter eine starke Gruppe in Jena. Die Führungskader des THS machten fast ausnahmslos Karriere in der NPD. So brachte es Brandt gar zum stellvertretenden Landesvorsitzenden.
Spätestens 2003 wurde klar, dass der Plan mit den V-Männern einige Schwierigkeiten in sich barg. Damals war das Verbotsverfahren gegen die NPD wegen solcher V-Leute wie Brandt gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht hatte der Partei »mangelnde Staatsferne« attestiert. Es war nicht mehr zu unterscheiden, welche Handlungen oder Positionen auf die Partei selbst und welche auf Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zurückzuführen waren. Zu diesem Zeitpunkt war Roewer schon nicht mehr Präsident des Landesamts. Er war infolge von Enthüllungen über finanzielle Zuwendungen an Neonazis für deren vermeintliche Informantentätigkeit suspendiert worden. Später wurde er zudem verdächtigt, in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Das anschließende Verfahren überstand er unbeschadet – wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit.

Anfang des vergangenen Jahrzehnts hatte der THS seine zentrale Rolle in Thüringens Neonazibewegung bereits an die NPD abgetreten. Schon 1998 waren drei Führungskader der dem THS angehörenden Kameradschaft Jena ins Visier der Polizei geraten, weil sie eine Bombenwerkstatt unterhielten. Noch bevor ein Haftbefehl vorlag, konnten die drei Neonazis abtauchen. Es handelte sich um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Sie blieben spurlos verschwunden, fast 14 Jahre lang. Erst im November 2011 sollten sie wieder auftauchen: Die beiden Männer, so die offizielle Version, zündeten nach einem Bankraub in Eisenach erst ihr Wohnmobil an und erschossen sich dann selbst. Die Frau wiederum steckte im sächsischen Zwickau die Wohnung in Brand, in der das Trio bis dahin gelebt hatte.
Kurz danach tauchte ein Video auf, versandt an mehrere Parteibüros der nicht mehr existenten PDS, teilweise mit veralteten Adressen. Insider schließen daraus, dass die Filme seit 2007 fertig produziert und eingetütet waren. Die Schlusssequenz zeigt nämlich ein Bild der in jenem Jahr in Heilbronn ermordeten Polizistin, verbunden mit der Ankündigung neuer Taten. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Tätergruppe damit wenigstens nach ihrem Auffliegen die Öffentlichkeit noch über ihre Taten unterrichten wollte. Die Liste dieser Taten, zu der nach weiteren Verdachtsmomenten noch einige hinzukommen könnten, ist beachtlich: zwölf Banküberfälle, zehn Morde in der ganzen Bundesrepublik und ein Nagelbombenanschlag in der Kölner Keup­straße mit über 20 Verletzten. Zu den Morden hatte es zwar nie Bekennerschreiben gegeben, allerdings offenbart der Film eindeutiges Täterwissen. Dem Düsseldorfer Rechtsextremismusexperten Fabian Virchow zufolge sei es durchaus typisch für die Neonaziszene, sich weder zu den Taten zu bekennen noch diese zu begründen.

Spätestens seit der Verhaftung einer weiteren Person am Sonntag im niedersächsischen Lauenau steht fest, dass die Terrorzelle mindestens ein »Höllenquartett« gewesen ist. Der festgenommene Holger G. gehörte ebenfalls dem THS in Jena an. Bei ihm handelt es sich um eine von zwölf Personen, die im Zusammenhang mit den Jenaer Bombenvorfällen von 1998 vernommen worden waren. Er soll bis in die jüngste Zeit Wohnmobile für die Gruppe angemietet und ihnen seinen Pass zur Verfügung gestellt haben. Verdächtig ist auch der Vermieter der Zwickauer Wohnung, der ebenfalls der Kameradschaftsszene angehört haben soll. Es ist unklar, ob damit bereits die gesamte Zelle aufgeflogen ist. Immerhin ist inzwischen auch in Hessen ein hauptberuflicher Verfassungsschützer vom Dienst suspendiert worden. Er war bereits 2006, nach dem letzten der sogenannten »Dönermorde«, ins Zwielicht geraten: Zum Zeitpunkt der Tat war er am Tatort, hatte sich jedoch nicht als Zeuge zur Verfügung gestellt. In seiner Wohnung fand die Polizei damals ein Buch über Serienmorde.
Wieder einmal der Verfassungsschutz also. Die Verdachtsmomente gegen ihn häufen sich. Schon immer war es unerklärlich, wie die drei mittellosen jungen Leute damals spurlos abtauchen und über Jahre verschwinden konnten. Öffentlich wurde gar der Verdacht geäußert, Beate Zschäpe könne eine V-Frau gewesen sein. Andere hielten die in Jena gefundenen Bomben für eine Auftragsarbeit des Verfassungsschutzes. Mit ihnen habe, da die Zünder fehlten, ohnehin kein Schaden angerichtet werden können. Und der thüringischen Verfassungsschutz brauchte dringend Erfolgsmeldungen. Der Nachfolger von Roewer, Thomas Sippel, mag heute nicht einmal ausschließen, dass sein Vorgänger möglicherweise die drei »auf eigene Rechnung« als V-Leute geführt habe.

Wie im Freistaat Thüringen, so auch im Freistaat Sachsen. Dort hat man nicht nur über Jahre nicht registriert, dass die polizeilich Gesuchten in Zwickau saßen, sondern man hat auch nicht mitbekommen, dass das ehemalige Umfeld der drei unter anderem Namen fortexistiert und auch in Sachsen sehr aktiv ist. Wer die Internetadresse des THS eingibt, landet automatisch auf der Seite des »Freien Netzes Thüringen«. Chef der heutigen Jenaer Sektion ist der gleiche Ralf Wohlleben, der Ende der neunziger Jahre den THS in Jena angeführt hatte. Auch in Zwickau besteht eine Gruppe des Freien Netzes. Auf diese Weise hat sich gewissermaßen der THS von Thüringen nach Sachsen ausgeweitet. Für den Verfassungsschutz ist das Freie Netz, auf das zahlreiche Gewaltakte zurückgehen, lediglich ein »Internetportal«. Ein Internetportal, das Punks den Schädel einschlägt. Ein Internetportal, das in der Fraktionsgeschäftsstelle der NPD im Landtag arbeitet. Das gibt es nur in Sachsen. Es steht zu erwarten, dass die Geschichte eine unendliche werden dürfte.

Geändert: 17. November 2011