Abdruck aus: »Menuett«

Im Eiskeller

Ein Monolog.

Meine Arbeit im Eiskeller war ziemlich eintönig: Ich maß die Temperaturen, die Tag und Nacht auf dem Gefrierpunkt stehen mussten. Es war keine schwere Arbeit, aber nur wenige hielten es aus, täglich acht Stunden lang am Nordpol zu sein. Eine unbehagliche saubere Kälte machte die hohen Wände glasig, deren weiße Tünche etwas zu blaustichig war. In der toten Stille hing vielleicht nur noch wie ein Spuk das ersterbende Echo eines meiner früheren Schritte. Es war eine andere, eine künstliche Welt. Im Frühjahr lag über der Stadt noch dämmerdunkler Morgen, wenn ich bereits in den Keller hinabstieg. Nie wusste ich, was für Frühlings- oder Sommerwetter in den Straßen herrschte. Meine Winterkleider hingen klamm im Eisenschrank. Eine schwere Tür mit Isolierschicht entließ mich plötzlich in gefrorene Finsternis, die mir ans Herz griff. Sofort begann ich zu keuchen – es war wie Angst oder eher noch wie Schmerz, aber im Grunde eine normale physische Reaktion auf den unmittelbaren Temperaturwechsel. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken (im selben Augenblick begann meine Arbeit, ich musste den schweren elektrischen Schalter auf kleines Licht drehen und die Windmaschine in Gang setzen, und wenn das geschehen war, war auch das Gefühl fast panischer Angst oder grundlosen Schmerzes vorbei und vergessen). Eisige Kältewellen fuhren mir in die Knochen. Die Außenwelt fiel von mir ab; geschlagene acht Stunden war ich ein Gespenst, das mutterseelenallein in einem Eiskeller von einem Hektar Größe umging. Acht Stunden verbrachte ich damit, einen Hahn auf- oder zuzudrehen, überfrorene Zahlen abzuschreiben, mich Tagträumen hinzugeben und endlose Selbstgespräche zu führen. Mittags konnte ich die Eisentreppe hinaufklettern, die zu einem schmalen Übergang und von dort zu einem kleineren, abgelegenen Keller führte – dem Ort, wo ich am liebsten das Mittagessen einnahm. Es bestand lediglich aus ein paar Butterbroten, dazu hin und wieder, wie auch gestern, einem Stück Schokolade. Dass sich der Mittag näherte, wusste ich allein durch meinen Tagtraum, der mir dampfend warmes Essen verhieß. Ich mochte Schokolade nicht besonders, und auch das weißschimmernde Silberpapier im kalten elektrischen Licht tat mir weh, ich weiß nicht einmal, an welcher Stelle. Aber ich kaufte mir Schokolade, weil in jeder Tafel ein Bild war. Das Entfernen des feindseligen Silberpapiers, das in der Einsamkeit unerträglich knisterte, wurde belohnt, wenn darunter das Bild zum Vorschein kam – man konnte diese Bilder sammeln, und dann gelangte man in den Besitz aller Gebirgs- und Waldblumen – man konnte sich auch ein Album anlegen und die Bilder einkleben. Zuweilen, wenn wieder zwei oder drei endlose Stunden auf das Loch zugekrochen waren, in das alle abgelaufenen Stunden fallen, stand ich in dem Nebenkeller und beschaute mir noch einmal das Bild, um das ich reicher geworden war, eine wilde Waldanemone – fast ein Urwald, ich irre hindurch, und auf einer Lichtung plötzlich Anemonen. Eines Tages, an einem langen, trägen Sonntag, werde ich sie in das Album einkleben, das ich mir anschaffen will – vielleicht ist bald Sonntag. Jetzt die Beine fest anziehen und auf der schmalen Brücke ein wenig dösen, und dann der Alarmruf einer Uhr: Im Keller B ist die Temperatur im Begriff, über den Gefrierpunkt zu klettern, so dass ich die Windmaschine wieder in Gang setzen muss, und danach betaste ich das Rohr mit seinem künstlichen weißen Belag, der weder Schnee noch Eis ist, sondern ein technisches totes Etwas. Meine Fingerspitzen bleiben leicht daran haften. In den Morgenzeitungen hat ein Bericht über ein Mädchen gestanden, das nackt an einen Baum gefesselt war. Vielleicht hätte ich den Artikel ausschneiden sollen. Warum kann man nicht auch Zeitungsausschnitte sammeln und einkleben? Wiesen und Gebirgsblumen, wilde Waldanemonen, künstliches Eis und Zeitungsausschnitte. Also, das Mädchen war auf einem verschneiten Feld nackt an einen Baum gefesselt. Ein Bauer hat sie gefunden. Sie zog sich an und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Tagträume. Stundenlange Selbstgespräche.

