Wie die Weißen in die Jazzclubs kamen. Nella Larsens präqueerer Roman »Passing« ist jetzt auf Deutsch erschienen

Passing the Line

In den USA gehört Nella Larsens in den zwanziger Jahren verfasster Roman »Passing« zum Kanon. Judith Butler feierte das Buch der afroamerikanischen Schriftstellerin als frühe Dekonstruktion von Rasse in der Literatur. Nun ist die autobiographische Erzählung auf Deutsch erschienen.

Um 1930 gilt Nella Larsen als eines der größten Talente der afroamerikanischen Literatur. Die Kritik feiert ihre beiden Romane »Quicksand« und »Passing« als herausragende Beiträge zur Kulturgeschichte des schwarzen Amerika. Als erste Schwarze erhält sie ein Guggenheim-Stipendium für einen Europa-Aufenthalt und schreibt in den 16 Monaten, die sie dort verbringt, zwei weitere Romane. Diese Romane aber bleiben unveröffentlicht; nach ihrer Rückkehr und der Scheidung vom Physiker Elmer S. Imes 1933 zieht Larsem sich aus dem öffentlichen Leben zurück und verschwindet als Stimme der afroamerikanischen Literatur. Als sie 1964 stirbt, sind Larsen und ihr Werk vergessen.
In den neunziger Jahren wird Nella Larsen in den Literaturkanon amerikanischer Universitäten aufgenommen. Es erscheinen Dissertationen zur Dekonstruktion der Vorstellung von »Rasse« im literarischen Werk Larsens, Biographien schildern ihr Leben und Judith Butler feiert »Passing« in ihrem Buch »Körper von Gewicht« als Vorwegnahme queerer Theoriebildung. Der Roman, der nun unter dem Titel »Seitenwechsel« in deutscher Übersetzung erschienen ist, schildert den vergeblichen Versuch, unsichtbar zu werden und zu verschwinden – ein Thema, das sich durch das Werk und die Biographie Larsens zieht.
Ein Jahr nach ihrer Geburt in Chicago 1891 verschwindet Larsens afroamerikanischer Vater. Ihre Mutter Marie Hanson, eine dänische Migrantin, lebt mit der Tochter im Chicagoer Rotlichtviertel und heiratet einige Jahre darauf den Dänen Peter Larsen, mit dem sie eine zweite Tochter bekommt. Die Familie versucht, die »schwarze Identität« ihrer älteren Tochter zu verheimlichen, um nicht als »multiethnische Patchworkfamilie«, wie man sie heute nennen würde, von der weißen Mehrheitsgesellschaft angefeindet zu werden. Als bekannt wird, dass Nellas Vater Afroamerikaner war, und der gesellschaftliche Druck zu groß wird, geht Mary Larsen 1895 mit ihren Töchtern für einige Jahre nach Dänemark. 1898 kehrt die Familie zurück und zieht nach Chicago. Sie wohnen an der Grenze zwischen einem weißen und einem schwarzen Wohnviertel. Ihre beiden Töchter bringt die Mutter an unterschiedlichen Schulen unter. Als sich Larsen 1907 an der schwarzen Fisk University einschreibt, um Lehrerin zu werden, zieht ihre Familie in ein rein weißes Wohngebiet und bricht den Kontakt zu ihr ab. Ihre Schwester Anna gibt bis zum Ende ihres Lebens vor, ein Einzelkind zu sein. Der Bruch mit ihrer Familie, die Nella Larsen nicht mehr wiedersehen wird, bedeutet zugleich den Bruch mit der weißen Gesellschaft Amerikas.
Larsen versucht nun, sich der schwarzen Community anzuschließen – vergeblich: Ihre Biographie unterscheidet sich zu sehr von denen ihrer schwarzen Kommilitonen, die zumeist Nachfahren ehemaliger Sklaven sind. Die dänische Migrationsgeschichte ihrer Mutter passt nicht in diesen Kontext. Larsen zieht 1908 wieder nach Dänemark, wo sie bei Verwandten lebt und sich mit modernistischen Strömungen der skandinavischen Literatur auseinandersetzt. 1912 geht sie zurück nach New York, macht eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitet einige Jahre in einem vornehmlich von Weißen besuchten Krankenhaus in der Bronx. 1918 wird sie Mitarbeiterin im »Bureau of Preventable Diseases«, wo sie zu einer Pionierin der Sexualaufklärung in Amerika wird. Sie besucht junge Frauen zu Hause, um sie über Sexualität und Verhütung aufzuklären. 1919 heiratet sie den afroamerikanischen Physiker Elmer S. Imes und beginnt, literarische Salons von Autoren und Intellektuellen der Harlem Renaissance zu besuchen. Sie engagiert sich im New Negro Movement, das versucht, ein Bewusstsein über afroamerikanische Kulturtraditionen zu schaffen und eine eigene, schwarze Stimme in der amerikanischen Kultur zu etablieren. Im Zuge dieser Annäherung an die schwarze New Yorker Bohème organisiert sie die erste Ausstellung afroamerikanischer Kunst, absolviert als erste zugelassene Schwarze eine Ausbildung zur Bibliothekarin und tritt mit ersten literarischen Texten in Erscheinung. Auch wenn sie mit ihren beiden Romanen »Quicksand« (1928) und »Passing« (1929) eine wichtige Vertreterin der Harlem Renaissance ist, hält die Bewegung Distanz zu ihr. Weil sie als Tochter einer weißen Familie der Mittelschicht aufgewachsen ist, traut man Larsen nicht zu, ein Bewusstsein für die afroamerikanische Kulturgeschichte zu besitzen.
