Die australischen Leierschwänze und sexuelle Selektion

Von wegen alte Leier

Die australischen Leierschwänze sind ein ansehnliches und klingendes Beispiel für Charles Darwins Theorie der sexuellen Selektion und dafür, dass sich Natur und Kultur nicht immer scharf trennen lassen.

Auf die Frage, woher die teilweise übergroßen Merkmale mancher männlicher Tiere, wie die überlangen Schwanzfedern von Fasanen- und Pfauenhähnen, kommen, gab Charles Darwin eine klare Antwort: Es gibt diese Merkmale, weil sie gewählt worden sind, und gewählt haben sie die Weibchen. Es stand für Darwin außer Frage, dass es die Weibchen sind, die in Populationen, in denen es mindestens zwei Geschlechter gibt, die Partnerwahl treffen, auf die dann die geschlechtliche Fortpflanzung folgt. Weil ein Weibchen von einer zufällig bei einem Hahn auftretenden langen Feder so beeindruckt war, dass sie ihn gleich zum Partner nahm und Nachkommen mit ihm zeugte, konnte sich die eine Feder über Generationen zum prächtigen Pfauenschwanz mit den vielen Federaugen darauf auswachsen.

Am Anfang dieser Entwicklung standen also eine zufällige Begegnung und ein wählender Blick. Darwin bezeichnete diesen Akt als sexuelle Selektion. Dass er diesen Mechanismus der Partnerwahl als eine Überlagerung von Kultur und Natur verstand, wird schon aus dem Titel seines zweiten Hauptwerks deutlich, der 1871 erschienenen Abhandlung »Die Abstammung des Menschen«, in der er die Theorie der sexuellen Selektion entwickelte. Der Mechanismus der sexuellen Selek­tion, in Gang gebracht durch den wählenden Blick eines Weibchens, kann in allen in Geschlechter geteilten Populationen auftreten, bei den Menschen und den Tieren. Von Bedeutung ist, dass Darwin unter dem Mechanismus der Wahl »nur« eine Möglichkeit verstand, die aktualisiert werden kann und ihre Wirkungen zeitigt, wenn aus der Verbindung Nachkommen hervorgehen und sich eine Tradition der Wahlwiederholung in der Population etabliert. Darwin wollte damit aber ausdrücklich kein Naturgesetz formulieren. Die Wahl kann so ausfallen, dass überauffällige Merkmale betont werden, sie muss es aber nicht. Es ging ihm um die verändernde Kraft, die in der Materialität des Blickes liegt.
Diese Erkenntnis war allerdings schon zu Darwins Zeiten nicht neu. Vor und nach Darwin haben Theoretiker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Frantz Fanon die körperbildende – genauer: körperbeugende – Kraft vor allem des »verachtenden Blicks« (Hegel) für menschliche Gesellschaften immer wieder betont. Man kann in der körperbildenden Kraft des Blickes eine Tatsache sehen, die die Trennung von Natur und Kultur unmöglich macht.

Die Geschichte der Trennung von Natur und Kultur gehört zur »anthropologischen Maschine«, als die Giorgio Agamben die anscheinend ewige Suche nach der Grenze zwischen Kultur und Natur durch Menschen bezeichnete. Agambens Begriff erweist sich insofern als hilfreich, als er schon die Möglichkeit beinhaltet, diese Maschine wie jede andere Maschine auch abzustellen. Die Friedenauer Presse hat jetzt mit ihrem Winterbuch »Menura. Prächtiger Vogel Leierschwanz« von Ambrose Pratt ein wunderbares Dokument herausgebracht, das als Sand im Getriebe der anthropologischen Maschine wirken kann. Die Leierschwänze gelten als eines der herausragenden Beispiele der Wirkung der sexuellen Selek­tion.
Die zwei Arten der Gattung Menura, wie die Leierschwänze wissenschaftlich heißen, der Braunrückenleierschwanz und der Prachtleierschwanz, leben in den subtropischen Bergwäldern an den südöstlichen Küsten Australiens nördlich von Melbourne. Die Federn der fasanengroßen Singvögel sind wie bei fast allen Gesangsvirtuosen unscheinbar, bei den Leierschwänzen grau-braun. Allerdings tragen die Männchen lange, leierförmige Schwanzfedern, die sie während des Balztanzes auffächern können und die dann im Waldlicht hellweiß-silbrig, an manchen Stellen durchsichtig erscheinen. Wer das Glück hatte, die Vögel einmal bei ihrem Tanz zu erleben, dürfte dabei das Gefühl nicht losgeworden sein, dass sie selbst die Effekte der optischen Täuschung, die sich im Spiel von Waldlicht und Federn beim Betrachter einstellen, kalkuliert einsetzen, da sie so rhythmisch regelmäßig auftauchen.
Da die Vögel aber äußerst scheu sind, schlecht fliegen können und versteckt im Unterholz der Regenwälder leben, wusste man lange, trotz andauernder Bemühungen, wenig über ihr tatsächliches Verhalten. Das änderte sich erst, als im Februar 1930 ein prächtiger junger Leierschwanzhahn eine Beziehung zu einer verwitweten, einsiedlerisch lebenden Dame namens Edith Wilkinson aufbaute. Der Hahn ließ sie in ihre Nähe, baute vor ihr seine zehn bis 15 Zentimeter hohen Erdhügel auf, auf denen die Männchen ihre Gesänge und Fächertänze aufführen. Wilkinson war davon so beindruckt, dass sie Ambrose Pratt, der sich als Ornithologe, Natur- und Tierschützer einen Namen gemacht hatte, einlud, dem Schauspiel beizuwohnen. Was Pratt dann in dem Gesang des Hahnes fand, war damals eine Sensation. Imitationen von 20 anderen Vogel­arten konnte er im Gesang nachweisen. Dazu kamen die Geräusche von einer »Steinzerkleinerungsmaschine«, einem »hydraulischen Widder« und »Autohupen«. Leierschwanzgesänge wurden durch Pratts Bericht zu einem Medienereignis, ihre Lieder wurden im Radio übertragen.

