Das »Occupy«-Camp in Frankfurt

»Die da oben Schweine, ich arme Sau«

Seit Mitte Oktober campieren Anhängerinnen und Anhänger der »Occupy«-­Bewegung vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Die Jungle World hat sich dort zwischen Feuertonnen und asambleas bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern umgehört.

»Ich, ich, ich! Ich höre immer nur ich! Ich hab hier noch nie das Wort ›Wir‹ gehört!« schreit Jörg* in die kleine Männergruppe, die sich abends zwischen den Feuertonnen über die asamblea unterhält. »Ich vermisse hier im Camp das ›Wir‹! Wenn wir nicht ›Wir‹ sind, dann sind wir in zehn Tagen nicht mehr hier!«
Doch das mit dem »Wir« ist hier so eine Sache, auch wenn es an den Feuertonnen gerade ganz harmonisch zugeht und einige bedröhnt zu lautem Getrommel rund eine Dreiviertelstunde lang »Asamblea tonight, ohohoh, asamblea« singen. Zwar steht in dem kleinen Zeltlager am Fuße des Bankenturms der Europäischen Zentralbank auf Pappschildern, Zettelwänden und Stofftransparenten überall: »Wir sind 99 Prozent«. Was Jörg gerade sagt, klingt aber eher nach 99 Prozent Frust. Oder auch nach 99 Prozent betrunken. Viele sind an diesem Abend nicht mehr hundertprozentig nüchtern.
Jedenfalls nicht so nüchtern wie Tim*, der versucht, Jörg pädagogisch zu beruhigen: »Ich finde es ein bisschen schade, dass man immer die Gräben betont. Für mich gibt’s die nicht, ich komme mit allen super klar.« Aber Jörg legt wütend nach und schüttelt seine langen Haare: »Hier wird gemobbt, das kann nicht sein!« Die Umstehenden stimmen zu. »Die Gemobbten sollen das Mobben einfach ignorieren«, schlägt Tim vor, man könne ja eine Arbeitsgruppe gründen. Wie viele Arbeitsgruppen es wohl schon gibt? »14«, sagt Tim. Darunter eine »Respektgruppe«. »Was tut die eigentlich?« fragt einer der Umstehenden, der sich selbst als Mobbing-Opfer sieht. »Ich bin heute auf der asamblea gemobbt worden und da hat niemand gesagt: ›Der hat auch ein Recht auf freie Meinungsäußerung.‹ Man kann doch jemanden, der sich einbringt und der nicht wirklich rassistische Sachen sagt, nicht einfach fertig machen.«

Ist das der Minimalkonsens unter den »Occupy«-Leuten, dass man »nicht wirklich rassistische Sachen« sagt? »Naja, da gibt es einige, die sind extrem links, jetzt nichts gegen die extremen Linken, aber das Problem ist, dass sie dann andere Meinungen nicht akzeptieren«, sagt ein junger Typ mit sächsischem Akzent und Baseballjacke. »Nur weil der Frank und die anderen gegen den Euro sind, sind sie doch keine Nazis, vielleicht ist das rechts, aber die darf man doch deswegen nicht anfeinden«, meint er. »Wenn wir Nazis gleich verurteilen, dann sind wir ja selbst nicht besser als Nazis. Menschen können sich doch ändern, denen muss man doch auch eine Chance geben.« Die Umstehenden nicken.
»Die haben doch gar niemandem was getan!« protestiert der Mann mit der Baseballjacke. »Wir sind doch eine demokratische Bewegung, und in der Demokratie wählen alle!« Ein älterer Mann unterstützt ihn: »Die meisten Nazis wollen ja gar nichts Böses, die sind eben ungebildet, die sind Bauern auf dem Schachbrett.«
Sehen das hier alle so? Wie ist das mit den Leuten der »Zeitgeist«-Bewegung, die hier auftauchen und in Scientology-Manier die Abschaffung der Politik zugunsten »wissenschaftlicher Lösungen« propagieren und darunter allerhand gefährlichen Unfug verstehen? Auch alles nur »Bauern auf dem Schachbrett«?
»Klar, solche Sachen ziehen wir natürlich an«, gibt Tim zu. »Wir haben seit dem ersten Tag hier eine Medienpräsenz, wie sie sich jede Bewegung nur wünschen kann. Da treten alle möglichen obskuren Gruppen auf, die seit zehn Jahren danach sabbern, einmal so viele Kameras zu versammeln. Deswegen kommen die hier an.«
Und wen man so als »Nazi« bezeichnen dürfe, das sei ja sehr umstritten: »Manche schwingen ja schon bei der Kritik am Euro die Nazi-Keule, bei manchen fängt das erst bei der NPD an, bei anderen erst bei brandsatzwerfenden Neonazis.« Selbstverständlich gebe es hier auch Leute, »die das Feld von rechts aufrollen«, wie Tim es formuliert. »Ich finde das aber auch gar nicht schlimm. Meinetwegen kann auch jemand hierher kommen, der noch bis vor zwei Wochen die NPD gewählt hat, und seine Ideen hier einbringen. Solange der keinem Dunkelhäutigen hier ins Gesicht spuckt und mit den Leuten normal umgeht, ist mir egal, was der vorher gemacht hat.«