1930 wird die Autorin mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert, die sich später als nicht haltbar herausstellen. Ihr wird vorgeworfen, für ihre Erzählung »Sanctuary« Elemente aus Sheila Kaye-Smiths 1919 publizierter Erzählung »Mrs. Adis« übernommen zu haben. Nach ihrer Rückkehr aus Europa muss sie zudem ihre von der Presse stark beachtete Scheidung von ihrem Ehemann durchstehen. Larsen bricht mit ihrem bisherigen Leben, schreibt nicht mehr und zieht sich aus den Künstlerkreisen und der Öffentlichkeit zurück.
Sie arbeitet wieder als Krankenschwester, bis sie 1964, acht Monate nach ihrer Pensionierung, an einem Herzinfarkt stirbt. Ihre Angehörigen weigern sich, die Bestattung zu organisieren, und so übernimmt eine befreundete Krankenschwester diese Aufgabe.
Ihre Verlorenheit und die Problematik, weder zur schwarzen Community noch zur weißen Mehrheitsgesellschaft zu gehören, greift Larsen in ihren beiden Romanen auf, in denen sie Menschen jenseits der Eindeutigkeit rassistischer Zuweisungen porträtiert. Der autobiographische Roman »Quicksand« erzählt von der Suche der Protagonistin Helga Crane nach ihrer »Identität«, die sie weder in Dänemark noch im schwarzen New Yorker Stadtteil Harlem finden kann, noch in der Religion. Der zweite Roman, »Passing«, geht in seiner Beschreibung von Strategien, die durch die Hautfarbe gesetzten Grenzen zu unterlaufen, noch weiter. Larsen, der immer wieder fehlendes schwarzes Geschichtsbewusstsein vorgeworfen wird, beruft sich auf eine lange Tradition des Motivs des »Passing« in der afroamerikanischen Literatur.
»Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das der Rassentrennung«, schrieb W.E.B. Du Bois einleitend in der Aufsatzsammlung »Die Seelen der Schwarzen« von 1903, einem der bedeutendsten Werke der sich formierenden schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die rassistische Trennung manifestierte sich auch geografisch, etwa in den traditionell von Schwarzen bewohnten Stadtteilen wie Harlem. Die Harlem Renaissance deutete die Segregation positiv um und machte Harlem zu einem Synonym für schwarzes Selbstbewusstsein. Die neue afroamerikanische Kultur wurde jedoch schnell von der weißen Mehrheitsgesellschaft vereinnahmt, die in den Jazzclubs nach dem Neuen und Aufregenden in der Kultur suchte. Zwar wurden die Grenzen der Rassentrennung durchlässiger, aber nur in eine Richtung: Weiße konnten in die Welt der afroamerikanischen Künstler eintauchen und einen Abend lang die vermeintlich wilde Kultur genießen oder sich andere Klischees bestätigen lassen. Umgekehrt blieb jedoch Schwarzen ein »Seitenwechsel« in die weiße Kultur verwehrt. Brian, der Ehemann der Protagonistin und Erzählerin Irene Redfield im Roman »Passing« beschreibt die Entwicklung in den Jazzclubs im Jahr 1927 folgendermaßen: »Bald schon dürfen Farbige überhaupt nicht mehr rein, oder sie müssen nach den Jim-Crow-Gesetzen getrennt sitzen.« Die einzige Möglichkeit, die »Seiten zu wechseln«, besteht für Afroamerikaner – und auch nur für solche mit einer hellen Hautfarbe – im »Passing«, dem Versuch, als Weißer »durchzugehen« und als solcher identifiziert zu werden – ein von den meisten Schwarzen eher mit Argwohn beobachtetes Phänomen. So erklärt Irene Redfield ihrem Mann: »Schon komisch, das mit dem ›Seiten wechseln‹. Wir missbilligen und entschuldigen es zugleich. Es weckt unsere Verachtung, und doch bewundern wir es eigentlich. Wir schrecken mit einer Art Abscheu davor zurück, decken es aber.« Der »Seitenwechsel«, das »Passing«, ist, ebenso wie das Eintauchen von Weißen in die schwarze Kultur, für einen kurzen Zeitraum möglich, wie Irene Redfield meint: »Ich habe mich, glaube ich, niemals im Leben als Weiße ausgegeben, außer dem Komfort zuliebe wie in Restaurants, für Theaterkarten und so Sachen. Niemals gesellschaftlich.«
