Die Parlamentswahlen in Marokko

Der Emir und die Bärtigen

Bei den Wahlen in Marokko gewann der islamistische PJD 26 Prozent der Stimmen, als stärkste Partei wird er die Regierung führen. Doch nur eine Minderheit beteiligte sich an der Wahl, die Protestbewegung hatte zum Boykott aufgerufen.

Keine Angst vor den Bärtigen! Alain Juppé, der Außenminister Frankreichs, das neben den USA die wichtigste Schutzmacht des monarchischen Regimes in Marokko darstellt, gibt sich zuversichtlich. Dass die relative Mehrheit an Stimmen und Sitzen bei der Parlamentswahl am Freitag vergangener Woche an die stärkste islamistische Partei des Königreichs ging, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) unter Abdellilah Benkirane, hält Juppé nicht für beunruhigend: »Das ist eine Partei, die gemäßigte Positionen vertritt. Man kann nicht jede Partei, die sich auf den Islam bezieht, stigmatisieren. Es wäre ein historischer Fehler. Man muss im Gegenteil mit denen reden, die nicht unsere roten Linien überschreiten, das heißt: den Respekt vor Wahlen, Rechtsstaat, Menschen- und Frauenrechten.« Den Wahlergebnissen zufolge, die am Montag veröffentlicht wurden, erhielt der PJD 26 Prozent der Stimmen und 107 von insgesamt 395 Mandaten im neuen Parlament. Am Dienstag wurde Benkirane zum Premierminister ernannt.
Die Parlamentswahl in dem 32 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Land war um etwa ein Jahr vorgezogen worden. Im Februar war auch Marokko von den Protesten des »arabischen Frühlings« erfasst worden. Durch die Erarbeitung einer neuen Verfassung (Jungle World 27/2011) sowie vorgezogene Neuwahlen versuchte das Königshaus, die Revolte zu kanalisieren.

Seit den ersten Demonstrationen gibt es in Marokko eine sehr aktive außerparlamentarische Opposition, die in der »Bewegung des 20. Februar« organisiert ist. Die vor allem von der Jugend unterstützte Gruppierung vertritt gesamtgesellschaftlich zwar eine Minderheit, eröffnete aber Spielräume für unter der marokkanischen Monarchie bislang nicht mögliche gesellschaftliche Debatten. Sie umfasst radikale Linke, Jugendbewegungen sowie die nicht institutionelle, gewaltlos auftretende islamistische Bewegung al-Adl wal-Ihsane, was mit »Gerechtigkeit und gute Tat« übersetzt werden kann. Im Gegensatz zu den stärksten Kräften des marokkanischen Islamismus lehnt diese Strömung die bestehende Monarchie explizit ab und fordert einen »zivilen, demokratischen Staat.«
Auch die Wahlgewinnerin, die Partei des 57jährigen früheren Lehrers Benkirane, gehört zum politischen Islam. Doch ihr Profil ist anders. Vor vielen Jahren hat sich der PJD für den institutionellen Weg entschieden, um seine Ziele zu erreichen. Wie bei fast allen islamistischen Parteien appellieren sein Programm und seine Propaganda an »Werte«, die auf eine »Remoralisierung« der Gesellschaft zielen. Dazu zählen im Allgemeinen eine repressive Sexualmoral, das Versprechen sozialer Gerechtigkeit, vor allem dank der »Bekämpfung von Korruption«, sowie die Forderung nach einer stärkeren Selbstbehauptung gegenüber Dominanzansprüchen der Länder des Nordens.
Zugleich betont der PJD seit Jahren seine Treue zur monarchischen Staatsform. In der marokkanischen Variante trägt der König unter anderem den Titel emir al-mu’minin (Befehlshaber der Gläubigen) und ist das Oberhaupt des Islam als Staatsreligion Marokkos. Der PJD akzeptiert diese geist­liche Führungsrolle des Monarchen und hat sich strategisch dafür entschieden, ihm dieses Terrain nicht streitig zu machen. Dies verbietet der Partei, sowohl die Einrichtung einer parlamentarischen Staatsform als auch die eines Kalifats zu befürworten.

