Islamistische Bewegungen in Nordafrika

Koalieren statt liquidieren

Die arabischen Revolten haben eine Änderung der Strategie der Islamisten erzwungen. Deren etablierte Parteien in Tunesien und Marokko verbünden sich nach ihren Wahlerfolgen mit Linksliberalen.

Neue politische Bündnisse und Konflikte entstehen in mehreren nordafrikanischen Ländern. Bislang bildeten dort die Islamisten eine eher der Rechten im weitesten Sinne zuzurechnende Strömung. Auch ihr ökonomisches Programm war wirtschaftsliberal, doch durch einen betont »sozialen« Diskurs gewannen sie viele Anhänger. Demgegenüber stellte ein Teil der Linken die soziale Frage in den Vordergrund und betonte, auf die Dauer würden sich die von sozialen Motiven und »Verteilungsgerechtigkeit« geleiteten Wähler islamistischer Parteien angesichts von deren »Realpolitik« wieder von ihnen abwenden. Für manche Linke und Liberale, die sich vor allem aus den Bildungseliten rekrutierten, stand vielmehr die Abgrenzung zu den Islamisten im Vordergrund.
Von besonderer Bedeutung war diese Problematik bis vor kurzem auch für die ehemaligen kommunistischen Parteien im Maghreb. Nach 1989 erlitten diese Parteien, die sich an der Sowjetunion ausgerichtet hatten, einen völligen Orientierungsverlust. Ähnlich wie das Gros der ehemaligen Kommunisten Italiens führte sie dies in eine ziel- und perspektivlose, für Außenstehende oft eher peinlich wirkende Politik.
Dies gilt etwa für die ehemaligen Kommunisten Tunesiens und Marokkos, deren nun linksliberale Parteien sich nicht zu einer konsequent oppositionellen Haltung durchringen konnten. Al-Tajdid (Erneuerung) in Tunesien nahm unter dem alten Regime am »legalen« politischen Leben teil, als offiziell tolerierte Oppositionspartei in einem Parlament, dessen Sitze von vornherein zu 80 Prozent für die Anhänger Ben Alis reserviert waren. Die marokkanische »Partei für Fortschritt und Sozialismus« (PPS) regierte in den vergangenen Jahren in der Qotla (Block) genannten Koalition, zusammen mit den marokkanischen Sozialdemokraten von der USFP und der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit).
Am Wochenende beschloss der PPS auf einem Kongress in Salé, an einer künftigen Regierungskoalition unter Führung der islamistischen »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD) und ihres Generalsekretärs Abdelila Benkirane teilzunehmen. 400 Delegierte stimmten für dieses neue Bündnis, 52 stimmten dagegen. Man müsse »die Interessen der Nation über jene der Partei stellen« und werde zudem in der Koalition »die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigen«, lautete die Begründung. Auch die Istiqlal stimmte am Sonntag auf einer Tagung einer Beteiligung an der Koalition zu. Hingegen wird die »Sozialistische Union der Volkskräfte« (USFP), die bislang führende Regierungspartei, voraussichtlich in die Opposition gehen.
Der PJD kann nun eine Regierung vor allem mit Parteien aus der bisherigen Mitte-Links-Koalition Qotla bilden. Die oppositionellen konservativen Parteien werden sich offenbar nicht beteiligen, das gilt besonders für die dem marokkanischen Königshaus nahestehende, im Jahr 2008 aus kleineren konservativen und wirtschaftsliberalen Gruppen gebildete »Partei für Authentizität und Moderne« (PAM).

Eine ähnliche Entwicklung gab es bei den Koalitionsverhandlungen in Tunesien. Die wichtigste Partei der tunesischen Islamisten, al-Nahda, ging ein Regierungsbündnis mit der sozialdemokratischen Partei al-Tatakol und dem linksnationalistischen »Kongress für die Republik« (CPR) ein. Konservative Parteien, die aus dem Regime Ben Alis hervorgingen wie L’Initiative des langjährigen Ministers Kamel Morjane, und wirtschaftsliberale Parteien des höheren Bürgertums wie Afek Tunis bleiben in der Opposition. Auch al-Tajdid beteiligt sich nicht an der Regierung. Ihr Generalsekretär Ahmed Brahim erklärte, er stimme »mit dem Wirtschaftsprogramm von al-Nahda« überein, während es in Fragen der »kulturellen und bürgerlichen Freiheiten« unüberbrückbare Differenzen gebe. Al-Nahda propagiert einen mit sozialen Floskeln verbrämten Wirtschaftsliberalismus, dass Brahim hier einen Konsens mit den Islamisten feststellte, ist fatal. Denn durch in Zukunft auftretende Widersprüche könnten al-Nahda viele Anhänger verlieren.