Vielleicht kommen aber »obskure Gruppen«, Verschwörungstheoretiker, nationalistische D-Mark-Nostalgiker und ehemalige Anhänger der NPD hierher, weil ihre Vorstellungen denen der »Occu­py«-Leute gar nicht so unähnlich sind? »Ich hoffe es«, sagt Tim nach einer kurzen Pause. Ein hochgewachsener junger Mann mit Hornbrille bekräftigt: »Wir haben alle unsere Feindbilder, aber wir haben einen Konsens: Dass es so nicht weitergeht.« Das Herausragende sei, »dass es hier so viel Toleranz gibt«, fügt er hinzu.
Ein blonder junger Mann sieht unsere Diskussion eher von der humoristischen Seite: »Das Witzige ist ja, dass die Leute, die vom jüdischen Finanzkapitalismus reden, dann hier nächtelang mit den Zigeunern an der Feuertonne sitzen.« Die Abgrenzung der »Occupy«-Leute von Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus, Sexismus und allen anderen Übeln hat seiner Meinung nach bislang »nicht so gut geklappt«. Es sei schon darüber diskutiert worden, dass man einen Beschluss gegen Sexismus, Rassismus und dergleichen brauche, sagt er grinsend, »dann hieß es, man könne doch einfach gleich gegen alle Ismen sein«. Aber dann habe einer protestiert, dass man ja »wohl nicht gegen Pazifismus sein« könne.
Nicht alle hier finden die Suche nach dem Konsens witzig. »Wir müssen aufpassen, wie wir damit umgehen, damit wir nicht unsere Diskussionsfähigkeit verlieren, das muss in die Arbeitsgruppen«, sagt Tim. Und natürlich auch in die asamblea. »Eigentlich ist eine asamblea dazu da, reine Kosensentscheidungen zu treffen. Aber hier ist es immer noch so, dass einige so lange schreien, bis sie meinen, eine Mehrheit für eine Abstimmung zu haben.«
Dann klärt Tim uns auf: »Asamblea ist die Generalversammlung. Die Bewegung kommt ja aus Spanien und dort beruft man sich wiederum auf den ›arabischen Frühling‹ und den Tahrir-Platz.« Aber gibt es da nicht irgendwie einen Unterschied? Auf dem Tahrir-Platz riskieren die Demonstrantinnen und Demonstranten ihr Leben, hier kommt ab und an die Frankfurter Stadtpolizei vorbei und lobt, dass alles so friedlich und ordentlich sei. Und wirklich: Die Ordner des »Occupy«-Camps passen sogar darauf auf, dass die Polizisten bloß nicht fotografiert werden. Denn das könnte die ja provozieren.
Den Unterschied zwischen dem Tahrir-Platz und dem Frankfurter Willy-Brandt-Platz will Tim aber nicht so stehen lassen: »Dann könnte man sich auch nicht mit der Bewegung an der Wall Street vergleichen. In den USA wären sie ja schon froh, wenn es dort ein Sozialsystem gäbe. Uns geht es derzeit einfach noch viel zu gut«, daher die Probleme mit dem Konsens. »In New York haben sie den Vorteil, dass es ihnen wesentlich schlechter geht als uns.«

