Ein Resümee des Brechmittelverbots

Foltern bis zum Erbrechen

Vor zehn Jahren starb Michael Paul Nwabuisi in Hamburg an den Folgen eines Brechmitteleinsatzes. Die Verantwortlichen mussten sich nie einem Verfahren stellen. Mittlerweile wird auf den zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln in Deutschland verzichtet. Eine kritische Aufarbeitung hat staatlicherseits jedoch nicht stattgefunden.

Es dauerte lange, bis der Leichnam bestattet wurde. Der Tote mit dem Namen Achidi John lag viele Monate in der Kühlhalle des Friedhofs Hamburg-Öjendorf. Der junge Mann starb am 12. Dezember 2001, nachdem ihm drei Tage zuvor Ipecacuanha-Sirup und fast ein Liter Wasser in den Magen gepumpt worden waren. Polizisten hatten ihn am Hamburger Hauptbahnhof festgenommen, weil sie gesehen haben wollten, wie er weiße Kügelchen geschluckt hatte. Telefonisch genehmigte ein Staatsanwalt im Eilverfahren den Brechmitteleinsatz, an dessen Folgen John letztlich starb.
Erst die Künstler rund um den Verein »Broth­ers Keepers« konnten ermitteln, wo genau der Tote aufgewachsen war. Sie fanden heraus, dass er nicht aus Kamerun, sondern aus Nigeria stammte, dass er nicht Achidi John, sondern Michael Paul Nwabuisi hieß. Im Sommer 2000, kurz bevor sein Visum auslief, hatte er seinen Pass entsorgt und in Hamburg Asyl beantragt – als 19jähriger John aus Kamerun. »Brothers Keepers« sammelte Geld, überführte den Toten nach Nigeria, beerdigte ihn gemeinsam mit der Familie und trat als Nebenkläger in einem Verfahren auf, das nie vor Gericht kam. Trotz zahlreicher Strafanzeigen hatte die Staatsanwaltschaft Hamburg im Jahr 2002 ein Ermittlungsverfahren abgelehnt, weil »kein Anfangsverdacht strafbaren Handelns« bestanden habe.

An dem Dezembertag, als Polizeibeamte Nwabuisi ins Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf brachten, hatte eine junge Professorin am Institut für Rechtsmedizin Dienst. Obwohl Nwabuisi zuvor zusammengesackt war, soll sie versucht haben, ihm einen langen Plastikschlauch durch die Nase zu schieben. Dies geht aus den Unterlagen zur Klageerzwingung von 2002 hervor. Weil der Festgenommene Angst hatte und sich wehrte, drückten ihn Polizeibeamte auf den Boden, fesselten ihn an Füßen und Händen, versuchten, sein Gesicht zu fixieren – eingequetscht zwischen den Oberschenkeln eines Polizisten, wie ein beteiligter Beamter später aussagte. Die drei Beamten forderten Verstärkung an. Wie unter anderem von polizeilicher Seite zu Protokoll gegeben wurde, soll die Rechtsmedizinerin dann ein drittes Mal versucht haben, den Schlauch durch das Nasenloch einzuführen. Verschiedenen Aussagen beteiligter Personen zufolge röchelte Nwabuisi, aber erbrach sich nicht. Den Unterlagen zur Klageerzwingung zufolge bewegte er sich nicht mehr und verlor die Kontrolle über seine Blase. Minutenlang lag Nwabuisi da, gefesselt, regungslos, fast ohne Puls, wie eine anwesende Medizinstudentin feststellte. Schließlich wurde der Notarzt gerufen.
Später hieß es in einem Gutachten, eine Herzkrankheit habe zu Nwabuisis Tod geführt. Es stammte von Volkmar Schneider, dem damaligen Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Ber­liner Charité. Zu einem ähnlichen Urteil gelangte er auch 2005 im Falle eines weiteren Opfers eines Brechmitteleinsatzes in Bremen.

Über 40 Kügelchen holte man Nwabuisi aus dem Magen – insgesamt etwa fünf Gramm Crack. Dafür wäre er zu Arbeitsauflagen oder zu einer Jugendstrafe von etwa zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Dies ergab damals eine Anfrage der Ärztekammer Hamburg beim Straf- und Jugendgericht. Die Ärztekammer wollte damit die Unverhältnismäßigkeit der Mittel aufzeigen. Noch im Oktober, wenige Monate vor dem Tod durch staatliche und ärztliche Gewalt, hatte das Ärztegremium einstimmig festgestellt, dass die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des Betroffenen nicht zu vertreten sei und dass kein Arzt dazu gezwungen werden dürfe, sich an solchen polizeilichen Maßnahmen zu beteiligen.
Noch deutlicher äußerte sich einige Jahre später der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg. Die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln sei »unmenschlich«, »ernied­rigend« und verstoße gegen das Folterverbot, entschied es 2006. Deutschland musste damals einem Kokaindealer aus Köln ein Schmerzensgeld in Höhe von 10 000 Euro zahlen.