Der Heimweg war jeden Tag eine Wohltat und eine Qual. Die ziemlich weite Entfernung legte ich zu Fuß zurück, durch laue Straßen, laue Wärme der Stadt an einem frühen Apriltag – die Selbstgespräche konnte ich unmöglich fortsetzen, und um nicht mit offenen Augen in Tagträume zu verfallen, zählte ich meine Schritte. Einmal kam ich bis nahe an viertausend, aber es mussten mehr sein, denn die Kinder, die am Zaun spielten, störten mich immer wieder beim Zählen. Ich vergaß das Zählen, sobald ich die bunten Reklameplakate an der Straßenecke erblickte. Ja, da waren sie wieder, die kleinen Mädchen, sie hingen an der Eisenstange, die als Einzäunung diente. Wie Fliegen hingen sie daran. Sie umklammerten die Stange, stemmten die Füße dagegen und ließen sich dann zurückfallen – sie stürzten nicht, sie blieben immer hängen, während sie herumwirbelten und ihre Haare wie Seegras wehten und dann wieder ihre Röckchen verrutschten, wenn sie die Füße über dem Kopf hatten. Ich konnte die Augen nicht von ihnen lassen, wenn ich auch Gleichgültigkeit in meinen Blick legte. Zitternd wich das Blut aus dem kraftlosen Puls, schmerzhaft spürte ich die Adern – oft habe ich die Menschen meiner Umgebung hierüber befragt: Sie wissen nichts von ihren Organen, die lautlos funktionieren. Ständig ging ein Nachrichtenstrom durch meinen Körper. Ich fühlte, wie die Nieren ihr Werk verrichteten, ich hörte mein Herz heftig pochen und danach lange Zeit schwächer pumpen, ich spürte, wie sich mein Samen ansammelte, wie mein Gehirn sich verkrampfte oder sich an einen Tagtraum verlor. Je näher ich den spielenden Mädchen kam, desto leerer wurden meine Adern und desto schwächer meine Hände. Meine Augen wurden trunken, aber zwischen meinen Beinen verbarg sich ein kleiner aufgeschreckter Vogel im Gesträuch. Letzte Woche meldete die Presse, dass ein Kind bei Einbruch der Dunkelheit nicht nach Hause gekommen und ein paar Tage später seine Leiche in einem Sack aus dem Fluss geborgen worden sei. Aber hier auf meinem Weg kamen die Mädchen mit den Füßen wieder auf den Boden und schauten mit staunenden, fröhlichen Augen in die Welt, die ihre gewohnte Lage eingenommen hatte – nachdem der Boden unter ihnen weggerutscht und nach oben geglitten war, die Häuser, die Dächer, die bunte Reklamewand, während sich der luftige und laue Aprilhimmel unter ihnen erstreckt hatte. Sie lachten noch darüber und gewahrten dann den Mann, der langsam und bedächtig vorüberging und ihnen in die Augen schaute – etwas zu tief. Ich sah, wie das Kinderlächeln auf den schon vollen Lippen erstarb, wie sie den Kopf abwandten, um in den Augenwinkeln Triumph, Ironie und Angst zu verbergen. Einen Augenblick später hatten sie alles vergessen und kehrten zu ihrem Spiel zurück. Dann waren die Straßen wieder lau wie gewöhnlich, und ich merkte, dass ich vergessen hatte, meine Schritte zu zählen. Irgendwo drängten sich ungewöhnlich viele Leute, und ich musste mir einen Weg bahnen, ein verlorener Entdeckungsreisender im Dschungel. Ich hörte Gesprächsfetzen – eine Frau war tot umgefallen, alle reckten die Hälse, um einen Blick auf die Leiche werfen zu können. Die Arme und Beine dieser Menge waren Lianen, die sich über meinen Pfad rankten, ich hieb mir einen Durchgang, stieß unfreiwillig gegen den zarten Busen einer Frau, eine kostbare Frucht, sie spürte es nicht. Ein unangenehmer Geruch hing tief und träge um sie – ein warmer Verwesungsgeruch. Danach konnte ich wieder frei atmen, ohne Furcht, ihre Bakterien aufzufangen. Kurz vor unserem Haus begann ich mir meine Frau deutlicher vorzustellen: Ich sah, wie sie den Abendbrottisch deckte.