Neben Saudi-Arabien und vermutlich anderen konservativ-reaktionären Golfmonarchien finanzierten auch die USA im vergangenen Jahrzehnt die Partei. Die »Middle East Partnership Initiative«, die unter der Regierung von George W. Bush aufgebaut wurde, betrachtete den PJD als Verbündeten gegen die nicht kontrollierbaren jihadistischen Strömungen innerhalb des Islamismus. Sie sagte dem PJD ein Stimmenpotential von 47 Prozent voraus.
Doch bereits die erreichten 26 Prozent genügen, um den PJD zur stärksten Partei zu machen. Hauptverlierer der Wahl ist die bisherige Regierungskoalition Koutla, die hauptsächlich aus der sozialdemokratischen USFP, der ehemals kommunistischen und nun liberalen PPS sowie der bürgerlich-nationalistischen Istiqlal besteht. Diese Parteien regierten Marokko seit 1998, als Hassan II., der Vater des derzeitigen Königs, nach Jahren des unmittelbaren Staatsterrors gegen die Opposition eine politische Liberalisierung einleitete. Damals ging es dem alternden König kurz vor dem Ende seiner 38jährigen Regentschaft darum, die Monarchie über seinen absehbaren Tod hinaus zu bewahren. Zu diesem Zweck versuchte er insbesondere, die bis dahin oppositionelle USFP zu integrieren, was ihm auch gelang.
Zwar erhielten die USFP mit nunmehr 39 Sitzen und der PPS mit künftig 18 Sitzen jeweils ein Mandat mehr als in der vergangenen Legislaturperiode, doch hatte das Parlament vorher nur 325 Sitze, mittlerweile wurde es auf 395 aufgestockt. Unterm Strich mussten die beiden Parteien der einstigen Regierungskoalition also deutliche Verluste hinnehmen. Immerhin konnte Istiqlal, mit 60 Sitzen gegenüber zuvor 52 im früheren Parlament, den Schaden begrenzen. Die im weitesten Sinne linken Parteien verloren weitaus mehr, weil sie stärker als die bürgerlichen Parteien durch die soziale Protestbewegung unter Druck gesetzt worden waren. Diese hatte mit der »Bewegung des 20. Februar« zum Wahlboykott aufgerufen. In den vergangenen fünf Wochen fanden auch wiederholt größere Demonstrationen statt, um diese Forderung zu unterstreichen. Im gleichen Zeitraum kam es immer wieder zu Verhaftungen, Misshandlungen und Behinderungen von Aktivistinnen und Aktivisten, die für einen Wahlboykott eintreten.

Die Wahlbeteiligung fiel mit offiziell 45,4 Prozent zwar höher aus als bei den letzten Wahlen im September 2007, als sie nur 37 Prozent betrug. Trotz der Boykottbewegung deutet dies auch auf eine stärkere Politisierung der marokkanischen Gesellschaft hin. Doch selbst diese höhere offizielle Wahlbeteiligung zeigt, dass eine Mehrheit der Marokkaner sich eigentlich von Wahlen wenig bis nichts verspricht. Vor allem aber täuschen diese staatlichen Zahlen. Denn die 45 Prozent beziehen sich nur auf die formell in Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten, das sind 13 von insgesamt 21 Millionen der volljährigen Marokkaner­innen und Marokkaner.
Berücksichtigt man die hohe Zahl derer, die diese Eintragung bislang verweigerten, sowie die über 20 Prozent ungültig abgegebenen Stimmzettel, dann gab nur etwa ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung ein gültiges Votum ab. Dies relativiert auch den Sieg des PJD.
Auch zwei Tage nach der Wahl fanden in vielen größeren Städten wie Casablanca, Mohammedia und Tanger Demonstrationen der Wahlboykottbewegung mit Zehntausenden von Menschen statt. Diese kritisierten die »Maskerade des Makh­zen«, des als ebenso autoritär wie korrupt geltenden marokkanischen Machtapparats, und versprachen auch der künftigen Regierung eine aktive Opposition. Zum Teil mischten sich die Demonstrationen auch mit dem Protest von Frauen, nachdem am Samstag erstmals die Initiative »Les femmes arrivent« (»Die Frauen kommen«) gegen die zu erwartende reaktionäre Familien- und Sexualpolitik des PJD in Rabat demonstriert hatte.