Die rot-grüne Koalition in Hamburg hatte im Sommer 2001 den Einsatz von Brechmitteln zum Zwecke der Beweissicherung eingeführt – auf Drängen des damaligen Innensenators und derzeitigen Ersten Bürgermeisters, Olaf Scholz (SPD). Auch die Grünen waren daran beteiligt. Krista Sager (GAL) war damals Zweite Bürgermeisterin und sagte im Juli 2001 der Hamburger Morgenpost: »Es handelt sich um einen intelligenten Mix aus Hilfsangeboten und repressiven Maßnahmen, an dem wir konstruktiv beteiligt waren.«
Damals standen Bürgerschaftswahlen an. Innere Sicherheit, Drogenkriminalität, Recht und Ordnung waren vieldiskutierte Themen. Noch dazu schickte sich die neu gegründete Schill-Partei an, viele Wählerstimmen zu gewinnen. Der gern als besonnener Hanseat porträtierte Ole von Beust zeigte keine Skrupel, seine CDU in eine Koalition mit der rechten Partei zu führen, die von dem als »Richter Gnadenlos« bekannten Ronald Schill angeführt wurde. Schill selbst geriet später als mutmaßlicher Kokainkonsument in die Schlagzeilen.

Auch der zweite Versuch, Nwabuisis Tod vor Gericht zu bringen, scheiterte. Nach dem Strasbourger Urteil des EGMR von 2006 hatte die Hamburger »Kampagne gegen Brechmitteleinsätze« bei der damaligen Generalbundesanwältin Monika Harms Strafanzeige gestellt. Es ging um Anstiftung zur Nötigung, zur gefährlichen Körperverletzung und zur Körperverletzung im Amt. Dessen bezichtigt wurden eine Reihe ranghoher Po­litiker: Scholz als ehemaliger Innensenator, seine Nachfolger Schill und Udo Nagel, die ehemalige Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) und deren Nachfolger Roger Kusch und Carsten-Ludwig Lüdemann (beide CDU). Außerdem angezeigt wurden unbekannte Hamburger Polizeibeamte und Staatsanwälte beim Landgericht Hamburg sowie der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Eppendorf, eine Mitarbeiterin des Instituts und unbekannte Ärzte.
Aus der Vielzahl der Brechmitteleinsätze – nach dem Todesfall im Dezember 2001 gab es weitere 400 registrierte Fälle – ergebe sich eine »Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland«, heißt es in der Strafanzeige von 2006. In der Begründung, die von zahlreichen Rechtsanwälten unterzeichnet wurde, ist zudem zu lesen: »Es handelt sich hier um eine Form organisierter Regierungskriminalität, der mit der Befassung strafbaren Verhaltens im üblichen Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeiten nicht beizukommen ist.« Und weiter: »Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat bei allen Brechmitteleinsätzen mitgewirkt. Sie ist daher nicht das geeignete Strafverfolgungsorgan für Ermittlungen in dieser Angelegenheit.« Trotz des Urteils des EGMR sah sich die Generalbundesanwältin nicht für den Fall zuständig. Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg schließlich nahm die Strafanzeige nicht an. Kein Wunder – sie hätte gegen sich selbst ermitteln müssen.

Von einer juristischen Aufarbeitung des Falles Nwabuisi ist man weit entfernt. Auch eine kritische Auseinandersetzung in der Politik und in Polizeikreisen mit der menschenrechtswidrigen Praxis des Brechmitteleinsatzes lässt auf sich warten. Immerhin verzichten seit dem Strasbourger Urteil des EGMR die Bundesländer, die Brechmittel eingesetzt haben, auf deren zwangsweise Vergabe, darunter Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Hamburg wiederum zögerte nach dem Urteil noch einige Wochen, bis es schließlich ebenfalls aufhörte, mutmaßlichen Drogenhändlern Brechmittel gewaltsam einzuflößen. Und heute? »In den letzten Jahren wurde nach unserer Kenntnis auch kein Brechmittel mehr auf freiwilliger Basis verabreicht«, sagt dazu ein Sprecher der Justizbehörde Hamburg der Jungle World. Zu den Gründen dafür befragt, heißt es aus der Innenbehörde: »Die offene Drogenszene, die es in Hamburg als einziger deutscher Großstadt in dieser Art und Weise und in diesem Umfang gab, ist zerschlagen.« Dies sei unter anderem der intensiven Polizeiarbeit zu verdanken, die hier einen Schwerpunkt gesetzt habe, so die Behörde.
Experten zufolge hatte das jedoch lediglich zur Folge, dass der Drogenhandel andere Formen annahm. »Heute können wir kaum noch eine Szeneballung erkennen, junge Menschen sind mobiler in vielerlei Hinsicht, etwa was die Kommunikation betrifft oder die Orte, an denen sie sich aufhalten«, sagt Burkhard Czarnitzki, der Leiter von »Kids«, einer Anlaufstelle für Straßenkinder, zur Entwicklung der Drogenszene in Hamburg. Peter Möller, Leiter der Drogenberatungsstelle »Drob Inn«, weist allerdings darauf hin, dass die Zahl der Suchtkranken in den vergangenen zehn Jahren etwa konstant geblieben sei. Daher geht er davon aus, dass auch eine ähnliche Stoffmenge wie früher gehandelt werde. Heutzutage werde jedoch weniger in der S-Bahn und an einschlägigen Plätzen gedealt, sondern eher im Verborgenen. »Wir sehen keinen Anhaltspunkt, dass die Zahlen zurückgehen«, betont auch der Psychologe Marcus-Sebastian Martens, Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg. Das dürfte auch dem Direktor der Rechtsmedizin an der Klinik Eppendorf, Klaus Püschel, einem bekannten Verfechter der Brechmitteleinsätze, nicht entgangen sein. Schließlich liegen die Hamburger Drogentoten auf seinem Seziertisch.