Mit Pratts Buch von 1933 begann aber auch die Karriere der Leierschwänze als Klangvorbild in der Neuen Musik, die der Herausgeber Rainer G. Schmidt in einem informativen Kommentar zu Pratts Buch nachzeichnet. John Cage und Olivier Messiaen adaptierten Klangfolgen der Vögel in ihren Werken. Für Messiaen, der einer der besten Vogelstimmenkenner seiner Zeit war – am Ende seines Lebens konnte er 700 Vogelarten an der Stimme unterscheiden und hatte Notate ihrer Gesänge aus der ganzen Welt aufgezeichnet –, zählten die Leierschwänze zu den »größten Musikern, die unseren Planeten bewohnen«. Verwunderlich war diese Einschätzung nicht. Die in der Tonart Es gehaltenen Gesänge, die sich über vier Oktaven hinziehen, enthalten Stakkati, Glissandi, Tremoli, Synkopen, Beats und immer wieder perkussive Elemente. Allein schon dieser überbordende musikalische Abwechselungsreichtum ließ vom ersten Moment an, als die Gesänge der Leierschwänze bekannt wurden, die allein prak­tische Deutung, nach der die Leierschwänze nur für die Weibchen singen, als ungerechtfertigte Verkürzung erscheinen. Die Überschüsse in der Klangproduktion und der verschwenderische Einsatz der Mittel konnten sich nicht allein auf die Weibchen beziehen, zumal die Männchen das ganze Jahr über singen und sich die Paarungszeit nur auf die Monate Juni bis August erstreckt. Hinzu kommt noch, dass die Weibchen nur alle zwei Jahre ein Ei legen und sich die Männchen dann auch nicht an der Brut und Aufzucht der Jungen beteiligen. Dafür muß man wirklich nicht das ganze Jahr singen und alle möglichen Geräusche und Töne aus der Umgebung daraufhin untersuchen, ob sie womöglich in einen Gesang passen, der sich zudem im Laufe des Lebens eines Hahnes immer wieder verändern kann.
Vieles spricht dafür, dass die Leierschwänze ihre Gesänge auch in einer Art selbstgenügsamem Akt komponieren, der vor allem dem Sänger selbst Vergnügen bereiten und gefallen muss. Sie singen also nicht nur für die Weibchen, sondern auch für sich selbst. Auch damit ist noch nicht die ganze Bedeutung der Lieder erfasst. Denn die Leierschwänze sind durch ihre Imitationen von Tönen aus der Umwelt auch zu Dokumentaristen geworden. So findet man heute noch Töne von Vogelarten in ihren Gesängen, die längst ausgestorben sind. In einem spezifischen Fall fand man bei einem Sänger noch 1969 die Melodien von in den dreißiger Jahren populären Liedern: Der Hahn variierte und überlagerte die Töne der Schlager »Mosquito Dance« und »The Keel Row« noch zu einer Zeit, als in Australien außer Spezialisten niemand mehr die Songs kannte.
Heute, da die Regenwälder Australiens genauso wie alle anderen Regenwälder Tag für Tag kleiner werden, sind die Gesänge der Vögel, in denen auch die Motorsägen und Trucks der Holzfäller nachklingen, zu Dokumentationen der fortschreitenden Zerstörung ihrer Lebensräume geworden. Wer will da noch behaupten, die Vögel wüssten nicht, wovon sie singen? Und wer will angesichts des Leierschwanzlebens noch die anthropologische Maschine anwerfen, um die trennende Wand zwischen Kultur und Natur wieder aufzurichten?