Der Gedanke an eine üppige Mahlzeit fegte das Bild meiner Frau beiseite. Schon seit Wochen hatte ich Appetit auf ein Vorgericht mit allerlei Farben: Salat, Sardinen, Hackfleisch und Radieschen – das satte Rot der Radieschen im Grün des Salats. Als ich die Haustür aufstieß, spürte ich eine Atmosphäre von Verlassenheit – meine Frau musste wieder einmal in irgendeiner ihrer dringenden Angelegenheiten ausgegangen sein, oder sie besuchte ihre Mutter, oder sie klatschte in der Nachbarschaft. Sie war immer sehr beschäftigt und tat allerlei, woran ich nie gedacht hätte. Wo ist sie nur? fragte ich mich manchmal. Dann kam sie Stunden später nach Hause und hatte Wunder vollbracht – Wunder, die mir die Sprache verschlugen und mich tief in mich selbst wie in einen Bunker zurückstießen. Der Tisch war für mich allein gedeckt, mit Kaffee, Brot und Käse. Käse sagte mir nichts, das war einfach eine Art Brot, Nahrung, die man in den Mund steckte und ein wenig kaute – der Magen eine Maschine, die man mit einem bestimmten Stoff füllen musste, um einem gewissen unheimlichen Gefühl entgegenzuwirken. Unlängst habe ich von einem Mann gelesen, der das Fleisch eines zwölfjährigen Kindes auf den Tisch gebracht und behauptet hat, aus Hunger gehandelt zu haben. Aus Hunger also, und nicht einfach, um nach innen zu wirken, um das gewisse unheimliche Gefühl zu stillen. Der Kaffee war kalt, das Brot trocken, der Käse noch trockener. Ich aß schweigend und doch mit einer seltsamen Erregung. Meine Frau war fort, aber das Mädchen war anwesend. Das Mädchen war dazu da, die Hemdenknöpfe anzunähen, die Treppe zu bohnern, meiner Frau die neuesten Nachrichten zu übermitteln. Es verrichtete die kleinen belanglosen Dinge, die in jedem anderen Haushalt der Frau obliegen, während meine Frau die Arbeit tat, die eigentlich mir angestanden hätte. Sie war sehr energisch, meine Frau. Vor allem war sie kategorisch. Sie sagte, wie etwas war, und niemals hätte sie daran gezweifelt. Sie duldete keinen Widerspruch – mehr noch, sie wusste nicht einmal, dass jemand die Dinge anders sehen konnte als sie. Inzwischen lief das Mädchen im Haus umher. Soviel ich weiß, tat sie nichts wirklich Nützliches – sie versuchte nur in Ordnung zu bringen, was in Unordnung geraten war. Manchmal saß sie stunden-, abendelang, um zusammengenähtes Leinen aufzutrennen. Das Auftrennen von Aneinandergenähtem gehörte zu ihr. Es gehörte zum Wesen ihrer Existenz. In diesem Augenblick hatte sie sich niedergehockt und suchte etwas unter dem Schrank. Ich sah hin, aber so, als ob ich vorbeischaute, um sie durch meinen abschätzenden Blick nicht zu beunruhigen. Sie suchte unter dem Schrank und förderte Stecknadeln zutage. Wahrscheinlich war ihr oder meiner Frau eine Schachtel heruntergefallen. Das war ihre Aufgabe im Haus: etwas fallen zu lassen und dann stundenlang dazuhocken und unter dem Schrank zu suchen. Sie stand noch nicht im Fleisch, sie hatte die flachen Schenkel eines nicht ganz erwachsenen Mädchens, und der Slip dazwischen war immer makellos weiß. Bei meiner Frau rochen die Slips immer ranzig, waren immer fleckig und im Schritt bräunlich. Meine Frau lief umher und redete und ordnete viele Dinge an, aber mit ihrem Frausein nahm sie es nicht so genau. Daran dachte sie wenig oder gar nicht. Gelegentlich bemerkte sie, dass ihr Slip schlecht zu riechen begann, dann streifte sie ihn ab und zog einen sauberen an. Sie stand breitbeinig da und zog den Slip hoch und war keine Frau – eher eine Schwimmerin, die die hundert Meter gewinnen will. Aber ein paar Stunden später roch der Slip schon wieder – ich glaube, sie hatte nicht genug Zeit, auf die Toilette zu gehen. Das Mädchen bewegte sich in der Hocke; ich hoffte, dass sie sich mir zuwenden würde, während sie tiefer unter dem Schrank suchte. Ich hatte meinen Kaffee ausgetrunken, war aber am Tisch sitzengeblieben, um die Zeitung zu lesen. Es war am besten, meine Lage so wenig wie möglich zu verändern, sie in ihrer nutzlosen Geschäftigkeit so wenig wie möglich aufzuschrecken. Über die Zeitung hinweg glitten meine Blicke, lüsterne Fische, zum Saum ihres Röckchens hin. Dennoch spürte sie, dass sie meinen Augen preisgegeben war – sie lächelte verlegen und ließ den weißen Schnee ihres Höschens flimmern. Ich redete mit ihr – über die Schokoladenbilder, die wilde Waldanemone. Sie bat mich, sie ihr gegen eine wilde Akelei einzutauschen. Ich sammle nur weiße Blumen, sagte sie.