Gilbert Naccache, ein tunesischer Schriftsteller und ehemaliger Marxist, hat nun Mitleid mit den Islamisten. »Sie sind im Augenblick vielleicht die bedauernswertesten Leute. Sie haben die Revolution nicht begonnen, haben aber mitgemacht, als sie einmal in Gang war. Jetzt hat die Revolution sie an die Regierung gebracht – und sie müssen eine Politik machen, die ihrer eigenen vielfach entgegengesetzt ist.«
Man muss dieses Bedauern nicht teilen, und welche Haltung die Islamisten langfristig zu gesellschaftlichen Rechten und bürgerlichen Freiheiten einnehmen werden, muss sich erst erweisen. Doch fest steht, dass die größeren islamistischen Parteien wie der PDJ in Marokko, al-Nahda in Tunesien und auch die gespaltene Muslimbruderschaft in Ägypten durch die antidiktatorischen Revolutionen zu einer politischen Neuausrichtung gezwungen worden sind.
Die Menschen, die die Proteste unterstützen, wünschen sich ein besseres Leben, wie vage auch immer ihre Vorstellung davon ausfallen mag. Ein besseres Leben versprechen auch die Islamisten. Ob dieses nun durch Reformen oder Revolutionen erreicht werden soll, in jedem Fall steht die Idee einer Wiederherstellung einer gesellschaftlich verbindlichen Moral im Mittelpunkt. Die Parole »Der Islam ist die Lösung« fasst diese reaktionäre Utopie zusammen, und es ist offensichtlich, dass eine wirtschaftsliberale Realpolitik viele Anhänger enttäuschen wird.
Der Parteiname al-Nahda bedeutet Wiedergeburt, dies bezieht sich auf die Idee, man könne an das »goldene Zeitalter« des Islam umstandslos anknüpfen. Die rivalisierende Strömung der extremistischen Salafisten beruft sich auf al-Salaf (die Vorfahren), gemeint sind die »Weggefährten des Propheten« zu Lebzeiten Mohammeds. Die Salafisten sind kaum zu Kompromissen in der Lage. Dennoch gewinnen sie in manchen Ländern an Einfluss, während sie in Marokko weitgehend isoliert sind und in Tunesien zwar durch oftmals militanten Aktivismus auffallen, aber eine kleine Minderheit darstellen. In Ägypten erhielten sie jedoch bei den Parlamentswahlen in neun Gouvernements mehr als 20 Prozent der Stimmen. Dort können sie unter anderem davon profitieren, dass das Regime Hosni Mubaraks ihnen erhebliche Freiräume wie etwa eigene Fernsehkanäle belassen hatte, da sie als willkommene Konkurrenz zur Muslimbruderschaft galten. Überdies unterstützen Saudi-Arabien und andere Golfmonarchien die Salafisten.
Anders als die Salafisten haben die etablierten islamistischen Parteien sich für die Integration in das postrevolutionäre politische System entschieden. Damit geht die Verpflichtung einher, vorläufig nicht unter Berufung auf den Willen Gottes repressiv gegen alle politischen Gegner und Abweichler vorzugehen. Eine Option bleibt dies für die Islamisten theoretisch immer, doch gibt es erhebliche Unterschiede zu den Verhältnissen im nachrevolutionären Iran. Die endgültige Liquidierung ihrer Gegner ermöglichte den iranischen Islamisten der Ausnahmezustand, dessen Verhängung auf den Angriffskrieg des Irak unter Saddam Hussein im September 1980 folgte. Ayatollah Khomeini hat den Kriegsbeginn später als »göttliches Geschenk« bezeichnet.
Den arabischen Islamisten fehlt die Unterstütung einer einflussreichen Geistlichkeit und »des Bazars«, der Handelsbourgeoisie. Mit einem vergleichbaren »göttlichen Geschenk« können sie nicht rechnen. Die nordafrikanischen Islamisten werden sich also auf die konkrete Politik einlassen und das Risisko eingehen müssen, viele ihrer Anhänger zu enttäuschen. Dies schließt Konfrontationen mit politischen Gegnern nicht aus. In Tunesien kam es in der vergangenen Woche erstmals zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern unterschiedlicher Parteien. Mehrere Hundert Sympathisanten von Gewerkschaften sowie streikende Arbeiter aus dem Bergbaugebiet von Gafsa und anderen Landesteilen, umlagerten den Bardo-Palast in Tunis, in dem die jüngst gewählte Verfassungsgebende Versammlung tagt. Das Ziel der Protestierenden war es, die gewählten Abgeordneten mit dem Druck »Zivilgesellschaft« und deren sozialen Forderungen zu konfrontieren. Ende vergangener Woche tauchten jedoch erstmals die Anhänger von al-Nahda auf, die zeitweilig in der Überzahl waren und den Linken entgegen hielten: »Wir sind die Mehrheit!« Die Protestierenden antworteten auf Plakaten: »Anderthalb Millionen von sieben Millionen, ist das eine Mehrheit?« Denn nur die Hälfte der volljährigen Bevölkerung hatte an der Wahl teilgenommen, 39 Prozent der Wähler stimmten für al-Nahda.

Die Partei hat auch vom Aktivismus der Salafisten profitiert. Diese traten mit ihren schwarzen Jihad-Fahnen bedrohlich auf, beschimpften vor dem Bardo-Palast die Kundgebungsteilnehmer und stellten das Prinzip einer »von Menschen statt von Gott gemachten« Demokratie in Frage. Bereits Ende November war es an der Universität von La Manouba in einem Vorort von Tunis zu Auseinandersetzungen mit Salafisten gekommen. Diese wollten eine stärkere Trennung von weiblichen und männlichen Studierenden sowie eine Zulassung des verbotenen Gesichtsschleiers Niqab durchzusetzen. Ihre Agitation rief aber auch Proteste hervor. Al-Nahda distanzierte sich von den Aktionen der Salafisten, die für die Partei jedoch den enormen Vorteil haben, sie moderat aussehen zu lassen.
Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Nordafrika bildet die Abgrenzung vom jeweiligen alten Regime, seinen Profiteuren und seinen Folterknechten die entscheidende politische Trennungslinie. Bislang spielen Parteiprogramme und Ideologien eine relativ geringe Rolle. Noch überdeckt ein diffuser Wille, mit den alten Verhältnissen Schluss zu machen, die meisten politischen Differenzen. In Ägypten etwa werden ideologische Unterschiede zwischen den Parteien als nicht so gravierend betrachtet wie die Kluft zwischen der Armee und den früheren Parteigängern Mubaraks auf der einen und allen anderen politischen Kräften auf der anderen Seite.