Dabei sehen die meisten der Leute, die hier in der nächtlichen Novemberkälte an den Feuertonnen sitzen, gar nicht so aus, als ginge es ihnen besonders prächtig. An der einen Tonne sitzt eine Runde schweigsamer Männer mit speckigen Anoraks, die billiges Bier trinken. Ab und an sagt einer leise: »Kurva.« Nur einer der Männer ist für einen Plausch zu haben. Er schwankt, zwei seiner Finger sind mit einer verdreckten Mullbinde verpackt, gute Laune hat er trotzdem. »Was wir hier machen? Haha. Guter Witz. Nächste Frage«, sagt er mit polnischem Akzent. »Wir? Politik? Na, weiß du, ich kann nicht gut Deutsch. Aber ist ganz einfach, kuckst du«, sagt er und zeigt mit den verbundenen Fingern hoch auf die hell beleuchteten oberen Etagen der EZB. »Die da oben Schweine, ich arme Sau«, sagt er und lacht. Aus seinem zur Hälfte zahnlosen Mund klingt das nicht nach »verkürzter Kapitalismuskritik«, sondern ziemlich plausibel.
Auch die trommelnde und singende Meute an der anderen Tonne sieht nicht eben wohlhabend aus. Einer der glückseligen Dauertrommler sagt mit hoher Stimme und großen Augen: »Wenn ich könnte, würde ich die Banken alle in die Luft jagen. Aber ach was, das bringt ja auch nichts.« Seine Gliedmaßen bewegen sich, als sei sein Körper flüssig, sein Mund ist zu einem breiten Grinsen erstarrt. »Drogen? Ja, kann ich euch besorgen, aber ich selbst nehme gar keine«, sagt er, »ich bin immer so. Ich bin halt ein Frankfurter Bub.«
Er sagt, er sei seit zwei Jahren auf der Straße. Aber das mache ihm nicht viel aus. »Ich lege mich einfach mit meinem Schlafsack in den Schnee, ich habe drei Hosen an und dann weichen nur zwei durch, das geht schon.« Jetzt ist er hier im »Occupy«-Camp und es sieht fast so aus, als sei er seit langem ein bisschen glücklich. Aber was wäre, hätten dieses Zeltlager nicht deutsche Kinder aus der Mittelschicht errichtet, die hier Askese für die gute Sache praktizieren, sondern die heute Nacht hier versammelten Lumpenproletarier, die Obdachlosen, für die die Zelte, das Essen aus der Volksküche und die wärmenden Feuertonnen im Zentrum der Stadt doch wahrer Luxus sind? Was täte dann wohl die so freundliche Frankfurter Stadtpolizei?
Tim will das Camp auf keinen Fall als Sozialprojekt verstanden wissen. Dass sich alle einbringen können, hat aus seiner Perspektive offenbar doch einen Haken: »Es gibt auch immer wieder Leute, die ihre eigenen Probleme in die asambleas bringen, es gibt ja auch viele, die ganz schlimme Schicksale haben, aber dazu ist das Camp wirklich nicht da.« Dass bei den Versammlungen immer noch so viel darüber gestritten werde, das verstehe er gar nicht. »Wenn hier ein Obdachloser besoffen umfällt oder so, ist das scheiße. Aber das ist kein Problem, dass wir hier lösen können. Darüber müssen wir uns nicht auf der asamblea die Köpfe einschlagen.«
Kurz darauf ruft eine Frau um Hilfe: »Er schlägt mich wieder ins Gesicht! Wo ist hier ein Ordner? Keiner hilft mir! Und diese blöden Ostblockpenner sagen noch, er sei ›nur der Freund‹«. Sie weint, ihre Haare hängen in Strähnen über ihr Gesicht. Und dann bricht es aus ihr heraus: »Vor 80 Jahren hat man sowas noch vergast und das war richtig!« Das sei »ja mal wieder ein alter, lange nicht gehörter Klassiker«, lacht jemand nach einer Pause entsetzten Schweigens. »Das sind alles Opfer dieses kranken Systems«, kommentiert ein anderer entschuldigend für alle Beteiligten. Aber die Frau ist schon längst weggestürmt und die Männer sind wieder unter sich.