Als ich in meine Rumpelkammer gehen wollte, war sie dabei, die Treppe zu bohnern. Eine Stufe wollte sie überspringen, als ob dort etwas wäre, ein Gegenstand, der sie störte. Ich weiß, dass ich mich nie um die Hände des Mädchens kümmern werde und um das seltsame und langsame Eigenleben, das diese Hände führen – aber jetzt glitten sie über den Gegenstand hin wie fließendes Wasser über einen Stein. Wasser ist ungestüm und leichtsinnig, es teilt sich, es denkt nicht daran, den Stein beiseite zu schieben. Murmelnd teilt es sich und vereinigt sich dann wieder und fließt weiter ohne Erinnerung, ohne Schmerz. Ebenso verfuhren die Hände des Mädchens mit dem Gegenstand, der auf der Treppenstufe lag. Ich sah hin, es war eine Monatsbinde meiner Frau. An den Tagen, da meine Frau ihre Veränderungen hatte (wie das in un­serer Nachbarschaft genannt wurde), schürzte sie die Röcke und stopfte sich eine Binde zwischen die Beine. Sie machte es wie ein Fahrer, der ein Rad wechselt. Überall lagen dann die Binden im Haus herum, hinter einer Tür, auf der Treppe, zuweilen an einem für sie gut sicht­baren Ort, damit sie nicht vergaß, sie ein paar Tage später in den Waschtrog zu werfen. An diesen Tagen war sie schlecht gelaunt. Eine Frau! sagte sie verbittert, zutiefst vergrämt, weil sie nur eine Frau war. Sie nahm es der Natur übel, dass sie Natur war. Es verstimmte sie, dass ein Mann Samen von sich gab, dass eine Frau die Menses hatte, dass Kinder sich bepinkelten. Sie glaubte vage an Gott und besuchte regelmäßig die Kirche, wie es das Gesetz vorschrieb. Und wenn eine ihrer dringenden Angelegenheiten nicht so lief, wie sie sich das vorgestellt hatte, zündete sie vor dem einen oder anderen Heiligenbild eine Kerze an. Aber sie war verbittert und schleuderte eine blutdurchtränkte Binde weg, nur fort aus ihren Augen – im Schlafzimmer und obendrein an meiner Bettseite. Das Mädchen hatte noch keine Last mit der Menses, sie kniete auf der Treppe und ließ ihre Hände wie Wasser um das Hindernis herumgehen. Sie schaute zu mir herab, während ich nach oben ging. Wieder sah ich zwischen den Beinen den fleckenlosen Slip wie ein Schneefeld, wie eine helle Mondnacht. Wir schauten beide an dem Hindernis vorbei, wie leichtsinniges fließendes Wasser. Sie lächelte, aber in ihren Augen waren Hohn und Missbilligung. Und ich? Ich ging an ihr vorbei und schloss mich in der Rumpelkammer ein – wie dünnes Eis brach etwas in mir, nicht wegen der silberweißen Mondlandschaft zwischen den Beinen des Mädchens, sondern wegen meiner eigenen kalten Gedanken, wegen meines Blutes, das ich zu schwach durch die Adern strömen fühlte. Einmal hat meine Mutter gesagt, es ist lange her: Aber … er wird so seltsam! Er wird so gleichgültig.

Dennoch hatte mich meine Mutter auf ihre Art gern. Auch meine Frau muss mich auf ihre Art gern haben. Ich erinnere mich noch an die Briefe, die sie mir schrieb, als ich Soldat war – sie sei abends sehr einsam, schrieb sie. Sie begann die Briefe stereotyp mit: Mein Junge. Und dann berichtete sie über die Nachbarschaft und was sich so tat, dass eine Frau gestorben war, dass ein Mann seine Frau betrogen hatte, dass ein Kind beinahe oder tatsächlich verunglückt war. So etwas interessierte mich nicht. Mich interessierte mehr, was sie aß und wie sie schlief, wie die Pumpe ihres Herzens das Blut durch die Adern stieß und wie sie sich den Gott vorstellte, an den ihre Familie glaubte. Aber das alles wusste sie selbst nicht. Sie beendete ihre Briefe mit dem Klischee: Tausend Küsse. Sie küsste wenig oder nie. Ihre Küsse waren nicht echt, keine, die Verliebte einander geben, kein durstiges Trinken von Quellwasser – manchmal müssen Küsse das unzüchtige Wühlen in der Öffnung sein, der die Quelle entspringt. Bei ihr war es gewöhnlich ein Aneinanderlegen der Lippen, eine Berührung, so nichtssagend wie ein Händedruck. Mein Junge, schrieb sie. Sie fühlte sich ein bisschen wie meine Mutter – auch sie wusste also, dass ich mit dem Leben der Menschen nie zurechtkommen würde, dass ich mich noch immer unter ihnen bewegte, ohne etwas zu begreifen. Ich war in gewisser Weise ihr Kind – ein sonderbares, ein wenig störrisches Kind, dem man einige Dinge verbergen und andere möglichst aus dem Weg räumen musste, von denen sie glaubte, dass ich sie nicht ordentlich tun oder verderben würde. Ich war für sie ein Knabe, ein stiller, seltsamer Junge, der sich nicht aus dem Haus traute. Als ich wirklich noch ein Knabe war, konnte ich mir vorstellen, wie es wäre, einmal verheiratet zu sein und in einem ruhigen Stadtviertel zu wohnen, abends oder am Sonntagmorgen ein Bier zu trinken und ein Gespräch zu führen. Ich entdeckte schon bald, dass ich mit niemandem Gespräche führen konnte, alle redeten über ihre Frauen und über ihren Lohn, über Fakten und niemals über Ursachen – nicht einmal über das Warum und Wozu all dieser Dinge. Ich konnte lange Selbstgespräche führen, ich konnte mich fragen, warum sie Christus zum Symbol ihrer Zivilisation erkoren hatten. Warum hing der Mann in unseren Zimmern, nackt, mit einem lächerlichen Geschlecht, das er unter einem Lendenschurz verstecken musste – ein Geschlecht, das er sein Leben lang gehasst und tatsächlich als Ballast angesehen hatte? Und warum hing er dann an den Wänden unserer Schlafzimmer, als stummer Zeuge, so dass ich noch weniger