Die »neo-osmanische« Außenpolitik der Türkei

Der Bruder soll nicht zu groß werden

Die Türkei sieht sich als Modell für die Demokratisierung der arabischen Staaten. Viele Araber fürchten jedoch eine »neo­osmanische« Außenpolitik. Auch die ­Beziehungen zu Israel sind konfliktreich.

»Wir stehen hinter der Türkei«, zitierten am vergangenen Samstag alle Zeitungen das Versprechen des Vizepräsidenten der USA, Joseph Biden, an den türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die USA würden »weiter mit der Türkei zusammenarbeiten, um gemeinsame Interessen im Nahen Osten und Nordafrika zu verfolgen«. Diese Aussagen beziehen sich neben den internationalen Sanktionen gegen Syrien auch auf ein mögliches militärisches Eingreifen der Türkei im Nachbarland. Zunächst solle dies durch eine an der Grenze zu Syrien einzurichtende Pufferzone vorbereitet werden, sagte der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bülent Arınç am Rande der Gespräche mit der US-Delegation am Wochenende in Ankara.
Der plötzliche Sinneswandel der Türkei hinsichtlich eines militärischen Eingreifens in Syrien kommt der US-amerikanischen Regierung sehr gelegen. Der Nato-Partner Türkei läuft nicht so schnell Gefahr, in der Region als imperialistischer Aggressor wahrgenommen zu werden. Zumindest machen sich das die US-amerikanische und die offizielle türkische Politik gern vor. Dabei sind die Meinungen in der Region tief gespalten.

In Istanbul tobt momentan die internationale Debatte über den »arabischen Frühling und seine Folgen«. Mehrere Konferenzen und Kongresse finden gleichzeitig statt, etwa der »Arabisch-Türkische Medienkongress« und die »Arabisch-Türkische Konferenz zur Förderung der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Industrie«. Fast überall wird über die »Vorreiterrolle« der Türkei diskutiert. Die Türkei und ihre arabischen Nachbarn spekulieren über die zu erwartenden Gewinne. Das Interesse aneinander, insbesondere an den Produkten aus den jeweils anderen Ländern, ist erheblich gestiegen. Vor allem die Türken profitieren. Sie verkaufen ihre Fernsehserien, Bauma­terialien, Schokoriegel und Automobile erfolgreich in die arabische Welt. Das ist auch eine Folge von Erdoğans Tournee, er besuchte im Sommer die Länder des »arabischen Frühlings«. Die Fernsehbilder des auf dem Tahrir-Platz wie ein Popstar bejubelten Ministerpräsidenten gingen um die Welt. In seinem Tross reiste stets eine statt­liche und emsige Delegation von Unternehmern.

Kontrovers wurde die Rolle der Türkei in der Region am Wochenende im »Abant-Forum« diskutiert. Dieses Forum ist ein regierungsnaher Think Tank aus türkischen Wissenschaftlern, Juristen, Journalisten und Funktionären, die mit internationalen Gästen weltpolitische Konflikte diskutieren. Viele arabische Diskussionsteilnehmer wehrten sich gegen das von den Gastgebern vertretene Postulat, die Türkei solle als Modell einer Demokratisierung in der Region dienen. Pakinam al-Sharkawy, Experte für Wirtschaft und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Kairo, stellte fest: »Der politische und gesellschaftliche Druck in Ägypten entstand aus einer Wechselwirkung der Proteste in den jeweiligen anderen Ländern. Eine Reform kommt aber nicht durch Modelle von außen zustande.« Ibrahim Ghanem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zeigte unverhohlen seinen Unmut über die »neoosmanische« Außenpolitik der Türkei. Die türkische Regierung orientiere sich vor allem an wirtschaftlichen Interessen und habe ihre interessengebundene syrienfreundliche Politk erst geändert, als sie angesichts der vielen toten Demonstranten im Nachbarland das Gesicht zu verlieren drohte, sagte der Politikwissenschaftler. Jeder in der arabischen Welt wisse, dass der Clan des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad seine Waffen immer schon weniger gegen Israel als gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt habe, stellte Ghanem fest. Er fügte hinzu: »Wir wollen weder eine Kolonie des Westens noch eine osmanische Provinz sein.«
US-Verteidigungsminister Leon Panetta forderte die israelische Regierung am Wochenende dazu auf, die Beziehungen zu ihren Nachbarländern Türkei und Ägypten zu verbessern und so einen Weg aus der derzeitigen Isolation zu finden. Die türkisch-israelischen Beziehungen sind angespannt. Acht Türken und ein türkischstämmiger Amerikaner wurden von israelischen Soldaten erschossen, als diese Ende Mai 2010 die »Mavi Marmara« enterten, das türkische Flaggschiff einer »Hilfsflottille für Gaza«. Der im September veröffentlichte Palmer-Bericht der Uno widerspricht entschieden der türkischen Position, die israelische Blockade des Gaza-Streifens sei illegal. Er konstatiert vielmehr, dass die Teilnehmer der Flottille rücksichtslos gegen das Recht Israels, sich zu schützen, verstoßen hätten, und zweifelt wegen der fundamentalistischen politischen Einstellungen der Organisatoren an den humanitären Absichten. Die der türkischen Regierung nahestehende »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« (IHH) kooperiert offen mit der Hamas. Doch auch das Vorgehen Israels wurde als übertrieben brutal bezeichnet. Die israelische Regierung verweigerte eine offizielle Entschuldigung, die Türkei reduzierte daraufhin die diplomatischen Beziehungen und setzte die Militärabkommen aus. »Beide Länder müssen Zugeständnisse machen«, unterstrich der israelische Diplomat und Autor Alon Liel am vergangenen Freitag in Istanbul. Auf Druck der türkischen Regierung verzichtete die IHH Anfang November auf die zuvor angekündigte erneute Führung einer internationalen »Hilfsflottille« nach Gaza. Israels Hilfsangebote für die Erdbebenopfer in Van Mitte Oktober wurde zunächst ausgeschlagen. Mittlerweile aber sind die israelischen Fertighäuser in der winterkalten Region eine willkommene und notwendige Hilfe. Die kurdische Bevölkerung in Van hatte nach dem Erdbeben mehrfach demonstiert, nachdem die türkische Regierung internationale Hilfe abgelehnt hatte.
Die Türkei wird in naher Zukunft ihre »neo­osmanische«, auf eine Vormachtstellung im Nahen Osten ausgerichtete Außenpolitik sicher modifizieren müssen. Syrien und der Iran sind mittlerweile wieder gefährliche Nachbarn, und die arabischen »Bruderländer« wünschen keine Bevormundung.