Man dürfe sich eben »nicht einbilden, dass relevante Protestbewegungen strukturiert, fokussiert und appetitlich gewesen sind«, doziert ein junger Journalist, der wie einige andere Journalisten hier seit Tagen campt, um eine Reportage für ein ausgesprochen bürgerliches Politikmagazin zu schreiben. »Ich glaube, dass das, was man hier abends so findet, auch einfach so Platzhalter sind.« Manche Leute hätten auch »wirklich an den inhaltlichen Sachen mitgewirkt und müssen dann eben wieder arbeiten gehen«, verteidigt er das »Occupy«-Projekt, mit dem er sich schon völlig zu identifizieren scheint. »Wir wollten eigentlich ein Papier mit ein paar wichtigen Punkten formulieren, die alle unterzeichnen können, aber das ist halt nicht so einfach«, sagt ein anderer Aktivist.
Aber was soll darin stehen? »Es wird jetzt schon wieder eine Finanztransaktionssteuer gefordert, ich meine, was soll das?« empört sich der blonde, junge Mann. »Das laviert so zwischen Parteiprogramm der CDU und allgemeiner Kapitalismuskritik, und kein Mensch weiß, wie man das zusammenkriegt.« Seiner Meinung nach liegt das gemeinsame Anliegen eher »in diesem diffusen Gefühl, dass man sich in der normalen Welt nicht so wohlfühlt wie hier an der Feuertonne. Das haben hier viele. Die sagen: ›Shit, ich muss morgen eigentlich um sechs Uhr aufstehen und arbeiten gehen, aber ich will noch bleiben.‹« Es sei doch »cool, dass es hier einen Ort gibt, an dem man rumhängen kann, ohne dass man bespaßt wird von irgendwelchen Leuten, die damit Geld verdienen. Das ist doch schon der Sinn, mehr Sinn gibt’s hier doch gar nicht.«
»Und nur deshalb seid ihr da?« fragt vorwurfsvoll ein Langhaariger mit Outdoor-Jacke, der den ganzen Abend damit verbringt, das Geschirr all der Leute zu spülen, die sich hier gerade hemmungslos betrinken. »Also, ich kam hier mal so aus Neugier vorbei und dann habe ich ein Mädchen kennengelernt, wir haben eine Woche hier im Zelt verbracht«, erklärt sich der blonde Mann. Die sei jetzt wieder weg. »Aber heute bin ich auch alleine hier und hab sogar Brötchen vorbeigebracht!« sagt er stolz.
»Und ihr?« »Ach, wir hängen hier nur so rum«, antworten wir. Ein Politikstudent in einer Schaffelljacke droht uns deshalb gleich einen kenntnisreichen Vortrag über die Euro-Krise an. Er meint, man sehe hier die Bereitschaft, jenseits des »Geldsystems« zu denken und etwas umsonst zu geben. Tatsächlich dürfen wir uns von seinem Tabak alle eine Zigarette drehen. »Ja, man zeigt halt hier, dass es eine Logik außerhalb der Logik des Kapitalismus gibt, dass man mit allen Leuten rumhängen kann, seien es die Obdachlosen oder andere«, sagt der Blonde. »Alle können ihre Meinung sagen, in den Zelten ist auch noch ohne Ende Platz, und es gibt sogar was zu essen.« Als der Politologiestudent nach der Herkunft der Lebensmittel fragt, die hier umsonst angeboten werden, kommt der blonde Mann auf eine Idee: »Hey, die können wir doch hier anbauen!« Ein Kartoffel­acker hier im Park vor der EZB? Am besten unter dem gigantischen blauen Euro-Symbol? Das wäre vielleicht ein ganz hübsches Sinnbild der Krise.
Ob der Boden fruchtbar ist? »Da müsste man jetzt eben ordentlich hinkacken, damit der fruchtbar wird.« Und an den strengen Geruch werde man sich schon gewöhnen. »Hier im Camp gibt’s Leute, die wollen wirklich das Geld komplett abschaffen, die wollen wie im Mittelalter Kühe gegen Backsteine tauschen oder so«, sagt ein neu Dazugestoßener und fasst sich an den Kopf. »Und das haben die sogar im Fernsehen gesagt!«
Ein Spätpubertierender mit Dreadlocks verteidigt die Utopisten: Man muss seiner Meinung nach vom Geldsystem auf das Hanfsystem umstellen. »Alter, Tausch geht künftig nur noch in rauchbaren Naturalien!« sagt er, obwohl er bei seinem Konsum dann vermutlich im Nachteil wäre.
Auf den Utopisten folgt noch ein Ethnologe. »Ich habe neulich im Fernsehen etwas von ›Palaver-Demokratie‹ gehört, das gibt es in Afrika und so, da kommen alle Leute zusammen. Da kommt auch Unsinn heraus, aber am Ende entsteht auch ein Konsens, den alle gut finden«, meint er. »Das kriegen die hin, weil da eben nicht so dominante Leute sind, die sagen, da und da geht’s lang.« Muss man wirklich jedes Palaver erdulden? »Wenn du dich mit Leuten beschäftigen musst, mit denen du dich normalerweise gar nicht auseinandersetzen würdest, kommst du automatisch zu ganz anderen Gedanken und dadurch auf einen Konsens«, sagt er dazu.
Als dann schließlich noch Hans zwischen den Zelten auftaucht, der uns darüber aufklärt, dass der »frühe Nationalsozialismus schon solche Ansätze hatte, die auch interessant waren«, wenn man das einmal »geschichtlich betrachtet«, haben wir endgültig genug von der Palaver-Demokratie im Frankfurter »Occupy«-Lager und wünschen den Obdachlosen eine gute Nacht.

* Namen von der Redaktion geändert