Vergnügen daran hatte – und warum war aus­gerechnet er von der Menschheit auserkoren worden und nicht Nero oder Pythagoras oder Madame Blavatsky mit ihren irren Augen? Warum nicht die zweiundzwanzigjährige Bandenchefin, die nicht weniger als siebzehn Opfer auf dem Gewissen hatte (ich finde die Ausdrucksweise der Presse so stereotyp, so menschlich und so stumpfsinnig: warum nicht weniger? Und warum Opfer, als ob sie wirklich auf dem Altar ihrer Kurzsichtigkeit geschlachtet worden wären)? Auch bei dieser schönen Mörderin hing also der Mann im Schlafzimmer, mit dem Lendenschurz, der nichts zu verhüllen hatte, und schaute den Bluttaten zu, die sie beging. Aber darüber sprach ich mit niemand anderem als mit mir selbst. Es hatte keinen Zweck. Ich wusste schon lange, dass ich ein Fremder unter ihnen war. Ich begriff nur nicht, warum sie es nicht wahrhaben wollten, warum sie nicht einfach sagten: Er ist ein Fremder unter uns. Und warum sie mich nicht fürderhin meinen langen, stummen Gesprächen und meinen Tagträumen überließen. Ich war lieber zu Hause und saß irgendwo auf einem Stuhl. Ich schnitt den Artikel über das Mädchen aus, das im Wald gefunden worden war und das von wilden Erdbeeren und anderen Früchten des Waldes gelebt hatte (wilde Waldanemone, ich wollte dich schon gegen die wilde Akelei des Mädchens eintauschen), und verlor mich stundenlang an meine Gedanken. Ich war nur zufällig unter denen, die mich doch auf ihre Art gern hatten und mich in ihrer Mitte gefangenhielten. Meine Frau begann jeden Abend bereits mit der Arbeit für den nächsten Tag, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen und dergleichen mehr. Dadurch bin ich dem morgigen Tag voraus, sagte sie. Ich fragte sie nie, warum sie dem morgigen Tag voraus sein musste. So eine Überlegung war unsinnig. Auf diese Weise hätte sie bis zu ihrem Tode weitermachen müssen, denn sonst hatte so etwas keinen Zweck. Und was für einen Zweck hatte es, seinem Todestag um einen Tag voraus zu sein? Aber das begriff sie nicht – sie wusste nicht, dass sie einmal sterben würde, dass sie ein komplizierter und spröder Mechanismus war, der einmal entzweigehen und zerfallen würde. Und die Arbeit, die sie herausgewirtschaftet hatte, mit der sie dem Tag ihres Todes voraus war, hatte nicht den geringsten Sinn. Ich war ihr Junge, sie bemutterte mich ein wenig. Und außerdem redete sie viel mit den Frauen aus der Nachbarschaft. All diese Frauen waren alt und hässlich, vierzig oder fünfzig Jahre alt oder noch älter – und meine Frau war kaum sechsundzwanzig. Danach berichtete sie getreulich, was diese Frauen erzählt hatten. Allerlei Belangloses über ihre Männer, ihre Kinder, ihr Leben – sie leben, und sie müssen einmal sterben, wie Fliegen, und sie begreifen nichts davon. Dennoch schwatzen sie den ganzen Tag darüber. Sie waren alte, hässliche Fliegen, die summten und am nächsten Tag alles wieder vergessen hatten. Meine Frau stammte aus einer Familie, in der alle stets sehr geschäftig waren, wo man arbeitete und wenig nachdachte. So ist es eben! sagten sie. Obendrein waren sie gläubig – nicht fanatisch, sondern eben so, es verstand sich von selbst. Es gab ihnen Sicherheit. Auch meine Frau konnte nicht einsehen, dass ich es vorzog, das Dasein eines Zweiflers zu führen – ein unsicheres Dasein. Ich verstehe unter unsicher nicht dasselbe wie andere. Immer suche ich vergebens nach anderen Worten, als sie sie gewöhnlich gebrauchen. Unter unsicher verstehe ich das Zögernde, das Tastende …  ich verstehe darunter eine Verwunderung, die an Verwirrung grenzt, wenn ich die anderen emsig beschäftigt sehe. Die Sicherheit meiner Frau verwirrte mich tatsächlich. Und wenn nun etwas schiefgeht? fragte ich mich zuweilen. Aber wenn etwas schiefzugehen drohte, zündete sie gewöhnlich eine Kerze vor einer der gipsernen Heiligenfiguren an, die wir zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, und danach kümmerte sie sich nicht mehr um den Ablauf ihrer Unternehmungen. Manchmal hörte ich sie über mich reden. Ich saß dann oben in meiner Rumpelkammer, wo ich angeblich an allem möglichen herumbastelte, mich aber in Wirklichkeit isolierte – und wenn ich zur Toilette musste, schnappte ich etwas von ihrem Gespräch mit den anderen auf. Da ich nun einen braven Mann habe, sagte sie … Ich ging schweigend zur Toilette und starrte zwischen meine Beine, während ich mich niederließ. Ich war also ein braver Mann, ich machte ihr keine Schwierigkeiten, ich trank nicht, ich lief nicht anderen Frauen nach. Und ich musste plötzlich an meine Mutter denken, die früher auch manchmal über mich gesprochen hatte, wenn ich still auf der Schwelle saß und auf die Straße hinausschaute. In ihrer Stimme lag dann unverkennbar Besorgnis. Schon als kleiner Junge hatte ich ihre fast an Furcht grenzende Besorgnis um mich gespürt, weil ich … weil ich so unbeweglich war. Später tröstete sie sich, meine Mutter; sie sagte zu den Nachbarsfrauen, ich sei ein braver Junge. Das war ihre Angst und ihr Trost. Und nun meine Frau … Hatte sie auch Angst, weil ich so still vor mich hin lebte, so unsicher in dieser Welt stand, so zweifelte, so beinahe unzüchtig nach allen Ursachen tastete – weil ich so frev­lerisch, so unmenschlich fast grübelte, warum ich neben ihnen, neben ihr eine bestimmte kleine Anzahl von Jahren weiterleben musste?

