Die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes

Jetzt auf einmal

Die Enthüllungen über den »Nationalsozialistischen Untergrund« kommen ungelegen für die Bundesregierung. Überraschend ist die Rolle insbesondere des Verfassungsschutzes angesichts der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht.

Einmal mehr war es Guido Westerwelle, der die Sache auf den Punkt brachte: »Das ist nicht nur furchtbar für die Opfer, nicht nur schlimm für unser Land. Das ist vor allem sehr, sehr schlimm für das Ansehen Deutschlands in der Welt.« Dass Empathie nicht zu den Stärken des Außenministers gehört, war bekannt. Doch hätte er sich nicht wenigstens das »vor allem« sparen können? Er konnte offenbar nicht. »Das ist eine Schande, das ist beschämend für Deutschland«, befand auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.
»Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen«, prahlte Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die großspurige und chauvinistische Zurechtweisung von Staaten, die im Zweiten Weltkrieg von Deutschland überfallen worden sind, gilt nicht mehr als degoutant. Auch das schamlose Geschwätz von der »christlich-jüdischen Leitkultur« beweist, dass der »Schlussstrich« gezogen wurde.
Erst im Jahr 2030, wenn die letzten Täter und Überlebenden tot seien, werde die Shoah Geschichte sein, über die man unbefangen reden könne, meinte Ignatz Bubis, der 1999 verstor­bene Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, ein Jahr vor seinem Tod. Doch in Deutschland waren die Täter immer wichtiger als die Opfer des NS-Regimes. Im Mai endete der Prozess gegen John Demjanjuk. Weitere Verfahren gegen bekannte Kriegsverbrecher wird es in Deutschland wahrscheinlich nicht geben. Die Täter sind tot, vergreist oder zumindest aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden.
Umso ungelegener kommt jeder Hinweis darauf, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, insbesondere in einer Zeit, da Deutschland so viel Macht in Europa ausübt wie seit 1942 nicht mehr. Ähnlich wie Anfang der neunziger Jahre, als rassistische Pogrome weltweit Empörung erregten und viele ausländische Beobachter sich fragten, ob es wirklich eine gute Idee war, den Deutschen die Wiedervereinigung zu gestatten, soll nun das Ansehen Deutschlands wiederhergestellt werden. Das aber könnte sich als schwierig erweisen, da klar geworden ist, dass staatliche Institutionen eine zumindest dubiose Rolle bei den »Döner-Morden« und ihrer Nichtaufklärung spielten, möglicherweise aber auch Beamte mit den Neonazis verbündet waren.

Von »Pannen« lässt sich hier schwerlich sprechen. Als mildernder Umstand kann allein gelten, dass die Morde nicht dem bekannten Muster neonazistischer Gewalt entsprachen. Dass eine Mordserie, deren Opfer als türkisch angesehene Kleingewerbetreibende ohne jede Verbindung zueinander waren und bei der die gleiche Waffe benutzt wurde, nichts mit »organisierter Kriminalität« oder »Konflikten im Milieu« zu tun haben konnte, war jedoch auch für Laien erkennbar. Auch die von der Polizei sechs Jahre nach dem ersten Mord konsultierten Experten wiesen darauf hin, dass die Täter Rechtsextremisten sein könnten . Dass Rassismus das wahrscheinlichste Motiv war, konnte nur übersehen, wer es übersehen wollte.
Deutlich wird dies im Vergleich mit den Reaktionen auf die Ermordung der Polizistin Michele Kiesewetter im Jahr 2007. Wer über Verbindungen zu organisierten Kriminellen – die sich von Bandenmitgliedern dadurch unterscheiden, dass sie staatliche Behörden infiltrieren – gemutmaßt oder vermutet hätte, Streit unter Kollegen über die Verteilung von Schutzgeld könne das Motiv gewesen sein, wäre mit einer gewaltigen Welle der Empörung konfrontiert gewesen. Die offensichtlich realitätsfernen Angaben der Ermittler über die allgemein so genannten »Döner-Morde« hingegen wurden brav und kritiklos von fast allen Medien kolportiert.
Vom Sponsoring des Verfassungsschutzes hat der »Nationalsozialistische Untergrund« offenbar nicht dauerhaft profitiert, andernfalls wäre die Gruppe nicht zur Beschaffungskriminalität gezwungen gewesen. Dass im Jahr 2006 ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes – nicht ein V-Mann aus der Szene, sondern ein deutscher Beamter – in Kassel zur Tatzeit bzw. bis kurz vor der Ermordung Halit Yozgats am Tatort in einem Internetcafé saß, erscheint jedoch als ein allzu seltsamer Zufall, zumal der Geheimdienstler den Spitznamen »kleiner Adolf« verliehen bekommen hatte und im Besitz von NS-Schriften war.