»Übergelaufen« ist Irenes Freundin Clare Kendry. Um den mit dem Weißsein verbundenen sozialen Status zu erreichen, hat sie einen Weißen geheiratet, der von ihrer afroamerikanischen Herkunft nichts ahnt. Einzig die Geburt ihrer Tochter hätte sie verraten können: »Ich bin die ganzen neun Monate vor Margerys Geburt vor Angst fast gestorben, dass sie schwarz sein könnte. Gott sei Dank war alles in Ordnung mit ihr.«
Hier zeigt sich, wie problematisch die Strategie des »Passing« ist, die zwar einerseits als Kritik an auf Segregation, weißen Privilegien und schwarzer Unterordnung beruhen sozialen Strukturen zu deuten ist, gleichzeitig jedoch auch die Übernahme des rassistischen Denkens von denjenigen verlangt, die zum Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft werden. Dies zeigt sich im Roman etwa, wenn sich beim Teetrinken Clares Ehemann John Bellew zu den beiden Frauen setzt und sich in eine rassistische Hasstirade hineinsteigert. Die beiden Protagonistinnen Clare und Irene kennen sich aus ihrer Jugend und haben sich zufällig in Chicago wieder getroffen – und zwar in einem für Schwarze verbotenen Restaurant, in dem beide sich als Weiße ausgaben. John Bellew lässt die Frauen beim Tee wissen: »Die sind mir nicht geheuer. Die schwarzen Drecksteufel.« Eine Teerunde als Mikrokosmos des amerikanischen Rassismus in den Zwanzigern. Für Irene ist die Begebenheit Grund genug, den Kontakt zu Clare abzubrechen. Zwei Jahre darauf meldet sich Clare erneut bei Irene und die alte Freundschaft lebt wieder auf. Clare besucht regelmäßig die Familie Redfield, begleitet sie zu Veranstaltungen und nimmt, ohne dass ihr Mann etwas davon ahnt, wieder am schwarzen Kulturleben teil. Larsen entwirft eine Geschichte der Grenzübberschreitungen – der Klasse, des Geschlechts, der Herkunft. Zwischen Clare und Irene entwickelt sich ein unausgesprochenes homosexuelles Begehren, gleichzeitig verdächtigt Irene ihre Freundin, ihren Mann verführen zu wollen. Schnell wird klar, dass das Geschehen an die Grenze zwischen Leben und Tod führen wird.
Clare, die sich weigert, sich für ein Leben als Weiße oder als Schwarze zu entscheiden, wird eine Existenz in der Uneindeutigkeit verweigert. Jedoch stellt schon ihr Leben als Beweis für die soziale Konstruktion von Hautfarben die Ordnung der weißen Welt eines John Bellew in Frage. Erschüttert wird auch die Ordnung der schwarzen Welt von Irene, die ebenfalls von einer Loyalität gegenüber ihrer »Rasse« spricht. Die Protagonistinnen halten trotz allem an der Idee einer Identität fest, die über die Hautfarbe definiert ist, und fühlen sich dieser verpflichtet. Über Irene erfährt man: »Sie konnte Clare nicht verraten. Sie hatte Clare Kendry gegenüber eine Pflicht. Sie war ihr durch ebendiese Bindung an die Rasse verpflichtet, die Clare zwar verworfen, aber nicht völlig hatte durchtrennen können.«
Clares Identität wird schließlich gegenüber ihrem Mann enttarnt, sie begeht dem Anschein nach Selbstmord.
Während die Personen im Buch an ihren Vorstellungen von »Rasse« festzuhalten versuchen, arbeitet Larsen an deren Dekonstruktion: Statt den Tod Clares zu erklären oder aufzuklären, beendet sie den Roman mit jener Ambivalenz und Uneindeutigkeit, die die Person Clare Kendry ausmacht. Mit seiner formalen Gestaltung destabilisiert der Roman die Vorstellung von Identität und beschreibt eine Durchlässigkeit zwischen den »Rassengrenzen«. Gleichzeitig lehnt er ein soziales System ab, das auf Ausschluss und rassistischen Hierarchien beruht. Doppeldeutig heißt es am Ende: »Dann wurde alles schwarz.«

Nella Larsen: Seitenwechsel. Dörlemann, Zürich 2011, 228 Seiten, 19,90 Euro