Dennoch hatte ich sie gern, meine Frau – aber auf welche Weise? Ich merkte, dass ich sie gern hatte, als ich nicht zu Hause war – als die anderen mich weggeschleppt hatten, weil ihre Pläne das vorsahen. Als sie mich einberufen hatten, bei ihrem Krieg mitzutun, und mich in einen Schützengraben gesteckt hatten – schmutzig, schwarz, schlammig, ohne etwas zum Trinken, ohne Essen, mit splitterigen Fingernägeln und Erdgeschmack im Mund, so hatten sie mich in den Schützengraben gezwungen. Und da dachte ich an meine Frau, mit Abscheu, mit Wut, mit Hass, weil sie das nicht zu verhindern gewusst hatte – weil sie an dieser Sache teilhatte, weil sie daran schuldig war wie all die anderen, die umherliefen und Befehle erteilten und emsig damit beschäftigt waren, die Erde um ihre Achse zu drehen. Zugleich begriff ich, dass ich sie gern hatte – jedoch wurde mir noch nicht klar, auf welche Weise. Und als dann die ersten Verwundeten abtransportiert wurden oder sich selbst fortschleppten, tief in die Erde krochen, um zu sterben – und als die anderen kamen und ich die Arme hochnehmen musste (haben Sie jemals die Arme hochnehmen müssen vor Männern, die sich mit Mordwerkzeugen in der Hand näherten? Ihrer Willkür und ihrem Gott ausgeliefert?) und ich die Arme hochnahm, um mich nach ihrem Gutdünken töten zu lassen oder noch ein wenig am Leben zu bleiben, da begriff ich, dass ich sie lieb hatte und von ihr verraten und ermordet wurde. Die Tatsache, dass man gesetzlich das Recht hatte, mich auf der Stelle zu töten, war schon Mord. Und dann hatte ich sie lieb und verabscheute sie, weil sie mir nicht gesagt hatte, dass sie mit diesen Wesen nichts gemein hatte. Und als diese Mörder, diese Menschen mich dann zwischen Stacheldraht eingesperrt hatten wie ein Tier – ja, ich war ein Tier, nicht mehr –, aber hatten diese Mörder deshalb das Recht, mich zwischen Stacheldraht zu sperren, mich auf ein Strohlager zu werfen, das von Ungeziefer wimmelte? Ein paar Tage später war meine Kleidung voll davon, es kroch darin umher, als ob es dort zu Haus wäre. Es hielt sich vor allem in der Umgebung meines Geschlechts auf, das nicht mehr mir, sondern ihm zu gehören schien. Außerdem hatte man mich mit anderen Gefangenen zusammengepfercht – wir saßen zu dreihundert Mann in einer engen Baracke, die nach unserem Hunger, unserem Geschlecht und unseren Wunden stank. Und dann dachte ich an sie und wusste, dass ich sie gern hatte – aber nicht so, wie andere ihre Frau gern haben. Ich zog mich von den anderen zurück, so gut es ging, und versuchte unbemerkt ein schwieriges Selbstgespräch zu führen – sie, die anderen, redeten inzwischen über das Ende des Krieges, das heißt darüber, was sie nach dem Krieg tun wollten. Vor Hunger notierten sie Kochrezepte auf Papierfetzen. Ich hasste sie nicht, ich sonderte mich nur von ihnen ab, denn ständig hinderten sie mich, ich selbst zu sein und an meine Frau zu denken. Die den Krieg gewonnen hatten, sperrten mich hinter Stacheldraht, und die den Krieg verloren hatten, wollten mich mit ihren Kochrezepten und ihren stinkenden Wunden belästigen. Manchmal jedoch vermochte ich mir meine Frau so vorzustellen, wie ich sie immer gekannt hatte – wie sie in der Nachbarschaft über den Tod anderer redete, als ob sie ein Klatschweib wäre, wie sie an Gott glaubte, ohne ihm zu trauen, und nur im Notfall etwas in den Klingelbeutel tat oder eine Wallfahrt unternahm. In ihrer Jugend hatte sie oft solche Wallfahrten unternommen, aber zusammen mit anderen Mädchen und jungen Männern, um ein Ziel zu haben und sich unterwegs zu amüsieren, um irgendwo in einem Café hängenzubleiben und Bier zu trinken und singend nach Hause zurückzukehren. Jetzt schrieb sie mir vielleicht in Gedanken Briefe – es war nicht nötig, dass ich sie bekam, sie würden mit »mein Junge« beginnen und mit »tausend Küsse« enden, und was dazwischen stand, hatte für mich keine Bedeutung. Für sie und für die anderen, die mit mir eingesperrt waren, wäre es von Bedeutung gewesen. Ich konnte Anfang und Schluss dieser möglichen Briefe wegschneiden und den Rest den anderen zu