Auch bei vielen staatskritischen Linksliberalen gibt es eine Hemmschwelle bezüglich dessen, was sie für möglich halten wollen. Das wurde nach dem Tod Ouri Jallohs (Jungle World 1/2011) deutlich, als die These, es könne sich um Mord gehandelt haben, zurückgewiesen wurde, obwohl die Fakten diese Version möglich erscheinen lassen. Nun wird die These, es können eine Kooperation zwischen Verfassungsschützern und Neonazis gegeben haben, meist ohne Überprüfung für absurd erklärt.
Doch gibt es eine Bestätigung von einer des Linksradikalismus wohl unverdächtigen Instanz. »Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar«, befand das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003. Wegen »fehlender Staatsferne« könne die NPD nicht verboten werden. Eine schärfere Kritik am staatlichen Umgang mit Rechtsextremisten ist kaum denkbar, dennoch wird das Urteil bis heute als bedauerliche Panne oder als ein Fehler allzu pingeliger Richter betrachtet, die sich wegen ein paar V-Männern unnötig aufregten.
Bürokratischer Stumpfsinn ist keine ausreichende Erklärung für das eiserne Festhalten an einem System, dessen Nutzen für die Neonazis offensichtlich ist. So wurden zahlreiche Fälle von V-Männern bekannt, die ihr Honorar für neonazistische Aktivitäten verwendeten. Deshalb halten die Neonazis es nicht für nötig, etwas gegen die ­V-Männer zu unternehmen. Man betrachtet deren Präsenz offenbar nicht als Überfremdung. Zeit genug, um sich aufzuregen, hätten die Neonazis gehabt. Wolfgang Frenz etwa stand von 1959 bis 1995 auf der Gehaltsliste des Verfassungschutzes, 1964 gehörte er zu den Mitgründern der NPD, deren Führung er lange Zeit angehörte. Möglicherweise kandidierten beim NPD-Parteitag Mitte November zwei Landesämter für Verfassungsschutz gegeneinander.

Wie alle anderen staatlichen Institutionen der BRD wurden auch der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden maßgeblich von ehemaligen Nazis aufgebaut. »Ehemalig« ist hier in Bezug auf ihre Funktion im NS-Regime zu verstehen, ihre Ansichten hatten viele kaum geändert. Da der Antikommunismus weiterhin Staatsdoktrin war, konnten sie gegen den gleichen Feind kämpfen, auch wenn man die Bolschewisten nun nicht mehr jüdisch nannte. Fälle, in denen neonazistische Gewalt verharmlost wurde, die Täter als unpolitische Sonderlinge oder »Waffennarren« klassifiziert und ihre Verbindungen zu rechts­extremen Organisationen bewusst ignoriert wurden, ziehen sich wie ein brauner Faden durch die Geschichte der Bundesrepublik.
In der Ära des Kalten Krieges galt neben der Zusammenarbeit mit Militärdiktaturen und faschistischen Regimes auch die Unterstützung rechtsextremer Terrorgruppen als legitim, offiziell allerdings nicht im eigenen Land. Diese Politik schuf ein für die Altnazis im Staatsdienst angenehmes Klima, in dieser Zeit gelang es ihnen vermutlich, Verbündete in der jüngeren Generation zu gewinnen. Ob es sich um einzelne Sympathisanten oder organisierte Gruppen handelt, ist unklar. Der Korpsgeist schützt sie, doch sie pro­fitieren auch von den Ressentiments und der Ignoranz, die Regierung und Bevölkerungsmehrheit teilen. Neonazistische Gewalt ist nur dann von Interesse, wenn sie dem Standort Deutschland schadet.