lesen geben. Sie lebte das Leben der anderen, sie war jung gewesen und konnte ganz spaßig sein, sie war immer spontan und vielleicht manchmal bestialisch (ach, konnte sie das wirklich sein?), und ich dachte daran und versuchte sie mir bestialisch vorzustellen. Es ging nicht. Sie war selbst­sicher und geschickt – sie konnte ganz gut die elektrische Leitung reparieren, wenn sie defekt war. Mit einem Kartoffelschäler und einem Stück Draht bewaffnet, stieg sie auf die Leiter und reparierte den Schaden. Ja, so konnte ich sie mir am besten vorstellen. Sie stand auf der Leiter und rauchte dabei eine Zigarette, die lose zwischen ihren Lippen hing – sie hielt den Kopf ein wenig schief, um den Rauch nicht in die Augen zu bekommen, und dabei gab sie dem Mädchen Anweisungen. Es geschah unbewusst, aber während ich in Gedanken bei ihr war, wanderten meine Hände über meinen Körper hin. Meine Hände und meine Gedanken lebten unabhängig voneinander – im Eiskeller drehten meine Hände Hähne zu oder notierten befrorene Zahlen, und unterdessen tüftelten meine Gedanken an der Urbedeutung des Lebens herum. Sie führten ein eigenes Leben, meine Hände, und strichen über mein Gesicht – sie waren auf Entdeckungsreise in der Landschaft meines Körpers, und plötzlich merkte ich, dass sie zwischen meinen Beinen umherwanderten und das Ungeziefer verjagten, das sich des Waldes dort bemächtigt hatte. Und ich entdeckte (nicht angstvoll, sondern ich stellte es befremdet fest, wie ein Forschungsreisender), dass mein Geschlecht bei all den Gedanken an meine Frau unbewegt geblieben war. Ich war ohne sexuelle Erregung, obwohl ich sie mochte und nach ihr zurückverlangte. Nichts von dem tiefverborgenen und mir selbst unbekannten Wesen, von meinem Lebenssaft, von meiner Seele sozusagen – halten Sie es nicht für eine Verhöhnung der Natur, wenn ich behaupte, dass die Antenne meiner Seele durch mein Geschlecht geht und dort ständig Kontakte aufnimmt und mich benachrichtigt –, einfach nichts davon begann untergründig zu beben, während ich mich nach ihr zurücksehnte. Ich hatte sie gern, weil ich mich nach unserem Haus sehnte und nach meiner Rumpelkammer und nach dem Mädchen – derweil sie, meine Frau, umherlief und alles ordnete und mich gegen die Welt abschirmte, die ihre Welt war.

Mein Vater hingegen hatte eine eher nachdenkliche Art. Auch er liebte das Sinnieren und endlose Selbstgespräche. Trotzdem war er ein glücklicher Mensch; er konnte die anderen für Dummköpfe halten, auch diejenigen, die viel klüger waren als er. Ich aber wusste, dass mir alle anderen überlegen waren, dass sie sich sicher bewegten, dass sie handelten, dass sie felsenfeste Überzeugungen hatten – sie bewegten sich in ihrer eigenen Welt, auf ihrem eigenen Gelände, das sie schon vor ihrer Geburt abgesteckt hatten. Sie hatten recht, und ich hatte unrecht. Auch mein Vater hatte unrecht, aber er lebte in dem glücklichen Wahn, dass es genau umgekehrt sei. Ich jedoch wusste bereits als Kind, dass ihre Welt ein Chaos war, wo jeder jedem nach dem Leben trachtete, um recht haben zu können – dass immer derjenige recht hatte, der das hartnäckig behauptete. Es war nutzlos, eine eigene Meinung dagegenzustellen, zumal wenn diese Meinung unsicher, skeptisch und tief pessimistisch war. Einmal, ich war noch ein ganz kleiner Junge, begleitete ich meinen Vater in eine fremde Stadt. Als ich die Stadt erblickte, weinte ich, wie ich nie wieder in meinem Leben geweint habe, weil es all die anderen Straßen und Häuser und Menschen gab – ja, einfach weil es sie gab und ich nie von ihrer Existenz gehört hatte, einfach weil diese Menschen irgendwo lebten und dort glücklich sein konnten. Ich erinnere mich noch an einen kleinen Seitenpfad, auf dem an diesem Frühlingsmorgen zwei Frauen standen und über eine Hecke hinweg miteinander sprachen. Da dachte ich: Diese Frauen stehen da und leben, als ob das der einzige Fleck auf der Erde wäre, wo sie leben müssen. Und ich weinte herzzerreißend, wenn auch ohne Tränen, weil ich entdeckt hatte, dass diese Welt in sich zu unterschiedlich ist und weil diese Unterschiedlichkeit von niemandem bemerkt wurde. Und mit zunehmendem Alter wurde mir immer klarer, und ich bedauerte es immer heftiger: Jeder dachte, dass der Pflasterstein, auf dem er stand, der einzige Pflasterstein auf der Welt war. Jeder glaubte, die Achse dieser Welt zu sein, und ich, der das bemerkt hatte, wurde dadurch von meiner Achse verdrängt. Früher gab es auf dem Jahrmarkt das sogenannte lustige Rad – es war eine große Holzscheibe, man hockte sich darauf, und dann wurde die Scheibe in rotierende Bewegung versetzt, und alle, die nicht nahe der Achse saßen, wurden bald hinuntergeschleudert. Einmal war es mir gelungen, mich an der Achse festzuhalten, und ich drehte mich und drehte mich, aber ein Tölpel stieß mich weg. Und da überkam mich diese ungeheure Traurigkeit. Nicht weil ich von meinem Platz verdrängt worden war, sondern weil man davon verdrängt werden konnte. Nein, es war noch etwas anderes … Sehen Sie, unlängst plauderte meine Frau mit einer Besucherin – bei solchen Gelegenheiten rafft sie sich dann auf und macht Tee oder Kaffee, und sie tut das alles, damit niemand merkt, welchen Widerwillen ich gegen jeglichen Besuch habe (es verstimmt mich jedesmal, es macht mich hilf- und hoffnungslos, die Gespräche, das Larifari, die Sicherheit) –, und sie schwelgte in Kindheitserinnerungen an den Jahrmarkt von früher, wo es ein lustiges Rad gab. Und einmal hatte sie dicht an der Achse gesessen, aber eine dicke Bäuerin hatte sie weggeschubst, und sie war an den Rand der Scheibe gerutscht und hatte sich die Hand verletzt. Und sie hatte eine Wut auf die Bäuerin gehabt. Und siehe da, als sie das jetzt nach Jahren erzählte, hatte sie immer noch eine Wut. Die Besucherin erzählte gleich darauf ebenfalls eine Anekdote über ein anderes lustiges Rad und über eine andere verletzte, zermalmte, abgehackte Hand – denn Menschen kommen nicht zusammen, um Gedanken auszutauschen, sondern um im Erzählen von Gruselgeschichten miteinander zu wetteifern –, nein, es war keine Hand, sondern ein ganzes Bein, nein, zwei Beine, sie habe es selbst gesehen und werde es nie vergessen. Und sie begriff nicht, was meine Frau meinte: dass sie ohnmächtig geweint hatte, weil sie im Grunde von ihrem Kinderthron gestoßen worden war – weil sie zum erstenmal im Leben erfahren hatte (was sie schnell wieder vergessen, selbst nicht gewusst oder nie begriffen hatte), dass es eine Achse gab, von der einen der erstbeste Tölpel vertreiben konnte, dass der Stärkste und Brutalste das Recht hatte, sich auf der Achse niederzulassen. Das ist es, was ich meine, was die anderen durch Erfahrung lernen (jedoch wieder vergessen), während ich schmerzlich zerrissen bin durch die Erfahrung, dass es eigentlich nirgends eine Achse gibt, dass die Achse nur dort existiert, wo sich die Brutalsten und Dümmsten hinsetzen. Aber später an dem Abend, als der Besuch gegangen war, sagte das Mädchen, dass es sich auch an etwas erinnere: an einen Sonntagnachmittag, an dem sie in ihrem kleinen Garten still auf der Schaukel saß und ein bisschen schaukelte und ein bisschen weinte. Ich wagte sie kaum anzusehen und fragte beinahe flüsternd: Warum? Und sie antwortete: Ich weiß nicht – weil ich eben dasaß und schaukelte und weil es Sonntagnachmittag war. Also doch … ich war ein einsames Boot auf dem Meer, ich war ein Ertrinkender – manchmal jedoch hörte ich einen Widerhall, manchmal hörte ich von jemandem ein Wort, das das Echo eines meiner Worte war.

Louis Paul Boon (1912–1979) war ein flämischer Schriftsteller. Seit den dreißiger Jahren engagierte er sich in anarchistischen und kommunistischen Gruppen. Er war mehrfach für den Literaturnobelpreis im Gespräch, den er jedoch nie erhalten hat. In der 1955 erschienenen Prosa »Menuett« montiert er die Monologe eines Mannes, seiner Frau und eines Dienstmädchens zu einer Studie über Ekel und gegenseitige Entfremdung.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Louis Paul Boon: Menuett. Aus dem Niederländischen von Barbara und Alfred Antkowiak. Alexander-Verlag, Berlin 2011, 152 Seiten, 14,99 Euro. Der Band ist soeben erschienen.